Seit nunmehr einem Jahr findet der Unterrichtsbetrieb an deutschen Musikhochschulen unter erschwerten Bedingungen statt. Ein großer Teil der theoretischen Pflichtfächer wurde in den digitalen Raum verlagert, der Hauptfachunterricht konnte in vielen Fällen nur eingeschränkt in Präsenz erfolgen, die für das Studium essentiellen Kammermusik-, Ensemble- oder Musiktheaterprojekte mussten größtenteils ausgesetzt werden, und Abschlusskonzerte finden – wenn überhaupt – vor fast leeren Stuhlreihen statt. Dies hat gravierende Folgen für die Absolvent*innen sowie für all jene, die kurz vor ihren Abschlüssen stehen.
In Gesprächen an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin zeigt sich, wie einschneidend sich die Pandemie auf individuelle Lebensentwürfe auswirkt und wie wenig eine allein auf künstlerische Exzellenz bedachte Ausbildung den zahlreichen existentiellen Problemen bislang entgegenzusetzen hat.
Die vielfältigen Auswirkungen der zurückliegenden zwölf Monate auf die Kultur werden immer sichtbarer. Das Konzertleben ist – nach kurzer sommerlicher Atempause – in der herkömmlichen Form von Live-Darbietungen völlig zum Erliegen gekommen und hat damit auch die Karriereplanungen massiv in Bedrängnis gebracht. Dies macht beispielsweise die Sopranistin Janina Staub deutlich, die ihr Gesangsstudium 2019 abgeschlossen hat und derzeit im Opernstudio am Theater Freiburg engagiert ist. 2020 sei sie bereits recht gut gebucht gewesen, als die Pandemie all ihre Planungen zunichte machte. Sie ist froh über das Opernstudio-Engagement und nutzt die Zeit zum Üben: „Im Moment finden gar keine Opern-Proben statt, seit Dezember hatte ich insgesamt zweieinhalb Wochen Proben, demnächst soll wieder begonnen werden.“
Aufgrund der Pandemie habe sie vom Theater sogar eine Vertragsverlängerung um ein Jahr bekommen. So hofft die Sängerin, am Ende von den Erfahrungen einer vollständigen, normalen Spielzeit im Ensemble profitieren zu können. Bewerbungen seien wenn überhaupt nur möglich, weil sämtliche Produktionen abgesagt oder verschoben wurden. Solche Situationen verstärken die Unsicherheit unter den Absolvent*innen, weil es kaum verbindliche Zusagen oder Verträge gibt. Der Zwiespalt zwischen der Leidenschaft für die Musik und den Zweifeln wächst, wenn manche Freunde sie fragen, warum sie ihre Karrierepläne überhaupt noch verfolgt. „Aber soll ich deshalb Musik jetzt nur noch als ein Hobby betreiben?“
Ein Jahr ohne Probespiele
Die tschechische Fagottistin Michaela Špacková sollte ihr Master-Studium bereits im Wintersemester abschließen, hat aber ein zusätzliches „Corona-Semester“ eingeschoben, um die Ensemblearbeit nachholen zu können. Ihren Instrumentalunterricht hat sie bis Anfang Februar in Präsenz und dann per Video-Austausch erhalten. „Für eine kurze Zeit geht das, aber für Probespiel-Vorbereitungen brauchen wir unbedingt die Präsenz, weil es oft um feine Klangnuancen geht, die sich über Online-Unterricht nicht mitteilen lassen.“ Auch der enorme Konkurrenzdruck, der auf jungen Musiker*innen bereits in normalen Zeiten lastet, wird sich nach einem Jahr ohne Probespiele bei den deutschen Orchestern durch den verstärkten Ansturm mehrerer Jahrgänge verschärfen.
Hinzu kommen finanzielle Probleme: Im Dezember 2020 hatte die Fagottistin noch Hoffnung, aber nun wurden auch für 2021 sämtliche Auftritte abgesagt oder ins Ungewisse verschoben. Als Berufseinsteigerin am Ende ihres Studiums kann sie nichts richtig planen, viele Engagements werden nicht mehr bestätigt. Die fehlende Perspektive ist für die 27-Jährige fatal. Dieser Tage hat Michaela Špacková eine Zusage für einen Minijob im Supermarkt erhalten, das Geld wird allerdings nicht für den Lebensunterhalt reichen. Ihre Ersparnisse sind aufgebraucht, ihre Familie in Tschechien kann sie nicht unterstützen. Ihr Deutschlandstipendium wurde glücklicherweise verlängert, und für März erhält sie einen Zuschuss vom Förderverein der Hochschule. Špacková frage sich, ob sie sich nicht einen zweiten Beruf zur finanziellen Absicherung zulegen sollte, etwas „Stabileres“ als die Musik, die eine der größten Leidenschaften in ihrem Leben ist. „Ein Jahr mit Corona ist vergangen, und ich frage mich im Moment jeden Tag: Was kommt danach? Was bedeuten Kunst und Musik für die Gesellschaft? Was bedeuten sie für mich?“
Die Frage nach den Perspektiven künstlerischer Tätigkeit treibt auch jene Studierenden um, die erst am Ende ihres Bachelor-Studiums stehen. Die Geigerin Julia Smirnova lebt und studiert seit fünf Jahren in Berlin. Bis vor Kurzem war die 23-Jährige Mitglied des von Teodor Currentzis geleiteten Orchesters musicAeterna in St. Petersburg. Durch die Reisebeschränkungen musste die Geigerin ihren Vertrag mit dem privat finanzierten Orchester kündigen, Flugtickets wurden zu teuer für regelmäßige Reisen nach Russland. Sie konzentriert sich nun stärker auf ihr Studium und nutzt die Zeit, um ihr solistisches Repertoire auszuarbeiten und sich auf einen Wettbewerb vorzubereiten.
Der regelmäßige Präsenzunterricht bei ihrem Professor gäbe ihr psychischen Halt, berichtet sie. Manche Studierenden bekämen weniger Hauptfachunterricht – sei es aufgrund der Ansteckungsrisiken oder weil Lehrende und Studierende nicht in Berlin sein können. Manche würden nur für sich selbst üben und sich immer schwerer motivieren. Als einen Lichtblick empfand Smirnova das Klangwerkstatt-Festival, bei dem sie mit ihrem New Classic Duo in einem Live-Stream spielte. Es sei erfreulich, dass es Veranstalter gibt, die noch Gagen zahlen. Die finanzielle Situation der Geigerin sei jedoch trotz diverser Hilfsprogramme alles andere als rosig und ihre Ersparnisse aufgebraucht. Die Unsicherheit fühle sich schlimm an und natürlich sehnt sie sich danach, wieder Musik mit dem Publikum zu teilen, denn „Live-Klang hat Aura.“
Auch dem Pianisten Joosang Kim, der sein Bachelor-Studium im Sommersemester abschließt, fehlt der persönliche Kontakt der Live-Situation: Mit dem verschärften Lockdown fand sein Unterricht seit Jahresbeginn nur noch online statt. Er lädt Aufnahmen auf einen nicht gelisteten YouTube-Kanal und bespricht sie per Videokonferenz mit seinem Lehrer. Ein positiver Aspekt sei, dass er sich bei den Video- und Tonaufnahmen eine Menge technischer Fähigkeiten angeeignet habe. Dennoch könnten nicht alle Möglichkeiten des Instruments ausgeschöpft werden: „Ich habe lieber Präsenzunterricht, weil Musik mit Onlineunterricht nicht vollständig verstanden werden kann, Klang und Resonanzen des Instruments sich immer ein bisschen gleich anhören.“ Seine Freunde sieht der Südkoreaner wenig, zum Üben geht er täglich in die Hochschule und ist froh, dass dies im Lockdown ermöglicht wurde. Auch er fragt sich, wie seine Zukunft aussehen wird: „Ich habe Zeit über vieles nachzudenken. Wer bin ich, was möchte ich tun? Und ich höre mir außerhalb der Musikhochschule philosophische Vorlesungen an.“
Blick in die Zukunft
Die vergangenen Monate haben zum intensiven Durchdenken und teilweise zur Neubewertung der Berufsperspektiven geführt. Dustin Zorn, Master-Student in Komposition und Elektroakustischer Musik, sieht seinem Abschluss mit gemischten Gefühlen entgegen. Im vergangenen Jahr habe er kaum öffentlichkeitswirksame Aufführungen eigener Kompositionen gehabt, sie wurden lediglich gestreamt: „Da mir die Publikumsresonanz fehlt, kann ich überhaupt nicht einschätzen, wo ich derzeit stehe. Es gibt keinen Input, keinen Austausch, keine Überprüfung von dem, was man schreibt, weil es keine Live-Konzerte gibt.“
Über seine beruflichen Perspektiven denkt der Komponist viel nach. Der Anschluss an ein Ensemble oder vergleichbare Kontakte scheinen ihm extrem wichtig. Er würde nicht ausschließlich als Komponist agieren, sondern auch Live-Elektronik bei Konzerten betreuen. Je besser das Netzwerk desto größer sei die Chance, eine Krise zu überstehen. Darüber hinaus würde er nach Möglichkeit Unterricht erteilen, denn es sei wichtig, seine Aktivitäten breit aufzufächern: „Das Kerngeschäft sollte Komposition sein. Aber ich bin Realist genug: Ich brauche irgendetwas, um meine Miete zu bezahlen, sodass ich nicht nur davon abhängig bin.“
Breitere Kompetenzen fördern den positiven Blick in die Zukunft, das zeigt auch das Gespräch mit der Sopranistin Frieda Jolande Barck. Ihre Absicht, das Masterstudium als Übergang in den Berufsalltag zu nutzen, sei nur halbwegs aufgegangen. Im vergangenen Jahr, so berichtet sie, habe sie schätzungsweise 8.000 Euro durch abgesagte Auftritte eingebüßt, obgleich sie davon ausgegangen sei, sich während dieser Zeit zum ersten Mal durch ihre Konzerte finanzieren zu können. Es ließe sich schwer einschätzen, ob Leben und Miete allein durch künstlerische Einnahmen finanzierbar seien. Sie blicke jedoch positiv auf ihr freiberufliches Leben nach dem Abschluss. Denn die künstlerische Tätigkeit ist nicht ihre einzige Einkommensquelle, sie arbeitet am Bach-Gymnasium als Assistentin des künstlerischen Leiters. „Ich war nie in finanzieller Not, weil ich dieses Standbein bereits vor der Krise organisiert hatte.“ Allerdings sei während der vergangenen Monate die Motivation ein großes Problem gewesen: „Energie ist zum Singen unglaublich wichtig. Diese zu erzeugen ist schwer, wenn man immer nur allein probt und konkrete Ziele fehlen. Der eigentliche Grund, warum wir üben, ist ja, um am Ende Musik mit Anderen zu teilen.“
Hört man sich unter angehenden und frisch gebackenen Absolvent*innen um, so zeigt sich generell, dass, wer allein auf künstlerische Fähigkeiten vertraut, sich aktuell mit gravierenden Problemen konfrontiert sieht. Um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, sollten Hochschulen und Studierende alternativen künstlerischen Wegen und Karrieren gegenüber offen sein, verbunden mit entsprechend vielfältigen Studienangeboten. Vielleicht werden in Zukunft dadurch künstlerische Karrieren planbarer.