Die Hochschule für Musik Detmold plant die Gründung eines Zentrums für Lebenslanges Lernen in der Musik. Es dient der künstlerischen und pädagogischen Weiterbildung und will die kulturwissenschaftliche Forschung sowie insbesondere die musikalische Begabungsforschung einbeziehen. Das Zentrum verknüpft Erkenntnisse zum Musizieren über die Lebensspanne mit der Musikpraxis und soll einen Beitrag für die musikalische Breitenarbeit in der Region Ostwestfalen-Lippe und darüber hinaus leisten. Hochschulrektor und Initiator dieses Zentrums, Prof. Dr. Thomas Grosse, führt in seine Projektidee ein.
Der frühere Solo-Oboist des WDR Symphonieorchesters Köln, Wilhelm Meyer, pflegte zu Beginn der 1980er Jahre gerne darauf hinzuweisen, dass „Musiker und Ärzte die einzigen Berufsgruppen sind, die ihr Leben lang lernen“ müssten. Meyer, der noch 80-jährig öffentlich Oboe spielte, meinte damit das Erlernen eines neuen Repertoires. So wie in der Medizin neue Behandlungsmethoden oder Medikamente das Wissen um das Berufsfeld erweiterten, gewänne die Perspektive der Musikerinnen und Musiker durch die Auseinandersetzung mit neuem Repertoire an Weite. Meyer dachte dabei vor allem auch an die „Zeitgenössische Musik“, für die er ein besonderes Faible hatte. Nur wenige Jahre später, 1985 in einem Musikkorps der Bundeswehr: Der Chef, Oberstleutnant Herbert Russek, lässt neue Noten auflegen – ein Big-Band-Medley. Letzte Nummer: „In the Mood“, eine der bekanntesten Kompositionen von Joe Garland, bekannt durch Glenn Miller. Wie in diesem Genre üblich, sind die Achtelnoten im Swing gerade notiert. In der Fachsprache heißt das „binär“, sie müssen aber „ternär“ gespielt werden, also mit ungleichen Längen. Die Trompeter, alles gestandene Feldwebel, mit jahrzehntelanger Berufserfahrung im deutschen Blasmusikrepertoire zu Hause und durch unzählige Marschmusikauftritte geprägt, spielen natürlich geradeaus – also „was dort steht“. Das Ergebnis? Eine groteske Parodie dieses wunderbaren Songs und eine bemerkenswerte emotionale Reaktion des Arrangeurs am Dirigentenpult.
Die Musikgeschichte ist reich an Anekdoten,die davon erzählen, wie sich Neuerungen nur schwer durchsetzen, Werke ungerechtfertigt als „unspielbar“ identifiziert werden oder technischen Entwicklungen keine Chancen eingeräumt werden. Ob nun das Berufsfeld Musik tatsächlich besonders große Anforderungen an Lebenslanges Lernen stellt, darf getrost bezweifelt werden. „LLL“ – so die Kurzfassung für den Begriff „Lebenslanges Lernen“ – ist mittlerweile zu einem allgegenwärtigen Thema in bildungswissenschaftlichen Diskursen geworden. Es durchzieht alle Lebensbereiche und nimmt immer mehr Raum im Berufsleben ein. Dabei steigen die Anforderungen in Handwerksberufen ebenso rasant wie in den Verwaltungen, in der Wirtschaft nicht weniger als in allen anderen Bereichen – die zunehmende Technisierung erfordert ständige Fort- und Weiterbildung, wechselnde Berufstätigkeiten und Portfoliokarrieren sind heute mehr die Regel als eine Ausnahme. Das zu Beginn des Berufslebens erworbene Wissen hält nicht mehr für viele Jahrzehnte Berufstätigkeit vor und auch zunehmende Berufserfahrung allein gleicht diesen Umstand bei weitem nicht mehr aus. Es ist nicht zu erwarten, nach Abschluss einer Ausbildung grundlegend und dauerhaft mit allen Fertigkeiten und Kenntnissen ausgestattet zu bleiben.
Lebenserkenntnis gefragt
Dieses Phänomen liegt nicht nur in den sich schnell wandelnden Anforderungen des Arbeitslebens begründet. Insbesondere in einem Studium sind manche Themen nur schwer zu positionieren, weil das Interesse der Studierenden daran eher gering ist. Typische Beispiele sind Musikergesundheit oder Musikmanagement. Es braucht eine gewisse „Lebenserkenntnis“, um sich für solche Themen zu interessieren, häufig tragen akute Vorfälle dazu bei, wenn beispielsweise körperliche Beschwerden die Berufsausübung beeinträchtigen. Daher eignen sich solche Fragestellungen besonders für die Weiterbildung. Und daran ist im Prinzip auch gar nichts auszusetzen. Sich vorwiegend auf (künstlerische) Inhalte und die persönliche Entwicklung zu konzentrieren, ist ein Privileg der Lebensphase „Studium“ und bildet die Basis späteren beruflichen Erfolgs. Sich im einigermaßen sanktionsfreien Raum Hochschule neigungsgerecht zu orientieren und eigene Schwerpunkte zu finden, ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer zufriedenstellenden und erfolgreichen späteren Erwerbsbiografie. Für musikalische Berufe lässt sich feststellen, dass die künstlerische Qualität im Mittelpunkt des Studiums stehen muss, da sie einen wesentlichen Nährboden für die späteren Tätigkeiten bilden wird. Wenn aber manche Themen im Studium noch nicht im Fokus des Interesses stehen, nimmt der Bedarf an Weiterbildung zu, und die Hochschulen sind angehalten, darauf zu reagieren. In den Hochschulgesetzen wird neben Lehre und Studium stets die Weiterbildung genannt, die viel mehr sein soll als ein „Reparaturbetrieb“ für im Studium nicht gelerntes Wissen. Die Grundvoraussetzung für den Erfolg von Weiterbildung ist der glückliche Umstand, dass Menschen lernfähig sind und es bis ins hohe Alter bleiben. Lernen über die gesamte Lebensspanne muss kein Zustand pausenlosen harten und entbehrungsreichen Arbeitens an sich selbst bedeuten, sondern ist Ausdruck von Neugierde, Entdeckerfreude und Experimentierlust. Kurzum: Lernen ist auch erlebte Selbstwirksamkeit und erhöht die Lebensqualität. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint die Verbindung von LLL und Musik als besonders attraktiv.
Vor diesem Hintergrund sind an der Hochschule für Musik Detmold seit längerer Zeit Überlegungen zur Gründung eines Zentrums für Lebenslanges Lernen in der Musik angestellt worden. Im Kollegium der Universität Paderborn, die dazu fachlich und inhaltlich eine ideale Ergänzung bietet, wurden kompetente Ansprechpartner gefunden. Gemeinsam sind nun Planungen vorangebracht worden, die zum Aufbau eines Zentrums für Lebenslanges Lernen in der Musik unter dem Kürzel L3Musik („L drei Musik“) führen sollen. Weiterbildung ist nicht nur ein Service für ihre Adressatinnen und Adressaten. Auch die Hochschulen profitieren ihrerseits nicht unerheblich von einem solchen Engagement. Hier kommt es zu intensiven Praxiskontakten, die Auseinandersetzungen mit aktuellen Fragestellungen des beruflichen Alltags schärfen das Bewusstsein für aktuelle Problemlagen und Anforderungen. Daraus lassen sich häufig Erkenntnisse für die grundständige Lehre ableiten.
Wenn beispielsweise im Bereich der musikpädagogischen Arbeitsfelder bestimmte Themen verstärkt nachgefragt werden, kann die Hochschule ihr Studienangebot darauf einstellen und für die Absolventinnen und Absolventen so manchen Praxisschock abmildern. Soweit die Theorie. In der Praxis laufen solche Prozesse in der Regel nicht so einfach ab, was auch mit dem Phänomen des Lernens als solchem zusammenhängt. Das an der Universität Paderborn bestehende Institut für Begabungsforschung in der Musik (IBFM) verfügt über die notwendige Expertise, um musikalisches Lernen bis ins hohe Alter zu erforschen. Hier eröffnet sich eine weitere Perspektive für L3Musik. Wie lernen wir eigentlich das Musizieren und alles, was damit zusammenhängt? Welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen müssen erfüllt sein, um dabei erfolgreich zu sein? Wobei Erfolg vieles sein kann, die in künstlerischen Spitzenleistungen mündende Begabtenförderung gehört sicherlich dazu.
Wissenschaftliche Klammer
Doch auch deren Grundlage besteht zunächst darin, ein mit Sinn und Freude erfülltes Leben in der Musik zu führen. Daraus ergibt sich das Bestreben, vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, bereits in jungen Jahren eine Basis für Lebenslanges Lernen in der Musik zu schaffen. Hier schließt sich der Kreis von den Weiterbildungsbestrebungen zum Kernthema Musik. Das Studienangebot Musikvermittlung bedient besonders sichtbar beides, nämlich eine berufliche Qualifikation für Musikerinnen und Musiker einerseits, eine Stärkung des Themas Musik andererseits. Die wissenschaftliche Perspektive innerhalb des Zentrums L3Musik bildet eine Klammer, die alles zusammenhält. Sie sucht Antworten auf die Fragen, warum und wie Menschen Musik lernen. In einer Lebenswelt, die scheinbar unendlich viele Optionen für die Freizeitgestaltung bietet, ändert sich auch der Stellenwert des eigenen Musizierens und des Musikkonsums. L3Musik wird geplant als ein Ort, der Begegnungen ermöglicht und Raum bietet für Experimente. Angebote für Seniorinnen und Senioren, die sich in fortgeschrittenem Alter dem Spielen eines Musikinstrumentes widmen wollen, ermöglichen Studierenden der Hochschule, musikgeragogische Methoden anzuwenden.
Alumni der Hochschule für Musik Detmold kehren für ein Kursangebot zurück und beschäftigen sich mit Spieltechniken oder Interpretationsfragen. Lehrkräfte aus allgemeinbildenden Schulen frischen ihre schulpraktischen Instrumentalfächer auf oder erweitern ihre Kompetenzen für den Musikunterricht. Freie Musikerinnen und Musiker besuchen L3Musik, um Kenntnisse im Musikmanagement, der Lehre oder der Musikvermittlung zu vertiefen. Im Idealfall ergibt sich ein Austausch zwischen den Externen mit all ihren Fragen aus der beruflichen Praxis und den Studierenden der Hochschule, die manche der Antworten, die Hochschullehre ihnen gibt, gar nicht einordnen können – weil sie die Fragen nicht nachvollziehen können.
Musik ist überall!
Eine Arbeitsgruppe mit Angehörigen beider beteiligter Hochschulen hat unter Einbezug von Expertinnen und Experten des Lebenslangen Lernens erste Inhalte ausgearbeitet. Ansatzpunkte gibt es reichlich, denn Musik ist überall! Sie steht im Zentrum professioneller Kunstausübung und erklingt in Kindergärten. Das etablierte Konzertleben in Deutschland ist ebenso rege wie jugendkulturelle Musikszenen im Internet. Musikvereine und Laienchöre sind Kulturträger vieler Regionen, Musikunterricht und Musikvermittlungsangebote unterstützen eine aktive Beschäftigung mit Musik. Als Begleitmusik des Alltags erklingt sie in allen Bereichen der Gesellschaft. Die unermessliche Vielfalt von „Musiken“ lässt Menschen immer wieder Neues entdecken. Andere Musikstile, neue Klänge, ungewöhnliche Rhythmen gehören ebenso dazu wie Spezialisierungen: das Eintauchen in bestimmte Ausdrucksformen oder Klangwelten. Die Vertiefung des Bekannten und die Auseinandersetzung mit dem Neuen stellen Erweiterungen des musikalischen Repertoires dar, sowohl für das aktive Musizieren als auch für das Hören von Musik. Diese Erweiterungen leben vom Austausch, bedürfen einer fachlichen Begleitung und der Begegnung, sie stehen im Zentrum dessen, was unter dem Begriff „Pflege der Künste“ zu verstehen ist. Die Beschäftigung mit Musik ist eine kulturelle Konstante menschlichen Handelns. Aktives Musizieren und das Hören von Musik sind Tätigkeiten, denen nahezu alle Menschen in vielfältigen kulturellen Zusammenhängen über die gesamte Lebensspanne und auf verschiedenen Niveaus nachgehen. Musikunterricht und Musikvermittlung sind fester Bestandteil des Bildungsangebots. Konzerte und Musik in den Medien spielen gesellschaftlich und auch wirtschaftlich weltweit eine Rolle. Um ihrem Stellenwert gerecht zu werden, ist Musik deshalb institutionell in gesellschaftlichen Strukturen verankert.
Sowohl die Ausbildung im Bereich der Amateurmusik, als auch das Fach Musik als Bildungsangebot in allen Schulformen sowie die künstlerischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Studienangebote an den Hochschulen verdeutlichen die gesellschaftliche Bedeutung von Musik. Musikalische Biografien zeigen, dass die individuelle Auseinandersetzung mit Musik über die Lebensspanne sehr inkonsistent sein kann. Viele Menschen unterbrechen ihre Beschäftigung mit Musik zeitweise und streben sie erst viel später wieder an. In Musikberufen Tätige zehren oft lange Zeit von ihrem im Studium erworbenen Wissen und suchen nach einem längeren Zeitraum neue Impulse und Anregungen. Mitunter erwacht das Interesse für Musik erst spät oder der Blick wird durch einen Wechsel des kulturellen Umfelds auf andere Musiken gerichtet. Ob es sich aber um eine kontinuierliche Beschäftigung mit Musik oder eine Re-Musikalisierung handelt: Allen diesen Menschen ist gemein, dass für sie Musik in der ihr innewohnenden Vielfalt und den unterschiedlichen Möglichkeiten, sich ihrem Wesen zu nähern, Attraktivität besitzt, Sinn stiftet, Freude bereitet. Diese Aspekte wird das Zentrum aufgreifen. Im Mittelpunkt von L3Musik steht die Beschäftigung mit Musik – ein Leben lang. Welche konkrete Entwicklung L3Musik nehmen wird und welche Inhalte sich dauerhaft etablieren können, wird sich zeigen. Es ist an der Zeit, sich auf den Weg zu machen und mit konkreten Angeboten zu verdeutlichen, dass die Beschäftigung mit Musik über die Lebensspanne nicht die viel zitierte Kirsche auf der Sahne, sondern die Hefe im Teig darstellt, als allgegenwärtiger Beitrag für ein gelungenes Leben.