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Ein ganz neues Angebot

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Jazzorchesterleitung in Mannheim. Jörg Achim Keller im Gespräch
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Im Rahmen des neuen Landeszentrums für Dirigieren Baden-Württemberg wurde auch eine Professur für Leitung Jazzorchester und verwandte Stilbereiche eingerichtet. Für dieses nicht nur in Deutschland einmalige Angebot konnte Prof. Jörg Achim Keller, der langjährige Leiter der HR- und NDR-Bigbands, gewonnen werden. Aus diesem Anlass sprach Anca Unertl mit Prof. Keller.

Herr Prof. Keller, lassen Sie mich mit einer provokanten Frage beginnen: Kann man bei Ihnen auch das lässige Fingerschnipsen eines James Last lernen?

Ich finde die Frage – obgleich wirklich etwas provokant – sehr gut, da anhand ihrer diverse Spannungsfelder und Unklarheiten des neuen Hauptfachs Leitung Jazzorchester und verwandte Stilbereiche aufgezeigt und erklärt werden können.

Natürlich – wer alt genug ist, erinnert sich an die Rundfunk-Tanzorchester (so hießen die meisten Big Bands der Sender noch bis in die 80er Jahre), die in den großen Samstagabend Shows im Fernsehen auftraten – und eben an jene Bandleader, die gerne Mal mit dem Rücken zur Band, fingerschnippend und breit grinsend in die Kameras schauten – und das Ganze am Besten noch bei Vollplayback...
Wer noch weiter zurückdenkt, dem werden auch die großen Bands der Swingära einfallen, bei denen – auch bei den musikalisch interessantesten Bands – nicht selten Showeinlagen integraler Bestandteil der Aufführung waren – und auch hiervon waren die Bandleader zum allergrößten Teil natürlich nicht ausgenommen.

Die Wahrheit ist, dass der Klangkörper, den wir heute oft schon nicht einmal mehr „Big Band“ sondern „Jazz-Orchestra“ nennen, seinen Ursprung in der swingenden Tanzmusik der 30er und 40er Jahre hat. Der Jazz als Ganzes kommt in seinen Ursprüngen aus dem Genre des Entertainment, gerade in den Anfangszeiten verschwimmen da häufig die Begrifflichkeiten wie “Jazz“, „syncopated music“, „Ragtime“, „hot music“. All das meint in der Entstehungsphase eigentlich dasselbe – musikalische Entwicklung und die Entstehung neuer Stile laufen eben niemals geordnet oder nach einem musik-historischen Handbuch ab!

Dass die Musik und die Musizierhaltung der zeitgenössischen Jazz-Großformationen mit diesen Ursprüngen nur noch wenig bis gar nichts zu tun haben, ist deutlich erkennbar. Gleiches könnte man bestimmt auch für den Unterschied zwischen höfischer Gebrauchsmusik des 18. Jahrhunderts und Kompositionen der Neuen Musik sagen – allein, die Zeitspanne, in der die „E-Musik“ diesen Schritt getan hat, ist um ein Vielfaches länger als die der vergleichbaren Entwicklung im Jazz. Und nicht nur die Zeitspanne, auch die Verbreitungswege waren bzw. sind ganz andere. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eben keine Multiplikatoren wie die Schallplatte oder das Radio – von den Entwicklungen des 21. Jahrhunderts (Stichwort Internet – absolute, sofortige globale Zugänglichkeit) ganz zu schweigen. Das Ergebnis ist, dass im Bereich des Jazz (und auch des Pop) sich die musikalischen Entwicklungen in rasend schneller Geschwindigkeit vollzogen haben, gleichzeitig aber auch noch alles permanent auf Tonträger dokumentiert ist.

Deshalb können Sie heute noch Personen antreffen, für die Jazz der (Big Band-) Swing ist, den sie selbst in ihrer Jugend kennengelernt haben – und andere, denen diese Musik ein Graus ist – und sei es nur wegen der einheitlichen „banduniforms“ – die sich aber in den modernsten Spielarten des Jazz sehr wohl aufgehoben fühlen. Und natürlich gibt es zwischen diesen beiden Polen unendlich viele Zwischenstufen.
Quintessenz dieser Ausführungen – und hier kommen wir zum Hauptfach Jazzdirigieren und gleich danach zu Ihrer Frage zurück – ist, dass der Jazz und die jazzverwandte Musik sehr unterschiedlich sein können. Ein professioneller Ensembleleiter hat umso größere Chancen, gut zu verdienen, je breiter das stilistische Spektrum ist, das er überzeugend und musikalisch kompetent abdecken kann – und dazu gehört eben auch (oder kann zumindest gehören) zu wissen, welche speziellen Mechanismen im Show-
business greifen und wie man dort professionell agiert.

An dieser Stelle sei übrigens noch eine Lanze für den seligen James Last gebrochen. Ihn auf sein Auftreten vor seiner Band im Konzert zu reduzieren, wird der Sache nicht annähernd gerecht. Wie so oft, fand auch hier die eigentliche Arbeit im Vorfeld statt: Im Schreiben von Arrangements, im Ersinnen einer völlig neuartigen Big-Band-Besetzung und Aufstellung, vor allem aber – und da sind wir an einem ganz essentiellen Punkt jeglicher Ensembleleitung – in der Fähigkeit, eine musikalische Vorstellung zu entwickeln und eine Gruppe von mitunter sehr individualistischen Musikerpersönlichkeiten dazu zu bringen, dieser Vorstellung zu folgen und zu einer Teamleistung zu kommen, die in guten Momenten weit mehr als nur die Summe der Fähigkeiten und Talente der einzelnen Ensemblemitglieder ist. Dies verbindet – Puristen mögen mir diesen Satz nachsehen – James Last mit Duke Ellington, Miles Davis und vermutlich jedem guten Dirigenten in anderen musikalischen Bereichen.

Ein ziemlich weit geschlagener Bogen… Wenn also große stilistische Bandbreite eines der Hauptziele der neuen Hauptfachausbildung sein soll: Wie denken Sie, dass Sie diese erreichen können  – und wie wollen Sie einer stilistischen Beliebigkeit entgegenwirken?

Einer der Schlüssel zur Flexibilität ist – meiner Meinung nach – die möglichst umfassende Beherrschung aller technischen Aspekte des Berufes. Dazu gehört natürlich an erster Stelle die Schlagtechnik sowie – allgemeiner gefasst – die Beherrschung des „Instruments Körper“, die Fähigkeit, mit eben jenem die Musik für die Ausführenden sichtbar zu machen. Dann geht es um Kompetenz in allen „tools“, die es zur Vorbereitung von Proben und Aufführungen braucht. Um die Fähigkeit, in einer Probensituation Dinge steuern zu können. Des Weiteren um die Schärfung ganz grundlegender musikalischer Fertigkeiten wie Rhythmusgefühl, analytisches Hören und Fehlererkennung/Problemlösung.

Als wichtiges Mittel gegen stilistische Beliebigkeit – die Sie als eine mögliche Gefahr erwähnten – sehe ich unter anderem die Arbeit an einem fundierten Repertoirewissen. Dieses schärft die stilistischen Konturen und ermöglicht den Studierenden, sich mittelfristig selbst musikalisch zu positionieren.

Bis hierher klingt dies doch auch wie etwas, dass einer Ihrer „klassischen“ Kollegen formuliert haben könnte. Wo liegen aber die Unterschiede, die Besonderheiten der Jazzausbildung – oder sind diese Unterschiede vielleicht gar nicht so groß, wie man allgemeinhin denken könnte?

Ich denke, es gibt – zumindest in der prinzipiellen Herangehensweise – große Übereinstimmungen mit allen anderen Hauptfächern. Ich habe mir bei der Entwicklung des aktuellen Studienplanes auch sehr genau angeschaut, was in diesen anderen Hauptfächern unterrichtet wird, und habe versucht, all das zu übernehmen und anzupassen, was mir in meinem Fach sinnvoll erschien. Dies war ein spannender, mitunter bittersüßer Prozess, der mich des Öfteren schmerzlich daran erinnert hat, was ich – als Autodidakt – alles verpasst habe bzw. mir mit teils wenig glamourösen  praktischen Erfahrungen selbst aneignen musste.

Das ist ein interessanter Aspekt – Sie sind Autodidakt. Woher nehmen Sie das Gefühl dafür, was Studierende im Rahmen einer Hochschulausbildung brauchen werden?

Ich denke, dass jemand, der auf autodidaktische Art Dinge erlernt, vor allem Anderen als erstes lernen muss, selbst sein bester Lehrer, schärfster Kritiker und – auch das ist manchmal nötig – sein größter Fan zu sein. Und das ist, wenn Sie mich nach übergeordneten Zielen in der Ausbildung fragen würden, bestimmt eines der wichtigsten. Am Ende des Studiums muss ein selbständiger Musiker stehen, der vor allem in der Lage ist, sich selbst einzuschätzen, seine Stärken zu entwickeln und als „Marktvorteil“ einzusetzen, der um seine Schwächen weiß und an ihnen konstant arbeitet. Wenn ihm der neue Studiengang dabei einige Umwege und Sackgassen erspart und ihm mit dem technisch Erlernbaren in möglichst kompakter Form eine gewisse „Grundsicherheit“ mitgibt, ist schon viel erreicht.  Alles was dann folgt, ist „die Kür“.

Nochmal zu den Eigenheiten der Jazz-Dirigat-Ausbildung – wie würden Sie diese beschreiben?

So sehr ich auf einer allgemeinen und strukturellen Ebene große Übereinstimmung mit  den anderen Hauptfächern sehe, so groß werden die Unterschiede auf der praktischen, der operativen Ebene sein. Fakt ist, dass die Ausbildung Jazz/Pop-Orches-terleitung in fast allen Bereichen an die Ressourcen der Jazzabteilung angedockt sein wird. Dies gilt für praktisch alle Theorieklassen, aber auch für die Ensemblearbeit, die – natürlich – mit den Ensembles der Jazzabteilung stattfinden wird. Das Ganze ist eben eine Jazz/Pop-Ausbildung, musikalisch ist dies der sehr überwiegende Fokus aller Arbeit.
Es ist einfach auch so, dass Jazzmusiker in Teilen ganz andere Impulse brauchen als „klassische“ Spieler. Der Fokus liegt oft auf anderen musikalischen Parametern, am Ende hat die Musik an vielen Stellen ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Und: Auch Jazzmusiker haben einen ziemlich guten Instinkt dafür, ob derjenige, der mit ihnen proben und aufführen möchte, das richtige „feeling“ mitbringt, also am Ende „glaubwürdig“ ist.

Wie würden Sie Ihr Hauptfach im Gesamtgefüge des Landeszentrums sehen, welche speziellen Besonderheiten gibt es im Landeszentrum für Dirigieren Baden-Württemberg?

Zunächst einmal ist es ein großer Gewinn, dass im Rahmen des Landeszentrums Dirigieren überhaupt ein Hauptfach Jazz/Pop-Dirigieren/Ensembleleitung entstanden ist. Dieses ist, so zumindest mein Wissensstand, einzigartig in Deutschland und bietet – auch mit seiner Wirkung hinein in den Nebenfachbereich – einfach eine sehr große Chance zu einer Professionalisierung auf diesem Gebiet.
Auf das Landeszentrum als Ganzes blickend finde ich besonders erwähnenswert, dass es gelungen ist, eine gewisse Durchlässigkeit zwischen und Vernetzung unter den diversen Hauptfächern herzustellen. Auf der Ebene des Nebenschwerpunkts („Minor“) ist es für alle Studierenden im Prinzip möglich, in allen anderen stilistischen Bereichen neben ihrem persönlichen Schwerpunkt Erfahrungen zu sammeln.
Das dies alles innerhalb eines Hauses geschehen kann, flankiert von einem Team von Lehrenden, welches eng zusammenarbeitet und sich über stilistische Grenzen hinweg deutlich spürbar als Einheit versteht, ist ein immenser Gewinn für die Studierenden und die Qualität der Studiengänge.

Ein interessanter Aspekt – können Sie konkrete Beispiele nennen, wo diese zusätzlichen, spartenübergreifenden  Erfahrungen von Nutzen sein können?

Ich finde das „Blicken über den Tellerrand“ prinzipiell eine gute Sache. Mir hat es schon immer Inspiration und eine Erweiterung der Perspektive, auch auf vermeintlich schon bekannte Zusammenhänge gebracht.
Im Einzelnen kann man sich aber auch viele konkrete Konstellationen vorstellen, in denen die Beschäftigung mit anderen musikalischen Stilistiken hilfreich sein dürfte. Jemand, der mit einer klassischen Dirigentenausbildung als Kapellmeister an einem kleineren Haus engagiert wird, ist zum Beispiel bestimmt hier und da mit der Aufführung von Musicals konfrontiert – umso besser, er oder sie hat dann im Studium fundierte Erfahrungen im Jazz-/Popbereich sammeln können. Auch bei der Aufführung von Werken bestimmter Komponisten (wie etwa Bernstein) kann dieser „Jazzblick“ auf die Dinge mit Sicherheit nicht schaden.

Umgekehrt ist es so, dass im Jazzbereich immer auch stilfremde Dinge passieren können. Ich erinnere mich noch gut an eine meiner ersten Produktionen als Chefdirigent der hr-Bigband – eine Musical-TV-Show, gespickt mit Colla-Voce Passagen und Tempowechseln. Da ist es mit „Jazzbasiswissen“ vor der Band alleine natürlich nicht getan. Gleiches gilt auch für die durchaus immer wiederkehrende Arbeit mit Symphonieorchestern in Crossover- oder Filmmusik-Produktionen. All dies wird leichter, wenn man im relativ geschützten Umfeld eines Studiums hier schon hat Erfahrungen sammeln können. Ich wäre jedenfalls sehr dankbar für einen solchen Background gewesen.

Welche weiteren Aspekte finden Sie im Zusammenhang des von Ihnen unterrichteten Hauptfaches noch erwähnenswert?

Mir fallen hier einige „Hauptstränge“ ein: Zum einen – und hier geht es tatsächlich nicht um das Hauptfach, sondern um ein Nebenfachangebot – ist mir sehr daran gelegen, den Studierenden der Mannheimer Jazz-Kompositionsklasse ein zusätzliches Unterrichtsangebot Ensembleleitung machen zu können. Im Jazz ist die Trennung zwischen Komponisten und Dirigenten ja gar nicht so üblich wie zum Beispiel in der Symphonik oder der Oper. Das Gegenteil ist eigentlich der Fall, und so ist es natürlich umso sinnvoller, dass die Jazz-Komponisten zumindest die Chance haben, hier Erfahrungen zu sammeln.

Bezogen auf das Hauptfach finde ich noch zwei Dinge besonders erwähnenswert. Für beide kam übrigens die Inspiration aus dem Studienplan der Blasorchesterdirigenten. Zunächst ist da ein instrumental- (oder vokal-) praktischer Aspekt des Dirigierstudiums. Ich möchte, dass – insbesondere in der 1. Hälfte des Bachelorstudiums – die angehenden Dirigenten aktiv als Musiker am Ensemblegeschehen teilnehmen. Nichts kann mitunter so lehrreich sein wie der Blick aus dem Ensemble – und dieser Blick ist verpflichtend im Studienplan fixiert!

Noch wesentlicher finde ich die Berücksichtigung eines wichtigen potentiellen Arbeitsfeldes für Absolventen des Studiengangs, nämlich die Arbeit mit Amateur- oder semi-professionellen Ensembles. Es gibt in der Tat eine wirklich überschaubare Zahl von professionellen Möglichkeiten, sich als Jazz-Ensembleleiter zu betätigen – aber es gibt eine sehr große Amateurszene, Bands verschiedenster Qualitätsstufen, die allesamt aber einen großen Beitrag zum kulturellen und sozialen Leben leisten. Mir ist es sehr wichtig, dass meine Studierenden auf die Arbeit mit diesen Ensembles ideal vorbereitet werden, denn gerade hier kann für den einen oder anderen ein fruchtbares und erfüllendes Betätigungsfeld entstehen. Und umso besser auch für diese Bands, wenn sie von kompetenten und gut ausgebildeten Leitern profitieren können.

Lieber Herr Keller, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen alles Gute für die kommenden Jahre in Mannheim!

Jörg Achim Keller (*27.8.1966 in Zürich) schrieb bereits während seines Musikstudiums für Peter Herbolzheimers RC&B und div. Rundfunk Big Bands. Er wurde 2000 Chefdirigent der hr-Bigband, wechselte 2008 in gleicher Funktion zum NDR (bis 2016). Als Arrangeur/Dirigent war er für zahlreiche Produktionen mit deutschen und internationalen Künstlern tätig, wie z. B. Till Brönner, Udo Jürgens, Nils Landgren, Al Jarreau, Chet Baker u.v.m. Letzte Arbeiten umfassen die aktuelle CD von Thomas Quasthoff.

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