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Es liegt was in der Luft

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Künstlerische Forschung – ein Entwicklungsthema mit Perspektive
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Manchmal liegen Themen in der Luft. Und dann wird es höchste Zeit sie aufzugreifen. Je eher, desto besser, sonst läuft man Gefahr, aktuelle Entwicklungen zu verschlafen. So ist das auch bei der künstlerischen Forschung. Überall taucht dieses Thema gerade auf. Der Vorstand der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen beschäftigt sich damit, aus anderen Kunsthochschulen kommen Anfragen, der europäische Musikhochschuldachverband AEC hat eine Arbeitsgruppe dazu eingerichtet und in vielen anderen europäischen Ländern wird intensiv daran gearbeitet. „DasArts“ in Amsterdam, das Orpheus-Institut in Belgien oder „DOCH“ in Stockholm – gerade mit großzügigen Finanzmitteln für artistic based research ausgestattet – sind Beispiele dafür.

Aber auch in Deutschland, zum Beispiel an der UdK in Berlin, im Studiengang „Szenisches Forschen“ in Bochum oder an der Hafencity Universität in Hamburg ist künstlerische Forschung an Hochschulen bereits institutionell verankert. Auch an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (HfMDK) gibt es schon lange künstlerische Forschung, nur wurde sie bisher so nicht benannt. Zwei Beispiele: Die historische Interpretationspraxis entwickelte ihre Spielpraxen unter Zuhilfenahme historischer Quellen vor allem durch die künstlerische Arbeit am und mit dem Instrument. Das ist künstlerische Forschung in Reinkultur. Auch das Projekt „Motion Bank“, initiiert durch William Forsythe, an dem die Tanzabteilung der HfMDK schon seit Jahren beteiligt ist, gehört zur künstlerischen Forschung. Hier wurden neue Notations- und Darstellungsformate für Choreographien entwickelt, was nur aus und gemeinsam mit der künstlerischen Praxis möglich war.

Günstige Rahmen bedingungen in Frankfurt

Grundsätzlich sind die Rahmenbedingungen für künstlerische Forschung an unserer Hochschule günstig. Frankfurt ist eine internationale und neugierige Stadt mit einer lebendigen Kunstszene, die zeitgenössischen Entwicklungen sehr offen gegenüber steht. Darüber hinaus ist die HfMDK selbst hervorragend mit den Kulturinstitutionen der Stadt und der Region vernetzt. Gerade die Vielfalt der Vernetzungen war und ist uns nach wie vor sehr wichtig, weil wir wissen, dass das unsere Ausbildung nur verbessert und wirklichkeitsnäher macht. Als Kunsthochschule sind wir kein Elfenbeinturm, sondern eine nach allen Seiten hin offene Hochschule: Wir bilden in der Gesellschaft und für die Gesellschaft aus, wir laden die Menschen ein, zu uns zu kommen und wir gehen auf die Menschen zu.

Künstlerische Forschung ist immer interdisziplinär. Darum bieten Netzwerke wie zum Beispiel die Hessische Theaterakademie, die Hessische Film- und Medienakademie oder das Frankfurt LAB ein ideales Umfeld für künstlerische Forschung.Gerade auch deshalb eröffnet die Entscheidung des hessischen Ministers für Wissenschaft und Kunst Boris Rhein und der Stadt Frankfurt für den Kulturcampus Frankfurt unserer Hochschule nicht nur baulich, sondern auch inhaltlich eine einzigartige Entwicklungschance – und damit gleichzeitig beste Voraussetzungen für den Ausbau der künstlerischen Forschung.

Die hessische Landesregierung hat entschieden, innerhalb der nächsten zehn Jahre mitten in der Stadt für uns eine neue Hochschule zu bauen. Diese soll eingebettet werden in ein Cluster renommierter Kultureinrichtungen. Auf dem so entstehenden Kulturcampus, dem zukünftigen Zentrum der zeitbasierten Künste mit Schwerpunkt auf dem zeitgenössischen Kunstschaffen, werden wir ein großartiges Umfeld finden: einerseits international renommierte Forschungseinrichtungen wie das Institut für Sozialforschung, das Senckenberg Naturmuseum, das Hindemith Institut und das Max Planck Institut; parallel werden sich hier hochkarätige künstlerische Ensembles wie das Ensemble Modern oder die Dresden Frankfurt Dance Company intensiv mit Fragen der künstlerischen Forschung beschäftigen.

Der verbindende Grundgedanke aller Partnerinstitutionen ist, dass auch auf künstlerischem Gebiet geforscht wird, dass auch dort durch systematische Beschäftigung mit Themen, die aus der künstlerischen Praxis erwachsen, Wissen generiert wird, das die Kunst weiterentwickelt.

Durch die Qualität seiner Partner wird dieser Campus international ausstrahlen. Für Hessens Hochschule für Musik, Theater und Tanz ist es eine Jahrhundertchance, die wir gerne mit beiden Händen ergreifen!

Hochschulinterne Arbeitsgruppe

Die HfMDK hat im Rahmen ihres anderthalbjährigen Leitbildprozesses die künstlerische Forschung als Entwicklungsthema hochschulweit etabliert, indem dieses vor knapp zwei Jahren prominent im einstimmig verabschiedeten Leitbild der Hochschule formuliert wurde: „Wir … schaffen Freiräume für Experimente, neue Arbeitsweisen und künstlerische Forschung.“

An anderer Stelle ist von „künstlerisch und wissenschaftlich aktiven Lehrenden“ die Rede sowie von der Verbindung von „Theorie und Praxis“. Und nicht zuletzt der Anspruch, dass wir als Hochschule „zeitgenössische Entwicklungen“ (in der Kunst) mitgestalten wollen, verweist auf die künstlerische Forschung.

Um zu konkretisieren, was die Hochschule unter künstlerischer Forschung versteht und wie sie diese verbindlich in ihre Struktur integrieren kann, wurde im April 2014 eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Prof. Marion Tiedtke mit Vertretern aller drei Fachbereiche (Prof. Rainer Römer, Prof. Catherine Vickers, Prof. Christopher Brandt, Prof. Gerhard Müller-Hornbach und Prof. Ingo Diehl) sowie dem Präsidenten Thomas Rietschel und Larissa Bischoff, der Fanti Baum nachfolgte, gegründet.

Es gab zehn intensive Arbeitstreffen. Auf der Grundlage einer nationalen und internationalen Recherche wurden in der Arbeitsgruppe eigene Maßstäbe und Kriterien für künstlerische Forschung an der HfMDK entwickelt. Die Ergebnisse wurden mit Experten diskutiert (Prof. Heiner Goebbels, Präsident der Hessischen Theaterakademie, Prof. Dr. Maria Spychiger, Professorin für Musikpädagogik an der HfMDK, und Dr. Melanie Wald-Fuhrmann vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik) und schließlich Anfang Mai 2015 auf einem Symposion mit externen Gästen zur Diskussion gestellt.

Acht Grundsätze zur künstlerischen Forschung

Aus diesen Bemühungen hat die Arbeitsgruppe acht Grundsätze zur künstlerischen Forschung an der HfMDK entwickelt. Diese Grundsätze versuchen zum einen, das Feld der künstlerischen Forschung zu definieren und es von benachbarten Feldern („klassische“ Forschung, künstlerische Praxis) abzugrenzen. Gleichzeitig lassen sich aus ihnen Kriterien zur Beurteilung von Vorhaben künstlerischer Forschung ableiten.

• Das Ziel künstlerischer Forschung ist die Erzeugung von neuem Wissen. Der Wissensbegriff ist dabei weit gefasst: Dazu gehört nicht nur sprachlich formuliertes Wissen, sondern auch ein Wissen, das Unbegriffliches und sinnliche Erfahrung einschließt (wie z.B. Körperwissen) oder nur in künstlerischen Formaten darstellbar ist. Dabei geht es immer um Wissen, das für die Entwicklung der Kunst und der Gesellschaft relevant ist.

• Künstlerische Forschung ist nicht gleich Kunst, aber sie geht aus der künstlerischen Praxis hervor. Künstlerische Arbeitsprozesse sind oft identisch mit künstlerischen Forschungsprozessen.
Künstlerische Forschung geht jedoch über das künstlerische Ergebnis hinaus. Nicht jedes Ergebnis künstlerischer Forschung ist Kunst, und nur ein Kunstwerk als Endergebnis künstlerischer Forschung wäre zu wenig. Künstlerische Forschung lässt sich in Form von Projekten beschreiben, die einer Evaluierung nach objektiven Kriterien zugänglich sind.

• Künstlerische Forschung braucht eine konkrete Fragestellung, die über die singuläre Ereignishaftigkeit der Kunst hinausweist. Mit der Fragestellung sind adäquate Methoden verknüpft, die experimentell sein können, aber doch allgemein nachvollziehbar sein müssen.

• Notwendige Grundlage jeder künstlerischen Forschung ist die künstlerische Praxis. Künstlerische Forschung forscht nicht über die künstlerische Praxis (wie z.B. die Musik- oder Theaterwissenschaft), sondern sie entsteht aus der künstlerischen Praxis. Aus ihr heraus entwickelt sie ihre jeweils eigenen Methoden für die Beantwortung ihrer Fragestellungen; dabei ist sie oft interdisziplinär.

• Künstlerische Forschung ist ein Prozess, der Theorie und Praxis verbindet. Künstlerische Forschung reflektiert ihre Fragestellungen, ihre Bedingungen und ihre Methoden vor dem Hintergrund aktueller theoretischer Diskurse. Sie verpflichtet sich den Prinzipien der Objektivität und ermöglicht so eine Evaluierung ihrer Ergebnisse.

• Künstlerische Forschung stellt sich dem Diskurs, indem sie ihre Fragestellungen, Bedingungen, Methoden und Ergebnisse offenlegt und zugänglich macht. So entwickelt sie eine eigene scientific community. Hier diskutiert sie ihre Ergebnisse und entwickelt ihre Methoden und Fragestellungen weiter.

• Die Ergebnisse künstlerischer Forschung wirken auf die künstlerische Praxis zurück. Da künstlerische Forschung sich der künstlerischen Praxis „von innen“ nähert und aus ihr ihre Kriterien, Fragestellungen und Methoden entwickelt, gibt sie in besonderem Maße Anregungen zur Weiterentwicklung der künstlerischen Praxis.

• Künstlerische Forschung befördert eine stets aktuelle und theoretisch fundierte Ausbildung im künstlerischen Bereich. Indem künstlerische Forschung neues Wissen über Kunst, ihre Grundlagen und Begrifflichkeiten schafft, gibt sie der Ausbildung neue Perspektiven und trägt damit zu ihrer Weiterentwicklung bei. Die Teilhabe an künstlerischen Forschungsprozessen verhilft den Studierenden zu einem tieferen Verständnis der Grundlagen ihres Fachs.

Diese Grundsätze sind ein Zwischenergebnis. Sie bedürfen noch der Schärfung und der weiteren Diskussion. Dieser Diskussion dient auch die aktuelle Themenausgabe unserer Hochschulzeitung, in der wir aktuelle Forschungsvorhaben vorstellen und Angehörige der Hochschule sowie Expertinnen und Experten von außen ihre Sichtweise auf die künstlerische Forschung darstellen. Dabei sind noch viele Fragen offen geblieben, aber wir haben uns auf den Weg gemacht.

Thomas Rietschel, Präsident der HfMDK

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