Es war ein heißer Sommertag Anfang August 2017. Am Pult der Camerata Salzburg stand Marie Jacquot, die 1. Kapellmeisterin und stellvertretende Generalmusikdirektorin des Mainfran-kentheaters in Würzburg. Sie hatte es ins Finale des renommierten „Young Conductors Award“ der Salzburger Festspiele geschafft, für das sich nur drei Kandidatinnen und Kandidaten qualifizieren konnten. Die 27-Jährige befand sich während dieses Auftritts zugleich noch im letzten Semester ihres Konzertexamens-Studiums an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar in der Klasse von Prof. Nicolás Pasquet und Prof. Ekhart Wycik.
So einen Konzertsaal hat Weimar nicht. Golden glänzende, kristallene Leuchter funkeln, verspielte Ornamentik überflutet Wände und Decke. Für die Augen ist es ein Fest, ein Rausch des Rokoko, aber ein historistisches Zitat. Denn tatsächlich ist der große Saal des Salzburger Mozarteums eine Neuschöpfung des frühen 20. Jahrhunderts, ein Traum aus Stuck und Farbe, der zurück in scheinbar glücklichere Zeiten weist. Den Ohren bietet er eine hervorragende Akustik. Die einzelnen Instrumente der Camerata Salzburg, die auf dem Podium Platz genommen hat, klingen voll und warm im Raum.
In Weimar studiert sie. In Salzburg steht sie nun vor dem Orchester, die junge Dirigentin Marie Jacquot. Gekleidet im schwarzen Gehrock, die langen Haare hat sie eng um den Kopf gebunden in geflochtenen Zöpfen, um die Fülle zu bändigen, vielleicht aber auch als kleines Zeichen, dass hier kein männlicher Pultlöwe auftritt, sondern eine Frau selbstverständlich diesen Platz behauptet. Den Gang von der Saaltür auf das erhöhte Podest nimmt sie festen Schrittes. Es kommt kein Zweifel auf, dass diese Marie Jacquot weiß, was sie will. Es sind die leuchtenden Augen, das feine Lächeln, die sofort gefangen nehmen. Sie strahlen und blitzen ins Publikum und zu den Musikern.
Hände als Instrumente
Mit dem Taktstock, später in der Mozart-Sinfonie mit bloßen Händen, entwirft sie ihre Vorstellung von Musik. Die Hand, dieses feingliedrige Instrument, habe sie immer fasziniert und beschäftigt, erzählt sie. Wie differenziert sie einzusetzen ist, erfuhr sie schon als Kind. Beim Tennis erschien ihr der Schläger nichts anderes als eine Vergrößerung der Hand, der die Bewegung des Körpers auf den Ball überträgt. Beim Dirigieren lässt sie nun die Hände, die Arme, Gesichtsmimik und Augen, den ganzen Körper sprechen.
In Salzburg ist Sommer. Es ist heiß, fast 30 Grad im Schatten. Der Saal ist angenehm temperiert, die Stimmung konzentriert, wohlwollend. Im Publikum mischen sich Enthusiasten, Touristen und junge Leute mit Familien. Das Konzert ist Teil der Endrunde des Dirigentenwettbewerbs, den die Salzburger Festspiele bereits zum achten Mal veranstalten. Der „Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award“ ist hochdotiert, winkt mit Preisgeld, CD-Produktion und Engagements. Zuvor hatten ihn bereits zwei Weimarer Studenten gewonnen: David Afkham im Gründungsjahr 2010 und Lorenzo Viotti im Jahr 2015. Für beide war es der Startpunkt einer internationalen Karriere.
Nun also Marie Jacquot. Sie ist Französin. Geboren in Paris wächst sie in Chartres auf, lernt Posaune, spielt im dortigen Jugendorchester. Dessen Leiter ermuntert sie, das Dirigieren auszuprobieren und schließlich, nachdem sie auf dem Blasinstrument einen Bachelorgrad erreicht hat, zu ihrem Berufswunsch zu machen und zum Studium nach Wien zu gehen. Sie übernimmt erste eigene Dirigate, assistiert Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper. Bei einem Meisterkurs lernt sie den Weimarer Dirigierprofessor Nicolás Pasquet kennen. Sie ist begeistert, will immer weiter lernen, bis „zum Tod“, wie sie im Gespräch in perfektem Deutsch, aber mit charmantem französischen Akzent sagt. Seit 2016 studiert sie nun in Weimar, bei den Professoren Pasquet und Wycik und anfangs auch bei Markus L. Frank, mit dem sie ein Vordirigat am Mainfrankentheater Würzburg vorbereitete. Sie stürzte sich in das Abenteuer, eine Vorstellung eines Werkes zu übernehmen, das sie zuvor noch nie gesehen hatte. Noch dazu eine deutsche Spieloper, so unfranzösisch wie irgendetwas. Die„ Lustigen Weiber von Windsor“ von Otto Nicolai brachten ihr Glück und die Stelle als 1. Kapellmeisterin in Würzburg ein. Heute „Nabucco“, morgen „Grand Opéra“ von Meyerbeer, dazwischen Babykonzert, Mozart, „Barbier von Sevilla“ und die „Csárdásfürstin“: Sie dirigiert alles, Alltag am deutschen Stadttheater eben.
Nach Salzburg hatte sie Videos geschickt, die sie beim Dirigieren zeigen. Aus den vielen Bewerbungen wurde sie mit neun weiteren jungen Dirigenten zur ersten Runde des „Young Conductors Award“ eingeladen. Werke von Schönberg und Carter waren das Pflichtprogramm. Am Schluss waren es noch drei, die in der Endrunde jeweils ein öffentliches Konzert mit der Camerata Salzburg dirigieren durften. Das Programm konnte Marie selbst auswählen. Vorgaben waren lediglich eine Arie von Mozart und ein Werk, das nach 1950 komponiert wurde. Im Finalkonzert beginnt Marie Jacquot mit Debussy, mit Klanglichkeit, mit Sinnlichem und der Unbeschwertheit, die sein Werk „Prélude à l’après-midi d’un faune“ mitbringt. Dann eine Arie, die Mozart seinem ers-ten Belmonte in den Hals komponierte. Der war ein Virtuose. Der Sänger, Teilnehmer des zeitgleich stattfindenden „Young Singers Project“ der Salzburger Festspiele, ist etwas fest, die Koloraturen wollen nicht recht ins Laufen kommen. Dass Mozart viel Ironie und eine große Portion Überzeichnung beimischt, bemerkt er nicht. Marie ermuntert ihn, aber der spezifisch Mozartsche Funke von Gewitztheit und tiefer Menschenkenntnis will sich nicht einstellen.
Orchester sind wie Menschen
Danach nochmals Mozart, große Oper, auch wenn sie im Gewand der Jupitersinfonie auftritt. Dieses Werk an diesem Ort war Marie eine Herzensangelegenheit. Vorab hörte sie Aufnahmen der Camerata Salzburg, um deren Klang kennenzulernen, hatte sich für die erste Probe mit den Musikern viel vorgenommen, vielleicht zu viel, wie sie nun selbstkritisch anmerkt. Alles geriet ihr zu massiv, drohte das Feinsinnige, perfekt Austarierte von Mozarts Musik zu zerstören. Sie sah sich im Dilemma vieler junger Dirigenten: die Probenzeit ist kurz und dennoch will man eigene Gestaltungsideen realisieren.
In der zweiten Probe wählte sie einen anderen Ansatz, nahm sich zurück, gab Impulse, aber hörte gleichzeitig auf die Musiker. Da lief es besser. Orchester seien wie Menschen, sagt Marie. Sie benötigen Zeit, sich zu öffnen, sich einzulassen, zu vertrauen. Deshalb arbeite sie nicht mit Druck, versuche, locker zu bleiben. Ihr Dirigat sei immer ein Angebot, offen für das Neue, das jede Sekunde, jede Probe, jede Aufführung bringt. Am Ende hat es in Salzburg nicht ganz für sie gereicht. Der junge Brite Kerem Hasan wird Sieger. Er verbrachte in Weimar ein Auslandsjahr. Damit geht der Preis dennoch zum Teil an die Weimarer Musikhochschule.
Vor ihrem 30. Geburtstag wollte Marie Jacquot ein Engagement als Dirigentin antreten. Dieses Ziel hat sie mit 26 in Würzburg erreicht. In der New Yorker Carnegie Hall möchte sie einmal Champagner trinken. Das steht noch aus. Ob nach einem erfolgreichen Aufritt oder als einfacher Besucher – darauf legt sie sich klugerweise nicht fest. Für ihre Karriere setzt sie sich keinen Zeitrahmen, sondern lässt sich jeden Tag neu vom Leben, von der Musik, von den Menschen überraschen und begeistern. Marie Jacquot will sich nicht verbiegen. Da mag der Saal noch so golden funkeln.