Die Idee ging auf, mehrere Hundert Hamburger Bürger machten mit, sodass Thorsten Logge inzwischen auf einem Datenschatz sitzt: „Wir haben mittlerweile mehrere tausend Objekte digitalisiert.“ Längst sei noch nicht alles gescannt. Etliche Hamburger Musikfans brachten zum Beispiel alte Eintrittskarten: „Wir erhielten aber auch private Fotos und originale Programmflyer, und eine Hamburger Band brachte uns ein Bilderalbum, das sie in den Siebzigerjahren angelegt hatte.“ Außerdem trudelten Gästebücher eines ehemaligen Hamburger Rockhotels ein.
Wer bei „Hamburger Musikgeschichte(n)“ mitmacht, muss die Nomenklatur der Musikwissenschaft nicht kennen. Das Projekt ist so niedrigschwellig, dass es auch Menschen anspricht, die sich noch nie mit harmonischen Strukturen befasst haben. Wobei sich auch Hamburger mit einer intensiven Beziehung zur Musik beteiligen. „Wir erhielten zum Beispiel den gesamten Aktenbestand des Frauenmusikzentrums Hamburg“, berichtet Thorsten Logge. Aus all dem, was bisher geliefert wurde, sollen nun Forschungsprojekte entstehen: „Im Herbst wollen wir die ersten zwei bis drei Forschungsanträge schreiben.“
Es macht Sinn, sich auf die Suche nach einem alten Jazzer zu begeben, wenn man über einen bestimmten Jazzclub mehr wissen will. Und es macht Sinn, mit ehemaligen Punks in Kontakt zu kommen, wenn man etwas über die Punkszene herausfinden möchte. Der Ansatz, Bürger in Forschungsprojekte einzubeziehen, ist dabei nicht ganz neu. Die Haltung, dass jegliche Expertise bei Wissenschaftlern liegt, ist vielmehr inzwischen obsolet. So gingen in den letzten Jahren immer mehr Museen dazu über, mit Bürgern zu kooperieren. In der musikalischen Forschung jedoch ist „Citizen Science“ nach wie vor kaum verbreitet.
Durch Corona inspiriert
Auf die Idee zu „Hamburger Musikgeschichte(n)“ kam Thorsten Logge durch eine vorangegangene Bürgerforschungsinitiative: „Wir begannen im März 2020 mit einem Projekt namens ‚Corona-Archiv‘.“ Dabei sei auch das Thema „Musik“ immer wieder aufgetaucht. „Mit unserer ‚Innenhof-Musik‘ möchten wir älteren Menschen gerade in Zeiten der Corona-Krise die Kraft und Energie von live gespielter, ihnen bekannter Musik zuteil werden lassen“, heißt es zum Beispiel in einem Archiv-Eintrag vom April 2020.
Die Erfahrungen aus diesem Projekt, in dem es darum ging, Alltagserfahrungen während der Corona-Krise zu sammeln, wurden bei „Hamburger Musikgeschichte(n)“ kombiniert mit den Erfahrungen aus einem Uni-Seminar von 2015. „Studentinnen und Studenten erforschten dabei Hamburger Musikkulturen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren“, erläutert der Geschichtsprofessor. Daraus entstanden spannende studentische Projekte: „Ein Student hatte sich zum Beispiel Plattencover mit Hamburg-Bezügen angeguckt.“ Alle Projekte wurden in einer Kneipe öffentlich vorgestellt.
„Nach der Pandemie dachten wir uns, dass wir dringend wieder in die Stadt zurückmüssen“, schildert Logge. Der konkrete Anstoß für das Bürgerforschungsprojekt ergab sich dann rein zufällig nach der Show „Get Back To Audimax!“ am 15. September 2022 – 50 Jahre nach Otto Waalkes’ legendärem Audimax-Konzert. Das Team um Thorsten Logge erkannte, dass sich eine Menge Menschen im Publikum befanden, die viel Interessantes über die Hamburger Musikgeschichte der Nachkriegszeit würden erzählen können. So beschloss man relativ spontan, die wissenschaftliche Crowdsourcing-Aktion zu starten.
Thorsten Logge ist wichtig, durch das Projekt „Hamburger Musikgeschichte(n)“ darauf aufmerksam zu machen, dass Musikkultur mehr ist als Klänge und Töne: „Musik, das ist auch der Roadie, der etwas schleppt.“ Wirklich tiefen Einblick in musikalische Szenen zu bekommen, sei dabei gar nicht so einfach: „Wenn ich ein knochentrockener Klassikfan wäre, hätte ich wahrscheinlich bei Punks Null Chance.“ Zeitzeugen, die zu ihm kommen, um etwas aus ihrer aktiven Zeit in einer Band oder einem Club zu erzählen, begännen das Gespräch oft mit der Frage: „Und, wo warst du denn so damals?“ Nun erwartet einer, für den Punk das Nonplusultra war, nicht unbedingt, dass der Professor ihm gegenüber früher auch Punker war. „Aber es hilft, wenn man zum Beispiel weiß, wie ein Verstärker von innen aussieht“, schmunzelt Thorsten Logge. Er selbst spielte einst in einer Schülerband. Und auch, wenn man nicht in derselben Szene war wie der Zeitzeuge, ist es, um zum Erzählen zu animieren, gut, in irgendeiner Szene gewesen zu sein und dort ein paar Leute zu kennen. Inzwischen ist Thorsten Logge Teil eines sich ständig vergrößernden musikkulturellen Netzwerks. Darüber ist er glücklich. Wobei er einräumt: „Dieses Netzwerk zu pflegen, ist äußerst zeitaufwändig.“ Thorsten Logge ist sich sicher, dass er dann, wenn die ersten Forschungsprojekte laufen und Zwischenergebnisse öffentlich vorgestellt werden, in Kontakt mit noch mehr interessanten Menschen aus der Hamburger Musikszene kommen wird. „Was wir begonnen haben, muss ein langfristiges Projekt werden“, betont er. Dazu allerdings bräuchte es noch mehr Partnerinnen und Partner: „Und ganz ehrlich, eigentlich bräuchten wir in Hamburg ein echtes Musikmuseum.“
Frauen und Musik
Für Thorsten Logge ist nicht zu leugnen, dass die Musik in den zurückliegenden Jahrzehnten sehr männerdominiert war. Eines der drei von ihm anvisierten Forschungsprojekte soll sich deshalb um „Frauen und Musik“ drehen: „Dieses Thema muss aus meiner Sicht unbedingt untersucht werden.“ Kooperationspartner sollen das Frauenmusikzentrum und der Hamburger Verein „Frauen machen Musik“ sein. Ein zweites Projekt, das geplant ist, soll sich mit den Soziografien und Topografien der Musikkultur in Hamburg befassen. Hier geht es zum Beispiel um Clubs und Musikalienhändler. Am Ende soll ein Vergleich zwischen Hamburg und einer anderen, noch nicht bestimmten Stadt gezogen werden. Noch ein drittes Projekt wird aktuell in Erwägung gezogen. Dabei soll die Hamburger Musikindustrie erforscht werden. Logge: „Aber ob wir das 2024 bereits realisieren können, ist noch nicht sicher.“