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Das Recht auf Unterschiede als Primat

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Der Inklusions-Campus an der Musikhochschule Lübeck 2015
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Ein konstitutionelles Prinzip in Deutschland ist, dass „es bei uns ein Recht auf Unterschiede, aber kein unterschiedliches Recht gibt“, wie es der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau formulierte. Nun brauchen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen und gar Behinderungen oder anderen von konventioneller Normalität bisher ausgegrenzten Eigenschaften ebenso professionelle Hilfe wie die Chance zur gleichberechtigten gesellschaftlichen Partizipation. Seit Juli 2014 ist es in Schleswig-Holstein Gesetz, dass solche „Schülerinnen und Schüler besonders zu unterstützen sind. Das Ziel einer inklusiven Beschulung steht dabei im Vordergrund”. Diesem Thema war der Inklusions-Campus der Musikhochschule Lübeck (MHL) vom 8. bis 11. April 2015 gewidmet.

Um das Recht auf Inklusion zu verwirklichen, ist radikales Umdenken notwendig, nämlich dass Anderssein kein Stigma, sondern ein humaner Anspruch ist. Deshalb ist, wie der MHL-Präsident Prof. Rico Gubler zur Eröffnung des Inklusions-Campus sagte, der „Weg ins integrative Bildungssystem” zu ebnen. Den Anfang hat die MHL bereits gemacht, indem sie als bundesweit erste und bisher einzige Musikhochschule diesen gesetzlichen Auftrag mit einem eigenen Inklusionskonzept bereits angenommen und die Studienordnungen entsprechend angepasst hat. Die sich daraus ergebenden Perspektiven erläutert Dr. Michael Pabst-Krueger, Dozent für Angewandte Musikpädagogik an der MHL: „Wir haben die betreffenden Studienordnungen zunächst so umgestaltet, dass die zukünftigen Musiklehrer gut für die Inklusion und dafür, was sie an den Schulen erwartet, ausgebildet sind. Jetzt arbeiten wir an der Umsetzung. Zwar haben wir im Hause Experten für Musik, aber Informationen über alle förderpädagogischen, medizinischen, diagnostischen und unterrichtspraktischen Aspekte müssen wir uns von externen Fachreferenten holen. Dies gilt auch für die Fortbildung der MHL-Lehrenden, die mit Konzepten zur Inklusion noch nicht vertraut sind und diese Kompetenzen in ihren Veranstaltungen vermitteln sollen. Diesbezüglich ist noch einiges zu leisten.” Denn die zu erwerbenden spezifischen Kompetenzen (insgesamt zehn) bedingen ein hohes Niveau der Reflexion, etwa dass Studierende „Einsatzmöglichkeiten von Musik als Mittel der individuellen Entwicklungsförderung im sensomotorischen, emotional-sozialen, sprachlich-kognitiven Bereich gezielt für die Unterrichtsplanung auswählen können” (aus dem Konzept der MHL-Arbeitsgruppe „Inklusion”).

Die Schulrealität ist mindestens genauso komplex, wie Prof. Dr. Hans Bäßler, Musikpädagoge und Beauftragter für die Studiengänge „Musik Vermitteln”, erklärt: „Zunächst ist das Primat der Heterogenität anzuerkennen, konkret: lernen zu differenzieren. Ein Aspekt, der in der Musikpädagogik mit Bezug auf die allgemein bildenden Schulen immer eine besondere Rolle gespielt hat, jedoch mit Bezug auf Inklusion weiter entwickelt werden muss. Dann ist festzustellen, dass Integration bedeutet, einen möglichst hohen Anteil (behinderter und anderer Schüler) in eine Lerngruppe zu nehmen. Integration ist deshalb für den Staat zwar teurer, aber nachhaltiger in den erwünschten Wirkungen als Inklusion. Denn bei der Inklusion wird versucht, mit geringerem pädagogischen Aufwand zum Ziel zu kommen. Aber Inklusion ist, ebenso wie Integration, nicht immer sinnvoll. So zum Beispiel wenn bestimmte räumliche Voraussetzungen fehlen, um unterschiedliche Lerntempi von Schülern zu steuern, indem eine Gruppe in einen parallelen Raum ausweichen kann. Die zweite Grenze sind fehlende personelle Ressourcen, dann können Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr integrativ arbeiten, insbesondere wenn sie nicht weitergebildet sind, und schon gar nicht, wenn der Unterricht nicht aktiv von professionell ausgebildeten Förderpädagogen begleitet wird.” – Immerhin sei an den Grundschulen die Idee vom Primat der Heterogenität bereits Standard, und an zahlreichen weiterführenden Schulen habe eine Sensibilisierung für das Thema begonnen, doch an den Gymnasien fehle dafür vielfach noch ein Bewusstsein.

Damit Inklusion gelingen kann, sind aber nicht nur ein Umdenken und personelle Qualifizierungen notwendig, sondern auch bautechnische und innenarchitektonische Veränderungen, kurz: Barrierefreiheit. Nun sind für Rollstuhlfahrer zwar Rampen und Aufzüge da, aber oft gibt es noch keine markanten Sichtkontraste an Fassaden zur Orientierung für Sehbehinderte. Welche Auswirkungen Wahrnehmungsbeeinträchtigungen haben, konnten Studierende beim Inklusions-Campus in Selbstexperimenten kennenlernen. In der Veranstaltung, die Inga Schmidt, Inga Beecken und Ingo Degner vom Landesförderungszentrum Hören und Sprache in Schleswig moderierten, bewirkten etwa schon schalldämpfende Kopfhörer, dass die Ortung und Identifizierung von Sprach- oder Musikquellen undeutlich wurde. Auf welchen anatomischen Defiziten solche Störungen akustischer Wahrnehmung beruhen und wie sie diagnostiziert werden können, erklärte Prof. Dr. Schönweiler, Direktor der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Lübeck. Aus diesen Vorträgen nahmen Studierende wie Marie-Leann Tangermann wichtige Tipps für die spätere Berufspraxis mit, und auch die Gewissheit, sagt sie, „dass uns die Experten als Ansprechpartner zur Verfügung stehen, wenn wir praktische Hilfe oder Rat für den Unterricht brauchen.”

Näher zur Musik waren andere Veranstaltungen wie rhythmische Spiele, die Prof. Marno Schulze als Lehrender Elementarer Musikpädagogik mit Studierenden probierte. Sein Workshop verband vokale Musik und Bewegungsmuster, sodass Klang und Körpergeste eins wurden. So konnte Musik ohne besondere Vorraussetzungen zu einem kommunikativen Medium für alle Beteiligten gestaltet werden. Auch eine Trainingseinheit zu den Basistechniken der Philippinische Stockkampfkunst Escrima, die vom Diplom-Psychologen Steffen Naumann aus Bremen geleitet wurde, forderte Gefühl für Rhythmus und Koordination von Körperbewegungen. Doch zugleich wachsende geistige Konzentration. um Schmerzen zu vermeiden. Denn Schläge können durchaus auch nicht die Stöcke des Gegners, sondern Arme oder Beine treffen. Gerade die Einbeziehung dieses Programms zeigte, dass Musik – hier in den Klängen der Stöcke – in Bereichen zu entdecken ist, an die man normalerweise nicht denkt. Inklusion kann in vielen Facetten stattfinden, wobei Musik oft mindestens indirekt beteiligt ist.

Obwohl Inklusion mit Musik, im hier dargestellten erweiterten Sinn, beste Chancen hat, ist sie dennoch kein Patentrezept zur Balance der Heterogenität. Und so wie Musik als pädagogisches Instrumentarium begrenzte Funktionen hat, muss man Inklusion situationsgemäß kritisch betrachten. Dr. Björn Tischler, externer Berater des Campus an der MHL, ist dezidiert der Meinung, dass eine „Schule für alle“ nicht generell und flächendeckend anzustreben sei: „Ich bin für Schulen mit Profilen, die in gesunder Konkurrenz und Alternative zueinander stehen und grundsätzlich offen für Inklusion sind. Inklusion kann aber nicht darauf reduziert werden: „Alle in eine Klasse!“. Es gibt Grenzen der Inklusion und mitunter individuell abzuklärende, notwendige, separierte, spezifische Förderungen und Bildungswege. Inklusion ist aber eine Chance für die Aufwertung des Musikunterrichts, denn man kann Musik nicht nicht erleben.” An der MHL beginnt mit der Implementation des Curriculums nun die Ära, Inklusion als gesetzlichen Auftrag und pädagogische Aufgabe eine seriöse Struktur für die Zukunft zu geben. Der Inklusions-Campus soll ab jetzt jährlich stattfinden und diese fundamentale Ausbildungsreform voran bringen. Mit Stolz darauf konnte Prof. Rico Gubler schließlich sagen, dass Inklusion zur MHL-Expertise gehört.

www.mh-luebeck.de

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