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Praktische Erfahrungen auf dem Mikroton-Cembalo. Foto: Rudi Rach
Praktische Erfahrungen auf dem Mikroton-Cembalo. Foto: Rudi Rach
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Ein Fest für die feinen Sinne

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Die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart widmete dem Thema Mikrotonalität einen Kongress
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„Mikrotonalität. Praxis & Utopie“ – unter diesem Titel fand vom 15. bis 18. Juni 2011 ein internationaler Kongress in Stuttgart statt, musikalisch komplettiert durch die Konzertreihe „Zwischen den Tönen“. Veranstalter war die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, genauer gesagt, die dort ansässigen Studios „Neue Musik“, „Alte Musik“ und „Elektroakustische (Elektronische) Musik“.

Die scheinbar widersprüchliche Zusammenarbeit der auf einen bestimmten musikhistorischen Bereich spezialisierten Studios entpuppte sich als eine extrem fruchtbare künstlerisch-wissenschaftliche Veranstaltung; gemeinsam konnte ein detaillierter Blick auf das Thema Mikrotonalität und dessen breites Spektrum geworfen werden.

Immer häufiger spielt Mikrotonalität in den musikwissenschaftlichen Diskursen eine Rolle, da zeitgenössische Komponisten mehr und mehr entsprechende Techniken in ihren Kompositionen verwenden. Bei den Musikern setzen diese die Beherrschung entsprechender Spieltechniken und ein Bewusstsein für deren Besonderheiten voraus. Man darf nicht unterschätzen, dass in den letzten 200 Jahren das wohltemperierte System dominierte. Eine intensive Auseinandersetzung mit mikrotonalen Stimmungssystemen ist daher unbedingt notwendig. Das Thema verlangt auch noch umfangreichere Forschungen über die nichteuropäische Musik sowie die neurobiologischen Wissenschaften. Nicht zu vergessen ist, dass „Mikrotonalität“ auch unterschiedlich verstanden werden kann – je nachdem, wer sich aus welchem Bereich damit auseinandersetzt­. Um für Mikrotonalität zu sensibilisieren, ist generell viel Mühe und Verständnis von Seiten der Musiktheorie- und -praxis notwendig – mit dem Kongress ist wieder ein großer Schritt in diese Richtung getan worden. 

Insgesamt vier Tage lang wurden mit einem äußerst dichten, vielseitigen Programm Phänomene der Mikrotonalität in europäischen und außereuropäischen Kulturen, in Theorie und Praxis, damals und heute unter die Lupe genommen. Caspar Johannes Walter, künstlerischer Leiter, und Cordula Pätzold, Projektleiterin, boten mit Präsentationen, Vorträgen, Workshops und Konzerten eine abwechslungsreiche Angebotsstruktur, sodass sich jeder Teilnehmer individuell (weiter-)bilden konnte.

Caspar Johannes Walter zufolge erinnert die Situation der Musik heute an die der Musik um 1600, als Fragen der theoretischen Grundlagen, des Instrumentenbaus sowie ästhetische Aspekte diskutiert wurden: „Ein zentrales Anliegen ist uns das vergleichende Hören: der Vergleich zwischen harmonischen Fortschreitungen oder auch zwischen musikalischen Ideen ähnlicher Stimmungen aus verschiedenen Jahrhunderten oder Kulturen, realisiert mit Instrumenten aus klanglich verschiedenen Welten.“ Auf dieser Grundlage entstand die Ausrichtung des Kongresses auf drei Aspekte hin: „Alte Musik – Zeitgenössische Musik – Außereuropäische Musik“ sowie gleichzeitig auf „Theorie – Praxis – Ästhetik“. 

Unabhängig vom theoretischen Teil, der in Form von Vorträgen und Präsentationen stattfand, wurden über den Tag verteilt Workshops und Meisterkurse gehalten, letztere waren speziell auf die Interpreten zugeschnitten. Unter der Leitung von Spezialisten konnten die Studenten der Instrumental- und Gesangsabteilungen mikrotonale Spielweisen beziehungsweise Methoden erlernen – und das überraschend experimentell, was die Teilnehmer sichtlich begeisterte. Die Aufmerksamkeit der Komponisten richtete sich in den Kompositions-Workshops vor allem auf Instrumente, die in mikrotonalen Systemen gestimmt werden. In Präsentationen wurden Klang und Spieltechniken spezieller, teilweise eigens für den Kongress angefertigter Mikroton-Instrumente erprobt, wie zum Beispiel die des 16-tönigen Klaviers von Julián Carrillo – eine Oktave ist hier unterteilt in 96 Töne –, eines 24-tönigen Cembalos mit seinen historischen mitteltönigen Stimmsystemen oder der 31-tönigen Fokker-Orgel. Besonderen Anklang fand bei den Komponisten die Möglichkeit, die kompositorischen Resultate im Anschluss an die Workshops mit dem Ehrengast des Kongresses Klaus Huber sowie Erik Oña (Basel) und Caspar Johannes Walter zu besprechen. 

Im theoretischen Programmteil kristallisierten sich zwei große Fragestellungen heraus. Zum einen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Biowissenschaften und den kognitiven Wissenschaften: Erik Oña, Komponist und Dirigent aus Basel, konnte durch eigene Forschungen und Experimente beweisen, dass für das „Gefühl“ von Intonation höchste Frequenzbereiche verantwortlich sind, also jene, die hauptsächlich Klangfarbe differenzieren. Nach Oña korrigiert das menschliche Ohr die Intonation bei musikalischen Reizen automatisch, ohne dass uns dieser Vorgang bewusst ist. Durch einen kurzen Test mit dem Publikum zeigte er, dass das menschliche Ohr eine bestimmte Menge von einfachen Sinustönen unmittelbar als Vokale wahrnimmt. Diese Art der Forschung habe einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der modernen Instrumentation, so Oña. 

Die zweite Fragestellung drehte sich um den Ursprung der europäischen beziehungsweise auch außereuropäischen musikalischen Stimmungssysteme. Johannes Keller, Cembalist, ebenfalls aus Basel, stellte dazu beispielsweise das 31-tönige System von Nicola Vicentino (1511–1575/6) vor, dass dieser an seinem selbst entwickelten Archicembalo entwickelt hat. Am eindrucksvollsten wirkte aber schließlich die Aufführung einer Sonate von Georg Muffat (1653–1703) für Barockvioline und Cembalo. Das Publikum konnte sehr leicht den Unterschied zwischen den Tönen „f“ und „eis“ erkennen, da diese in verschiedenen harmonischen Kontexten verwendet wurden. Enharmonische Veränderungen haben seit jeher immer auch eine ästhetische Rolle gespielt. Diese Erfahrung machte letztlich deutlich, wie „schwarz-weiß“ das wohltemperierte System doch ist und wie viel „Farbe” durch die mikrotonale Musik gewonnen werden kann. Leider fehlte bei den theoretischen Beiträgen inklusive der Abschlussveranstaltung der Raum für tiefgreifende Diskussionen. Das Programm war hierfür zeitlich zu straff organisiert, sodass die interessanten Gespräche auf den Gängen der Hochschule geführt wurden. Man hätte sich einen breiteren Austausch gewünscht.

Einen lebendigen Kommentar zum theorielastigen Kongressprogramm bildete aber durchweg die begleitende Konzertreihe „Zwischen den Tönen“. Unter den gespielten Werken befanden sich acht Uraufführungen. Das künstlerische Niveau war bemerkenswert hoch und das bei Werken, die schon allein technisch äußerst anspruchsvoll sind. Hinzu kommt, dass viele Musiker erst wenig Kontakt mit mikrotonaler Musik hatten. Neben den Ensembles der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst waren auch zwei externe, professionelle unter den Aufführenden: das Ensemble SCALA (Amsterdam) und Al-Kindî (Syrien). Ganz im Sinne des „Vergleichenden Hören“ kombinierte das Konzertprogramm Werke Alter und Neuer Musik, sodass die Aktualität verschiedener Stimmungssysteme geradezu offenbar wurde. 

Von den Uraufführungen überzeugten vor allem jene Stücke, in denen die Mikrotonalität – ähnlich wie in den Stücken der Alten Musik – entweder als Träger der Expression fungierte oder Zusammenhänge beziehungsweise Kontraste zwischen reinen Klängen und Dissonanzen betonte. Oder aber die Stücke, die eine außergewöhnliche Empfindlichkeit für Klangfarbe und Form zeigten. Dazu gehörten „Beschwörung durch Lachen“ für Sopran, Cembalo, präpariertes Klavier und Polychord von Marina Khorkova, „Thirty-one steps to heaven“ für Fokker-Orgel und Instrumentalensemble von René Samson, „Flattergeist“ für drei Celli von Caspar Johannes Walter und „Tiger und Patriarch“ für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Schlagzeug von Erik Oña. Das Stück „Jour, Contre-Jour“ für 13 Musiker, elektrische Orgel und 4-Spur-Zuspielung von Gérard Grisey, hervorragend gespielt von Stirling- und echtzeit­Ensemble unter der Leitung von Christof M Löser (Elektronik: Piet Meyer), bildete den gelungenen Abschluss des Kongresses.

Warum hat die Mikrotonalität so einen schweren Stand bei Komponisten, Interpreten, Zuhörern? Handelt es sich doch im Grunde um ein natürliches klangliches Phänomen. Caspar Johannes Walter stellte in seiner Abschlussrede richtig fest, dass „die Entwicklung von mikrotonaler Musik nur dann Sinn hat, wenn sie auf der Praxis basiert“. Komponisten, die dies ignorieren, werden Stücke komponieren, die Interpreten vor große Probleme stellen. Auch das Argument, dass ein mikrotonales Gehör erst lange trainiert werden müsse, ist nicht korrekt. Es zeigte sich, dass ein Musiker bereits nach ein paar Minuten Beschäftigung etwa mit der Fokker-Orgel mikrotonale Unterschiede erkennen kann.

Übersetzung: Malgorzata Walentynowicz

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