Im Jahr 2012 nahm das Leben des 1968 in Paris geborenen Komponisten und Musikforschers Fabien Lévy eine jener überraschenden Wendungen, die für seine bisherige Laufbahn so typisch sind, aber für ihn als Künstler wie auch für das jeweilige professionelle Umfeld immer überaus fruchtbar waren. Er verlagerte seinen Lebensmittelpunkt aus New York nach Berlin, das ihm bereits seit einem DAAD-Stipendium 2001 bestens vertraut ist, und trat kurz darauf eine Kompositionsprofessur an der Hochschule für Musik in Detmold an.
Die gerade einmal 73.000 Einwohner zählende ehemalige Residenzstadt in Ostwestfalen-Lippe genießt – unter anderem als Standort eines Landestheaters und zweier Hochschulen – den Vorzug eines überaus reichen Kulturlebens, musikalisch vielleicht gekrönt durch die seit einigen Jahren stattfindenden „Hörfeste“ für Neue Musik. Die 1946 als Nordwestdeutsche Musikakademie gegründete, in einem Park campusartig angelegte Hochschule bietet unter ihren Dächern nicht nur die üblichen Studiengänge für eine klassisch orientierte Musikausbildung an, sondern beheimatet auch Institute wie das Zentrum für Musik- und Filminformatik (ZeMFI) sowie mit dem 1949 gegründeten Erich-Thienhaus-Institut die weltweit erste Ausbildungsstätte für Tonmeister. Damit, wie auch durch die enge Kooperation mit der benachbarten Hochschule Ostwestfalen-Lippe, einer „University of Applied Sciences“, wird ein wissenschaftlicher Schwerpunkt in die musikalische Ausbildung hineingetragen, der sich unter anderem in der Möglichkeit zeigt, einen Master of Science im Fach Musikalische Akustik zu erlangen.
Die inter- und multidisziplinären Möglichkeiten kamen dem diplomierten Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler, dem vielseitig ausgebildeten Komponisten und promovierten Musiktheoretiker Fabien Lévy wiederum sehr entgegen und wurden von ihm 2013 mit der Gründung des Epizentrums experimenteller Musik „Earquake“ (samt gleichnamigem Ensemble) sogleich auf eine nächste Ebene gehoben. Hier werden alle experimentellen Aktivitäten der Hochschule gebündelt, wobei Lévy dazu gleichermaßen die Bereiche Komposition, Interpretation, Improvisation, Klangforschung, Klangdesign, Klanginstallation, Musikinformatik, Live-Elektronik, aber auch Tonstudio- und Mikrofontechnik und musikalische Akustik zählt. Hinzu kommen die Aktivitäten weiterer Hochschul-Ensembles für Neue Musik und das technisch bestens ausgestattete Studio für elektroakustische Musik. Der Begriff des „Experimentellen“ liegt Lévy besonders am Herzen, da er für ihn eine entschieden offene Haltung verkörpert, mit der man über das allzu weit verbreitete, engstirnige Verteidigen eines eigenen Stils weit hinauskommt.
Studienstrukturen
Bei der Fülle möglicher Fächerkombinationen, die sich in dieser Konstellation eröffnen, ist es natürlich unerlässlich, die Studiengänge möglichst sinnvoll und klar zu strukturieren. Fabien Lévy beließ es nicht dabei, einfach „nur“ Komposition zu unterrichten, sondern nahm zunächst die Gesamtsituation ins Visier und baute sich auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse für seinen Unterricht im übergreifenden Sinne ein eigenes „Instrument“, das ihm gemeinsam mit seinen Studenten neue Wege eröffnet. So gibt es sowohl im Bachelor- wie im Masterstudiengang verschiedene Möglichkeiten, sich ein maßgeschneidertes Portfolio aus Spezialisierungen und Nebenfächern zusammenzustellen, alles vielfach und sinnvoll miteinander verknüpft und in enger Kooperation mit internen wie externen Partnern der Hochschule in die Praxis umgesetzt. Auf diese Weise werden, so Lévy, die Gefahren des Dilettantismus wie des Akademismus gleichermaßen vermieden. Auch über den Hochschulbetrieb hinaus stellt Lévy grundsätzliche Fragen: zur Verfasstheit des gesamten Musiklebens heute, zu den Begriffen „zeitgenössische Musik“ und „Kunst“ und welche Rollen diese in unserer Gesellschaft heute spielen und in Zukunft spielen könnten.
Fabien Lévy ist ein in vielerlei Hinsicht „geerdeter“ Komponist. Jenseits seiner prägenden Arbeit mit künstlerisch unerbittlichen Lehrern (hier ist vor allem Gérard Grisey zu nennen), seines kompositorischen und wissenschaftlichen Handwerks ist er mit wesentlichen Aspekten unserer Lebenswirklichkeit vertraut. Dies nicht nur im allgemeinen Sinne, sondern auch durch seine beruflichen Abstecher in die Volkswirtschaft, das Bankenwesen, die Wissenschaft, die Computertechnologie.
Wachheit der Sinne
Aufgrund der (selbst-)kritischen Haltung des Intellektuellen und der verinnerlichten Natur des unbestechlichen Wissenschaftlers kann er seine Stücke nicht so leicht „in die Freiheit entlassen“. Oftmals arbeitet er auch an bereits zur Aufführung gelangten Werken weiter, um diese zu perfektionieren. Bis Experimente zu annehmbaren Resultaten führen, beansprucht Lévy dabei mitunter mehr Zeit, als einem Werk heute in der Regel zugestanden wird. Entsprechend wenige Stücke haben seine Komponierwerkstatt bisher verlassen. Doch die „finalisierten“ Stücke haben es in der Regel „in sich“. Sie sind so gründlich gearbeitet, dass sich sowohl die Mühen des Komponisten als auch das Warten seiner Auftraggeber und Hörerschaft immer wieder gelohnt haben. Lévys Musik verkörpert auf intelligente Weise die Einladung (oder Aufforderung) zum Lauschen, Mitfühlen, Mitdenken, zur größtmöglichen Wachheit der Sinne und des Geistes, wofür er gerne auch überraschende Klangwirkungen einsetzt. Das Gesamtgewebe vieler seiner Ensemblewerke ist von den Musikern in raffiniert ineinander greifenden Stimmen aus unzähligen Einzelaktionen zusammenzusetzen. Dabei standen sowohl die Interlocking-Techniken afrikanischer Trommelkulturen als auch das aus dem europäischen Mittelalter stammende Hoketusprinzip Pate.
Diese von ihm auf weitere musikalische Parameter ausgeweiteten Techniken überträgt er immer wieder auch auf einzelne Instrumente, die dafür klanglich oder spieltechnisch in eine Vielzahl „virtueller“ Instrumente aufgespalten werden. In jüngster Zeit wendet Lévy sich zudem verstärkt einem differenzierten Raumklang zu, wofür er neben der Verteilung analoger Schallquellen im Raum auch elektroakustische Mittel nutzt. Diese stehen ihm (wie auch den Studenten) in Detmold auf ideale Weise zur Verfügung, etwa mit dem Wellenfeldsynthese-Studio sowie dem dazu passenden System mit zirka 400 im Raum verteilten Lautsprechern im Konzerthaus der Hochschule.