Das derzeit noch leer stehende Stuttgarter Wilhelmspalais – zuvor Stadtbibliothek, ab nächstem Jahr Stadtmuseum – war im vergangenen Oktober Ort zukunftsorientierter musikalischer Experimente. Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und ihre Lehrer brachten das Musiktheaterprojekt „Die drei Tode des Narziss“ zur Uraufführung: Fünf Miniopern unterschiedlicher Kompositionsstudenten wurden mit einem Großaufgebot an Beteiligten auf erfreulich professionellem Niveau in Szene gesetzt.
Im schwarzen Schotter zwischen weißen Säulen eines ehemaligen Lesesaales wälzt sich gerade der Gesangsstudent Hitosho Tomada als Narziss, nachdem er Echo alias Alessia Park schroff zurückgewiesen hat. „Da war kein Körper mehr“, flüstert das Orchester, das nur aus Bratsche, Flöte, Harfe und zwei Sopranen besteht. Narziss stirbt gerade den Tod der Selbsterkenntnis. Die Musik der chinesischen Komponistin Enen Song wirkt zerbrechlich wie ein Traumgespinst. Sie schrieb eine freie Raumpartitur ohne Taktstriche. Nun geht es darum, dass alle Stimmen trotzdem richtig ineinandergreifen, die menschlichen Organe ebenso wie die zarten, oft vage verglimmenden musikalischen Gesten der Instrumentalisten, die auch mit dem Gleichgewichthalten beschäftigt sind, weil sie auf angeschnallten Blöcken stehen und auch als Darsteller fungieren müssen. „Für alle musikalischen Einsätze braucht man einen Impuls von der Szene“, erklärt Regisseur Bernd Schmitt, „das erfordert eine engere Zusammenarbeit zwischen Instrumentalisten und Sängern als üblich“.
„Die drei Tode des Narziss“ war die erste große Produktion des „Studios für Stimmkunst und Neues Musiktheater“, das an der Stuttgarter Musikhochschule Anfang 2012 von den Gesangsprofessoren Angelika Luz und Frank Wörner sowie Bernd Schmitt (Dozent für szenischen Unterricht) neu gegründet wurde. Studierende sollen hier zukünftig die Möglichkeit haben, sich studienbegleitend intensiv auf die komplexen Anforderungen aktuell komponierter Musiktheaterwerke vorzubereiten: Sänger sollen moderne Stimm- und Darstellungstechniken beherrschen lernen, Instrumentalisten sich auch sprechend und darstellend in komplizierte musikalische Strukturen einfügen können, Kompositionsstudierende haben die Möglichkeit intensiver Beschäftigung mit dem Musiktheater.
Den Begriff „Stimmkunst“ hat man in den Namen des Studios ganz bewusst aufgenommen. Damit bezieht man Stellung. Denn anders als die Oper sind aktuelle Musiktheaterkompositionen nicht mehr unbedingt auf den Gesang hin konzipiert. Der spielt oft nur noch eine Nebenrolle in all den experimentellen Mischformen, in denen das Akustische auf sehr unterschiedliche Weise erzeugt und mit dem Bühnengeschehen verbunden werden kann. Menschen müssen dabei nicht mehr unbedingt auf der Bühne stehen, so manchem Komponisten genügt ein starres Bild oder eine Videoprojektion. Im neuen Studio für Stimmkunst und Neues Musiktheater ist das anders. „Wir setzen auf die Stimme als Ausdrucksträger“, erklärt Bernd Schmitt, „was auch eine Überwindung der Angst bedeutet, die die Generation Lachenmann und Schnebel noch empfand angesichts des Pathos, das der singende Mensch schon mal mitbringt, wenn er den Mund auftut. Da ist die heutige Generation unerschrockener. Sicher auch wegen des großen Abstands zum Nationalsozialismus“.
Das neue Studio ist deutschlandweit genauso einmalig wie die vor fünf Jahren an der Stuttgarter Musikhochschule eingerichtete Professur für Neue Vokalmusik, die Angelika Luz innehat, die im Master-Studiengang Neue Musik/Gesang gemeinsam mit ihrem Kollegen Frank Wörner derzeit sechs Sängerinnen und Sänger betreut. Bei den beiden Avantgardespezialisten kann man jene klangverfremdenden Stimmtechniken lernen, die im „normalen“ Belcanto-Gesang nie und in der gängigen Gesangsausbildung nur selten Beachtung finden: etwa das mikrointervallische Auffächern der Töne, geräuschhaft-kehlige Artikulationen, im Falsett oder einwärts zu singen oder „Multiphonics, verdreckte, verzerrte Klänge“ zu produzieren, erklärt Luz.
Überhaupt gehört die Stuttgarter Musikhochschule in Sachen Neuer Musik zu den führenden Ausbildungsstätten. Ein zeitgemäßes Alleinstellungsmerkmal: „Viele genießen, dass die Neue Musik so viele Freiheiten bietet“, sagt Luz, „ein großes Problem in der Medienflut unserer Zeit ist ja die Verfügbarkeit älterer Musik in unendlich vielen unterschiedlichen Versionen“. Der Weg, eine eigene Interpretation zu finden, sei da ganz schön verstellt. „Das ist bei Neuer Musik anders, man hat eine Partitur – im besten Fall eine noch nie aufgeführte – in einem originären, reinen Zustand vor sich: Und jetzt erfinde ich selbst, wie es klingen soll.“
Ziel des neuen Studios ist es auch, neue musikdramatische Ausdrucksformen zu erforschen, ob das die Sprach- und Textbehandlung betrifft, räumliche Aspekte oder den Einsatz moderner Vokaltechniken. Für die am „Narziss“-Projekt beteiligten Kompositionsstudenten hieß das: Sie konnten Ideen vorbringen und erarbeiteten dann zusammen mit Bernd Schmitt ihre Libretti. Während der Arbeit an der Partitur wurden sie dramaturgisch betreut und hatten die Möglichkeit, mit den Gesangssolisten zu probieren und auf diese Weise zu erfahren, welches Stimmmaterial ihnen zur Verfügung stand.
Das Ergebnis dieser hochexperimentellen Arbeitsphase konnte sich sehen lassen. Fünf sehr unterschiedliche Werke sind entstanden: Enen Song schrieb mit „Narziss und Echo“ eine zerbrechliche, unmittelbar berührende Raumpartitur. Koka Nikoladzes Vertonung von Franz Kafkas Türhüter-Parabel „Vor dem Gesetz“ setzte lustvoll auf Sprachzertrümmerung bis in die Atome, während Neil Thomas Smiths „Passive/Aggressive“ noch am stärksten an den traditionellen Gesetzen der Gesangsphrasierung und des dramaturgischen Spannungsaufbaus orientiert war. Dagegen verfremdete Remmy Canedo in seiner Unica-Zürn-Paraphrase „Dunkler Frühling“ Stimmen und Instrumente durch massiv eingesetzte Live-Elektronik, und Malte Giesen ließ sich in „Unicorn“ vom Computerprogramm „Cleverbot“ inspirieren, das durch Kommunikation mit Menschen erlernt, deren Unterhaltungen nachzuahmen.
Gesangsprofessor Frank Wörner erkennt im neuen Studio für die Studierenden wichtige berufliche Chancen, auch was die Vernetzung und das Kontakteschmieden in der Musikszene angeht, denn es sind Kooperationen mit anderen Hochschulen, mit Profi-Ensembles und regionalen und überregionalen Kulturinstitutionen geplant. „Fast alle Sänger arbeiten heute freiberuflich“, sagt er, „nur 10 Prozent haben ein festes Engagement. Alle anderen müssen gucken, wo sie bleiben“. Dennoch hat die Vernetzung, die Zusammenarbeit und der Austausch innerhalb der Hochschule natürlich oberste Priorität. Pro Jahr ist eine große Musiktheaterproduktion geplant, an der Studierende und Dozenten quer durch alle Fakultäten mitarbeiten. Daneben bietet das Studio ergänzend auch Seminare zur Vokalmusik der 20. Jahrhunderts und zur Opernkunde an. Finanziert wird das Studio für Stimmkunst und Neues Musiktheater zunächst über den Innovations- und Qualitätsfond des Landes Baden-Württemberg und der Landeshochschulen. Für drei Jahre werden über eine so genannte Anschubfinanzierung von insgesamt 420.000 Euro die Stellen und das Budget der Produktionen bezahlt. Danach muss die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart die Kosten selbst tragen.