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Fein abgestimmte Raumakustik: der Proben- und Kammermusiksaal des Orchesterzentrums NRW. Foto: Georg Schreiber
Fein abgestimmte Raumakustik: der Proben- und Kammermusiksaal des Orchesterzentrums NRW. Foto: Georg Schreiber
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Die Orchesterstelle kann mehr sein als eine Abspielstation

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Das Orchesterzentrum NRW hat ein neues Domizil in Dortmund bezogen – eine Zwischenbilanz
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Dass vier nordrheinwestfälische Musikhochschulen sich einigen und 2004 ein Orchesterzentrum eröffnen können, galt auch für Kenner der Szene wie Martin Pfeffer, den verstorbenen Vorsitzenden der Rektorenkonferenz bundes­deutscher Musikhochschulen, als „außerordentlicher“ Vorgang. Jetzt darf man sich ein zweites Mal wundern. Das Ausbildungsinstitut hat in Dortmunds Innenstadt ein nagelneues Domizil bekommen. Nach erfolgter Weihe des Hauses zählte der beeindruckte Chronist vier Festmusiken, fünf Wortbeiträge und – eine offene Frage.

Zwanzig Kellner reichen Kaltgetränke mit Häppchen. Großer Banhhof mit VIPs und solchen, die es sein möchten. „Feierliche Eröffnung“ steht auf der Einladungskarte. Und tatsächlich ist mit dieser vornehmen Eckbebauung aus Glas und Stahl nebst steinernem Überbau etwas durchaus Bemer­kens­wertes entstanden. Wie schon zur Einweihung des städtischen Konzerthauses 2002 hat man auch den Neubau des Orchesterzentrums, nur einen Steinwurf von jenem entfernt, mutig ins Dortmunder Brückstraßenviertel implantiert. Dabei gilt auch hier: Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. In diesem Fall ein „Leihhaus Alonso“ gleich gegenüber, Klamottenläden, Billigsnacks, orientalisierte Internetshops, samt und sonders spezialisiert auf die bescheiden dimensionierten Konsumenten­freuden, mit denen das Kulturinstitut ebensowenig zu tun hat und haben kann wie der Kamelverleiher mit der Cheops­pyramide, zu deren Füßen er sein Mietgeschäft installiert hat. Schmerzlich wird in einer Ruhrgebiets-Metropole wie Dortmund bewusst, dass die Stätten bürgerlicher Großkultur – Sprech- und Musiktheater, Museum, Konzerthaus – in den Stadtzentren, wo sie immer ihren Ort hatten, mittlerweile zu Fremdkörpern geworden sind.

Eine Beobachtung, die gut zu jenen zwei Zahlen passt, die Festredner Fritz Pleitgen derweil unter die Festgesellschaft schmuggelt: Sechs Prozent der Bevölkerung gehen regelmäßig ins Konzert, vierzig von hundert waren noch nie im Konzert. Wer erfahren möchte, was solche Zahlen bedeuten, sollte einmal Dortmunds wunderbaren Ehrgeiz, dem städtischen Konzerthaus wie dem benachbarten Orchesterzentrum NRW, einen Besuch abstatten.

Diese Akustik! Einer zumindest ist richtig glücklich. Klar, als künstlerischer Leiter des nagelneuen Orchesterzentrums ist Gotthard Popp zur Weitergabe heiterer Empfindungen gewissermaßen verpflichtet. Doch soviel Überschwang deutet auf mehr als emotional gestütztes Corporate Design. Dabei war der integrierte Proben- und Kammermusiksaal mit aufsteigender Bestuhlung für 350 Besucher ursprünglich gar nicht vorgesehen. Popp musste dafür eigens „kämpfen“. Jetzt ist er da, gehört zum Orchesterzentrum dazu und überzeugt mit einer wirklich fein abgestimmten Raumakustik. Merke: Manchmal lohnt es sich, Kämpfe zu führen. Wobei, wer künftig hier spielen, wer das Haus bespielen wird, diese Frage ist gegenwärtig nicht nur offen, sondern genau betrachtet, falsch gestellt. Denn ein Orchesterzentrum – soviel muss man zuerst lernen – ist nicht die Fortsetzung des Konzerthauses mit anderen Mitteln. Entstanden ist mit dem 17-Millionen-Euro-Bau vielmehr ein Zentrum für die Orchesterausbildung, in die das Land jährlich 400.000 Euro einschießt. Finanziert werden damit unter anderem die Honorare ausgewiesener Orchestermusiker, immerhin sind sie es ja, die nun einmal wissen müssen, was sie erwarten, was sie sich wünschen, worauf sie achten, wenn sie – sagen wir – eine Flötenstelle ausschreiben.

Probespielsimulation

„Okay!“ Es ist auffallend die häufigste Antwort der jungen Flötistin, begleitet von einem eher verlegenen Lachen und dem reflexartigen Griff zum Bleistift: Workshop Probespiel­simulation. Auf dem Notenständer die Prokofiev-Sonate, ein Standardstück. Keine Frage: Auch dieses Anfangssemester im „Masterstudiengang Orchesterspiel“ will sich „praxisnah und zielgerichtet auf eine Karriere in renommierten Orchestern“ ausbilden lassen. So steht es in den schönen lindgrünen Flyern, die das Orchesterzentrum NRW zwecks Werbung für seinen viersemestrigen Studiengang unter die Leute bringt. Nur, weshalb haben fertig ausgebildete Instrumentalisten einen solchen Nachschlag überhaupt nötig? War dazu nicht die Ausbildung da? Anders gefragt: Wie fertig ist eine Flötistin, wenn sie ihr Diplom in der Tasche hat?

Relativ fertig. – Auch die junge Hochschulabsolventin hat dies durchaus erkannt. Als Aufbaustudentin am Orchesterzentrum NRW weiß sie deshalb die Existenz eines solchen Angebots ersichtlich zu schätzen, eines, das (nicht nur) während ihrer Ausbildung aus (nicht nur ihr) unerfindlichen Gründen unter den Curriculum-Tisch gefallen ist. Jetzt soll, jetzt muss es der Workshop mit Chiara Tonelli, absolviert als komfortabler Einzelunterricht, richten.

Tatsächlich ist die Stimmführerin des Mahler Chamber Orchestra als jemand geladen, der weiß, wo die Glocken hängen und wie sie (um im Bilde zu bleiben) zu klingen haben. Ein Orchesterplatz, so der spontane Eindruck, wenn Tonelli die Phrase vormacht, kann offenbar mehr sein als eine Abspielstation. Erfreulich mehr. Jetzt wieder die Masterstudentin. Tonelli strahlt. Sobald ihr irgendetwas lobenswert erscheint, zeigt sie es. Oft kann sie es nicht, muss vielmehr Korrekturen, Hinweise in einfühlsame Worte kleiden. Prompt das Echo: „Okay!“ Doch alles, was folgt, Ton, Atem, Linie, einschließlich Körperhaltung, Körpersprache erinnert irgendwie an Unterricht, ans Notenabspielenwollen. Sollte es so sein? Hochschulen bilden Instrumentalisten aus, nicht in jedem Fall Musiker? Anders gefragt: Wie fertig sind Absolventen von Musikhochschulen, wenn sie ihr Diplom in der Tasche haben?

Relativ fertig, lautet die Antwort, die auch die Deutsche Orchestervereinigung gibt. Schon vor Jahren hat sie die „schlechten Berufschancen von Absolventen der deutschen Musikhoch­schulen“ beklagt. Stichwort: Ausbildungsdefizite, Ausbildungsmissver­ständnisse, das Tabu hiesiger Musikhochschulen. Wer, wie Magdalena Makarewicz oder Priska Enkrich dank praxisnaher zweiter Ausbildung am Orchesterzentrum NRW ein Probespiel erfolgreich bestanden hat, kann da schon erkennbar freier, vorbehaltloser zurückblicken. „Dort (also an deutschen Musikhochschulen) werden Solisten ausgebildet“, sagt Enkrich. Was aber, wenn der (kaum mehr geheim zu nennende) Lehrplan besagter Hochschulen, die Solistenlaufbahn, am Ende nicht in Erfüllung geht? Bleibt das Orchester! Nur, was tun, wenn der verhinderte Solist dafür gar nicht ausgebildet ist? Und hört(e) man nicht selten aus den Kreisen der Solisten-Dozenten: Orchesterliteratur? Orchesterstellen? – Schädlich für den Strich! Probespiel­simulation? Mentales Training? Auftrittscoaching? – Wozu soll das denn gut sein?

Beihilfe zur Arbeitslosigkeit?

Dabei ist die Antwort darauf recht einfach, braucht man doch nur daran zu erinnern, dass eine vom WDR-Rundfunksinfonie­orchester ausgeschriebene Tutti-Stelle heute gut und gern 300 Bewerber generiert. Da sollte man schon vorbereitet sein. Kein Wunder auch, wenn DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens mit Blick auf die Hochschulen fragt, inwiefern hier „Beihilfe zu einer hoch subventionierten Arbeitslosigkeit“ geleistet werde. Mahnworte, die keineswegs neu sind. Ende der 1980er-Jahre bereits hat man seitens des DOV ein Praktikum Orchesterspiel angeregt, hat Karajans Orchesterakademie-Idee propagiert. Hintergrund damals: Der Niedergang der Kurorchester, traditionell eine der besten Praxisschulen überhaupt. Und auch die Zeiten, da Orchestermusiker ein „Lehrberuf“ gewesen ist, woran erst die Privatinstitute, dann die Konservatorien Maß genommen haben, um eine realitätstaugliche Ausbildung aufzulegen: morgens Figaro, abends Leonore, heute Freischütz, morgen Verkaufte Braut – diese Zeiten sind spätestens seit den 1950er-Jahren ebenfalls vorbei.

Nur eben, dass das Problem geblieben ist, wie aus all den Solisten und Instrumentalisten Orchestermusiker werden können? Neuerdings, so die Antwort, zumindest in Nordrhein-Westfalen, mit einem Orchesterzentrum. – Okay. Mal sehen.

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