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Zwei Sängerinnen mit Megaphonen.

Proben zu „Shiver Lung“ von Ash Fure mit Hannah Mehler und Kara Leva an der ZHdK. Foto: Lucas Bennett

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Elektroakustische Musik als lebendige Historie

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Germán Toro Pérez vom ICST der Zürcher HdK im Gespräch
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Am Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) ist kürzlich ein besonderes Forschungsprojekt zur Aufführungspraxis elektroakustischer Musik abgeschlossen worden. Für das Hochschulmagazin der nmz hat Juan Martin Koch mit dem Institutsleiter und Projektverantwortlichen Prof. Germán Toro Pérez gesprochen.

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nmz: Was ist und was macht das ICST der Zürcher Hochschule der Künste?

Germán Toro Pérez: Das ICST ist eines von mehreren Forschungsinstituten an der ZHdK. Es wurde 2005 gegründet, hat aber eine längere Tradition, da es sich aus dem Schweizer Zentrum für Computermusik heraus entwickelt hat. Ein wichtiger Schwerpunkt war zunächst die dreidimensionale Klangprojektion. Aber auch Klangsynthese, algorithmische Komposition, Generative Kunst sowie Performance in Zusammenhang mit der Entwicklung von neuen Interfaces gehörten am Anfang zu den Kerngebieten des ICST.  Mit der neueren Entwicklung der künstlerischen Forschung hat sich das Spektrum erweitert und dazu gehört auch das von mir initiierte Gebiet der Aufführungspraxis elektroakustischer Musik. Unter anderem haben wir ein großes Archiv für elektronische Musik aufgebaut, sind aber gleichzeitig im Bereich der Kreation aktiv: Mit unserem international ausgeschriebenen Artist in Residence Programm versuchen wir seit vielen Jahren, im Dialog mit Komponist*innen und Künstler*innen die Forschungsthemen, die hier bearbeitet werden, auch aus der Perspektive der Praxis zu sehen.

nmz: Ist das ICTS auch mit den Studiengängen vernetzt?

Toro Pérez: Ja, diese Verbindung ist sehr eng. Die ZHdK Musik bietet Bachelor- und Masterprogramme mit den Majors Elektroakustische Komposition oder Tonmeister*in. Zudem kann man Sounddesign im Master studieren. Wir haben außerdem immer wieder Projekte, die mit Beteiligung von Studierenden und Alumni durchgeführt werden. Dazu kommen PhD-Projekte in Kooperation mit Partneruniversitäten.

nmz: Welche Fragestellungen haben Sie bei Ihrem jüngst abgeschlossenen Forschungsprojekt zur Aufführungspraxis elektroakustischer Musik bearbeitet?

Toro Pérez: Nach einer eher historischen Studie und einem zweiten Projekt in Zusammenarbeit mit der Paul Sacher Stiftung wollten wir uns diesmal mit dem Repertoire beschäftigen, das nach 1980 entstanden ist, das heißt, ab dem Zeitpunkt, wo digitale Technologien im Bereich der Produktion und der Aufführungspraxis elektronischer Musik wichtig wurden. Es ging unter anderem um jene Veränderungen, die Praktiken wie das Sampling ausgelöst haben, und die Möglichkeiten, in Echtzeit Prozesse zu realisieren. Da gab es ja die Utopie, dass die Musik sich dadurch verändern würde, dass die Lebendigkeit der Musik gesteigert werden würde. Was ist mit diesen Verheißungen passiert? Wurde das alles eingelöst? Wie hat sich diese Praxis und das Denken über live-elektronische Musik verändert? Das waren unsere Fragen.

nmz: Wie würde hier Ihr vorläufiges Fazit lauten?

Toro Pérez: Eine Erkenntnis für mich ist, dass Lebendigkeit nicht allein eine technische Frage ist. Sie hängt nicht davon ab, wie klein die Latenz ist, sie hängt von vielen anderen Faktoren ab, vom Verhältnis zwischen Körper und Maschine etwa. Und selbst die einfachste Verstärkung ist ein live-elektronischer Prozess, der auch viel Einfluss auf das hat, was wir hören und verstehen. Ein weiteres Fazit ist, dass wir als Interpret*innen historischer elektronischer Musik in der Lage sein müssen zu verstehen, wie die Bedingungen waren, unter denen bestimmte Werke entstanden sind. Das historische Verständnis über ästhetische und technische Voraussetzungen ist notwendig, um diese Werke einem heutigen Publikum näher zu bringen. Ein rein restaurativer Zugang macht dabei aber keinen Sinn. Die Werke müssen jedes Mal neu übersetzt werden in einen technischen Kontext, der sich ständig verändert. Entscheidend ist, die richtigen Mittel für diese Übersetzungsarbeit zu wählen.  

nmz: Sie sprechen von historisch informierter Aufführungspraxis, wie bei Alter Musik. Heißt das, es gibt auch philologische Fragen?

Toro Pérez: Ja, es gibt philologische Aspekte: Was sind die Grundmaterialien? Welche Versionen oder Fassungen existieren? Warum sind diese Varianten entstanden und für welche Kontexte? All das aus den Quellen heraus genau zu verstehen, ist sehr wichtig, um dann Entscheidungen darüber zu treffen, wie man Stücke in neue Plattformen übersetzen kann. Es kann aber auch zu der Erkenntnis führen, dass es Stücke gibt, die sich nicht mehr wieder aufführen lassen, die ein bestimmtes historisches Fenster hatten, das sich wieder geschlossen hat.

nmz: Ein berühmtes Beispiel ist Edgar Varèses „Poème électronique“, das für den Philips-Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 konzipiert wurde. Hier kann man ja diese spezielle akustische Situation nicht rekonstruieren, oder?

Toro Pérez: Genau. Viel sinnvoller ist in diesem Fall das, was Kees Tazelaar mit diesem Stück gemacht hat. Und wir haben das im Rahmen unserer CD-Produktion „Les Espaces Électroacoustiques“ auch so veröffentlicht: in einer auf solider Recherchearbeit basierenden, akustisch gut ausgearbeiteten Fassung. Es ist nicht mehr die Rekonstruktion eines historischen Ereignisses, sondern eine Interpretation mit aktuellen technischen Mitteln.

nmz: Bei den jüngeren Stücken, mit denen Sie sich nun beschäftigt haben, waren ja die Komponist*innen noch ‚greifbar’. Waren Sie mit diesen in Kontakt?

Toro Pérez: Ja, wir haben alle nach Zürich eingeladen. Wir haben mit ihnen geprobt, haben sie gebeten, Vorträge zu halten und uns ihr Material zur Verfügung zu stellen, und dann die Aufführungen mit ihnen ausgearbeitet. Zum Teil sind so auch neue Versionen älterer Stücke entstanden, zum Beispiel von Marco Stroppas „…Of Silence“. Entscheidend war, genügend Zeit zu haben, so dass man sich tatsächlich mit der musikalischen Substanz tiefgreifend beschäftigen konnte, was in normalen Konzertsituationen selten der Fall ist.

nmz: Kann man den technischen Zustand, in den Sie die Stücke gebracht haben, nun für immer so konservieren oder muss man in 30, 40 Jahren wieder von vorne anfangen, weil sich technische Standards ändern?

Toro Pérez: Was Tonbandstücke oder fixe Medien betrifft, habe ich da überhaupt keine Bedenken. In vielen anderen Fällen werden diese Aktualisierungsprozesse aber weitergehen müssen. Deshalb haben wir unsere Arbeit auch in der online zugänglichen „Electroacoustic Performance Practice Database“ dokumentiert. Das sollte künftige Interpret*innen in die Lage versetzen, die spezifische Problematik dieser Stücke zu verstehen und Lösungen zu finden.

nmz: In dieser Datenbank sind im Moment um die 30 Werke dokumentiert, kommen noch welche dazu?

Toro Pérez: Es werden noch zirka zwölf hinzukommen, sodass am Ende alle Stücke, die wir im Rahmen des Projektes behandelt haben, in der Database enthalten sein werden.

nmz: Bei älteren Stücken haben Sie zum Teil das Zuspielmaterial auf einen modernen technischen Stand gebracht. Kann für künftige Aufführungen darauf zurückgegriffen werden?

Toro Pérez: Natürlich, es muss aber sichergestellt sein, dass es zunächst offiziell beim Verlag bestellt wird. Mit den Verlagen haben wir sehr eng zusammengearbeitet, weil sich im Zusammenhang mit dem Aufführungsmaterial natürlich immer wieder viele Fragen gestellt haben.

nmz: In der Reihe „Les Espaces Électro­acoustiques“ wurden drei CDs veröffentlicht. Wie ist hier die Planung?

Toro Pérez: Die CD-Reihe ist vorerst abgeschlossen. Natürlich gäbe es noch andere Aspekte in diesem Zusammenhang, die Frage der Improvisation etwa oder das Musiktheater. Aber uns ging es darum, bestimmte Grundfragen anhand einiger Werke zu behandeln und das ist uns gelungen, denke ich. Es wird noch ein Symposiumsband erscheinen, der weiteren wissenschaftlichen Output des Projekts dokumentiert.

nmz: Ihr Projekt war eines, das man der künstlerischen Forschung zuordnen kann. Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht?

Toro Pérez: Die Erfahrungen sind sehr positiv. Gerade dieses letzte Projekt ging davon aus, dass wir all diese Stücke wirklich im Konzert ausprobiert haben. Das heißt, ohne den praktischen Zugang hätten wir diese Forschung nicht machen können. Historische oder Systematische Musikwissenschaft geht anders an diese Fragen heran. Aber hier brauchen wir wirklich die Tontechnik und die Regie. Wir brauchen auch die Instrumentalist*innen, die das aus der Praxis heraus erarbeiten. Und das eröffnet natürlich auch andere Zugänge zur Forschung. Es ist eine Mischung aus Methoden und entsprechend sind die Ergebnisse auch vielfältig: Konzerte, CDs – also die neuen Mixes der Stücke –, aber auch Texte, Vorträge und Austausch im Sinne wissenschaftlicher Arbeit. Wichtig dabei ist, dass diese Inhalte dann auch in die Lehre einfließen.  

Institute for Computer Music and Sound Technology: https://www.zhdk.ch/forschung/icst

Electroacoustic Performance Practice Database: http://ppeam.zhdk.ch

CD-Veröffentlichungen:

„Les Espaces Électroacoustiques“, drei separate CDs mit Werken von Edgar Varèse, György Ligeti, Luciano Berio, Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, Kaija Saariaho, Georg Friedrich Haas u.a. (Col Legno)

 

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