Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Bereich „Künstlerische Forschung“ von den deutschen Musik- und Kunsthochschulen in dem Moment als relevant wahrgenommen wird, da sich die Berufsfelder, für die traditionell ausgebildet wird, aufzulösen beginnen. Wenn man sich von einem Ausbildungskonzept verabschiedet, das sich im Wesentlichen auf eine Methodik zum Bestehen von Orchesterprobespielen oder der Unterzeichnung eines Anfängervertrags an einem deutschen Stadttheater verengt, kann eine gründliche Reflexion über die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns nicht ausbleiben.
Das Potenzial, das in einem solchen Prozess verborgen ist, liegt in der Freilegung der Synergien, die im Zusammenspiel von künstlerischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Lehrinhalten ohnehin möglich sind. Der künstlerischen Forschung käme dabei die Aufgabe zu, dieses Zusammenspiel zu definieren und auf eine höhere Erkenntnisebene zu heben, darüber hinaus die künstlerische Ausbildung in einer von universitären Forschungsansätzen bestimmten Diskussion legitimieren zu helfen und nicht der Lehre neue methodische Instrumente in die Hand zu geben, um die Ausbildung weiter zu verbessern und perspektivisch für die Zukunft zu öffnen.
Es gibt zwei Argumente, die innerhalb der Hochschule den Diskurs um die künstlerische Forschung bestimmen:
1. Künstlerische Forschung ist eine Entwicklung, die sozusagen in der Luft liegt und die man nicht verschlafen darf, will man den Anschluss an die aktuelle Erörterung oder sogar eine Vorreiterrolle in diesem Bereich nicht verlieren.
2. Es werden für akademische Forschung von ministerialer Seite Geldmittel in beeindruckender Höhe bereitgestellt, die es auch für die Kunsthochschulen zu erschließen gilt.
Beide Argumente sind schlüssig und nachvollziehbar, aber deutlich extrinsisch motiviert. Sie definieren eher Rahmenbedingungen, auf Grund derer künstlerische Forschung stattfinden soll, als dass sie den inhaltlichen Kern eines Diskurses um dieses Thema aufschließen. Naturgemäß bedarf es einiger Anstrengung, diesen freizulegen. Denn ebenso vielfältig wie die verschiedenen Manifestationen künstlerischer Praxis an unseren Hochschulen sind die Versuche, über diese Praxis zu reflektieren und sie für Forschungsprozesse fruchtbar zu machen. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Auseinandersetzungen mit diesem Thema erst einmal in einer Grundsatzdiskussion verharren, was überhaupt unter künstlerischer Forschung zu verstehen ist und wo sie sich einerseits von der künstlerischen Praxis und andererseits von der wissenschaftlichen Forschung abgrenzt. Hier verbirgt sich die Gefahr, sich einerseits in artistischer Beliebigkeit zu verlieren, sich andererseits im vorauseilenden Gehorsam vor einer wie auch immer gearteten wissenschaftlichen Diskussion in Begrifflichkeiten zu verengen, die für künstlerische Prozesse gar nicht recht geeignet sind.
Es gibt in der Musik und in den Darstellenden Künsten viele Bereiche, die sich von jeher dadurch profilieren, dass künstlerische Prozesse durch Reflexion über das eigene Tun und eine wissenschaftliche Begleitung und Erschließung der eigenen Arbeitsgrundlagen flankiert werden. Beispielhaft seien genannt: die historische Aufführungspraxis der Alten Musik, die sich durch akribisches Quellenstudium und die Übersetzung historischen Materials in aktuelle Aufführungssituationen auszeichnet; die Kompositionsausbildung, die sich weniger durch die Vermittlung handwerklich-tonsetzerischer Skills als durch fortwährende und anhaltende Selbstreflektion und ästhetische Positionierung innerhalb einer Debatte darüber, was an Musik zeitgenössisch sei, charakterisiert, sowie ihre Umsetzung in der Praxis neuer und Neuer Musik durch die Erschließung und Systematisierung zeitgenössischer instrumentaler Spieltechniken. Auch das weite Areal von Musikvermittlung und Pädagogik gehört dazu, das sich, sei es in der Lehramtsausbildung, in der Instrumentalpädagogik oder in der wissenschaftlichen Musikpädagogik, durch stetes Ausbalancieren künstlerischer, pädagogischer und wissenschaftlicher Inhalte auszeichnet; außerdem die kunstspezifische Bewegungslehre, welche physiologische und medizinische Erkenntnisse für die künstlerische Praxis erschließt und Kunst als ein nicht nur seelisches und geistiges, sondern vor allem auch körperliches Phänomen als ganzheitliche Erkenntnismöglichkeit des Menschen zu verstehen hilft. Und nicht zuletzt will ich hier das Nachdenken über Performance im Schauspiel und im Tanz erwähnen, wo die Diskussion darüber, welche Aufführungssituationen und -bedingungen einer zeitgenössischen Kunstausübung am angemessensten sind und wie sich verändernde Berufsfelder die Auffassung über den performativen Prozess am nachhaltigsten beeinflussen, naturgemäß am intensivsten geführt werden.
Andererseits gibt es Bereiche, für die sich wie auch immer geartete Forschungsansätze geradezu anbieten, die aber in dieser Hinsicht an Hochschulen noch nicht oder nur unzureichend erschlossen sind; beispielsweise Disziplinen wie die Improvisation, die jenseits der Alten Musik, der Kirchenmusik und des Jazz immer noch argwöhnisch als halbrationales Vorsichhinpräludieren beäugt wird, obwohl es kaum eine musikalische Praxis gibt, die sich - aus wissenschaftlicher Sicht - durch größere Komplexität auszeichnet. Aber auch das komplexe Gebiet der populären Musik steht hierfür exemplarisch, das in der Regel in der Lehramtsausbildung als Kompetenzfeld vermittelt wird, und das „die Kids dort abholen kann, wo sie sind“. Dadurch wird einerseits das reichhaltige wissenschaftliche, soziologische, musiktheoretische und literaturwissenschaftliche Potenzial, das es für den Bereich des Pop zu erschließen gilt, ausgeblendet. Andererseits wird eine grundlegende Qualitätsdiskussion darüber, was überhaupt gute Popmusik ist und über welche Parameter sich hier Qualität definiert, vermieden, da der gesamte Ansatz ja eher pragmatisch und kompetenzorientiert, weniger aber künstlerisch ist. Und nicht zu vergessen sei ebenfalls der gesamte Komplex musikalischen Übens, wo die Musik beispielsweise der Sportwissenschaft um Lichtjahre hinterherhinkt und man sich häufig mit der Expertise professoraler musikalischer Praktiker begnügt und eher darüber definiert, wie viel oder wie wenig geübt wird, statt den Übeprozess selber zu rationalisieren und zu erforschen. Ein weiteres Feld für Forschungsarbeit bieten Interdisziplinarität und Kooperation unterschiedlicher künstlerischer Zweige, das naturgemäß dadurch erschwert wird, dass Kunsthochschulen häufig in verschiedene Fachbereiche unterschiedlicher Partikularinteressen zu zerfallen neigen. Und schließlich seien noch all die Bereiche erwähnt, in denen Kunstausübung sich nicht über gängige Rationalisierungstechniken erfassen lässt, man in den eigentlichen Kernbereich des künstlerischen Prozesses eindringt und in diesem Moment erkennt, dass Kunst mehr und größer ist als die Begriffe, die wir uns davon machen - beispielhaft sei hier der fragile Zusammenhang zwischen Kunst und Spiritualität erwähnt, der für die Kreativitätsforschung und Kunstpsychologie enormes Potenzial verspräche, würde man sich diesen Zusammenhang überhaupt erst einmal eingestehen.
Hat man sich also an Hochschulen dazu entschlossen, diese zahlreichen Arbeitsfelder für die künstlerische Forschung zu öffnen, bleibt eigentlich genug zu tun. Aber wie anfangen? Es ist illusorisch zu glauben, man könne ohne weiteres aus hochschuleigenen Ressourcen einen solchen ambitionierten Prozess generieren. Es ist ja bisher nicht einmal in den Stellenbeschreibungen und Berufungsvereinbarungen der betreffenden Lehrkräfte definiert, wie sich künstlerische Forschung im Deputat und im Curriculum abbilden soll, zudem Forschung in der Regel bisher bei künstlerischen Professuren ja gar nicht vorgesehen war. Das hat zur Folge, dass diejenigen, die in diesem Bereich tätig werden wollen, dies on Top ihrer eigentlichen Lehrverpflichtung, im Grunde in ihrer Freizeit tun müssen, wenn sie nicht durch eine Hochschulleitung unterstützt werden, die das Potenzial dieses Bereiches erkennt und Lehrende über individuelle Vereinbarungen entlastet. Hinzu kommt, dass die Hochschulen ohnehin unter einer Selbstverwaltungsstruktur leiden, in der das entsprechende Engagement im Kollegium höchst ungleich verteilt ist, und häufig sind es ausgerechnet die Kolleginnen und Kollegen, die ohnehin über Gebühr engagiert sind, welche die Thematik Artistic Research inhaltlich und strukturell vorantreiben wollen. Eine solche Selbstausbeutung tut aber nicht nur den betreffenden Protagonisten, sondern auch dem Arbeitsfeld nicht gut. Es muss also die entsprechende personelle und organisatorische Infrastruktur an den Hochschulen geschaffen werden, und wer sich mit Hochschulentwicklungsplanung auskennt, weiß, dass das nicht von heute auf morgen geschehen und vor allem nicht von den Hochschulen aus eigener Kraft geleistet werden kann, die ohnehin an einer ständigen Knappheit finanzieller, personeller und räumlicher Strukturen leiden.
Da darüber hinaus die Situation an Kunsthochschulen nicht mit der großer Forschungsuniversitäten vergleichbar ist und man ohnehin bemüht sein sollte, einen Ansatz zu finden, der sich von dem traditioneller universitärer Praxis unterscheidet, braucht es vermutlich zur Initialisierung keine Forschungsprojekte im Umfang mehrerer hunderttausend Euro, da es meist schon an Kapazitäten mangelt, den damit einhergehenden Verwaltungsaufwand zu bewältigen.
Ein Anfang wäre beispielsweise die Einspeisung von „seed money“, um die für künstlerische Forschung erforderliche Infrastruktur zu installieren, und die Bereitstellung räumlicher Ressourcen für die ohnehin beengt agierenden Hochschulen, um Performance Spaces zu schaffen, die in ihrer konzeptionellen Variabilität den Anforderungen einer zukunftsorientierten Institution gerecht werden. Nicht zuletzt bedarf es der Einbeziehung der Studierenden durch eine Anpassung der entsprechenden Curricula, damit die Erkenntnisse dieser Forschungsprozesse unmittelbar auf die Ausbildung abstrahlen und für künftige Generationen zu einer Selbstverständlichkeit werden. Denn erst, wenn künstlerische Forschung integraler Bestandteil der künstlerischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Ausbildung an Kunst- und Musikhochschulen ist und nicht mehr nur ein beigeordnetes Profilierungsmerkmal unter vielen, kann sie einlösen, was ihr Potenzial verspricht.