Ihr beeindruckender Lebenslauf liest sich wie ein Who is Who der Musikszene: Die spanische Barockviolinistin Lina Tur Bonet ist als Solistin, Ensemblespielerin und -leiterin sowie Pädagogin außer in ihrem Schwerpunkt der Alten Musik und deren Aufführungspraxis auch mit Musikepochen bis hin zur Moderne vertraut. Nach Professuren in Zaragoza und Madrid wurde sie zur neuen Professorin für Barockvioline und Barockviola am Institut für Alte Musik der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar berufen. Jan Kreyßig sprach mit der Geigerin über ihre Karriere, ihre künstlerischen Überzeugungen und pädagogischen Intentionen.
Frau Tur Bonet, welche Konzerte beziehungsweise Projekte waren für Sie künstlerische Schlüsselerlebnisse?
Es gibt beim Musizieren viele Erlebnisse, die uns auf die eine oder andere Weise verändern. Unsere Vivaldi-Aufnahmen haben uns viele Türen geöffnet. Sämtliche Rosenkranzsonaten von Biber live zu spielen war ein Erlebnis von großer Intensität: Dabei wurden meine körperlichen Grenzen als Interpretin „geprüft“. Corellis Violinsonaten op. 5 aufzunehmen und selbst zu verzieren hat mich künstlerisch verändert, Corelli ist ein sehr guter Lehrer! Die Aufführung sämtlicher Solowerke von Bach war eines meiner wichtigsten künstlerischen Schlüsselerlebnisse, da ich meine große Hochachtung vor dem größten Genie entfalten konnte. Ein Orchester-Projekt mit John Eliot Gardiner mit Musik von Schumann öffnete mir die Augen für die „historische“ Romantik. Und ich durfte einmal mit Joachim Kühn Freejazz improvisieren und habe dabei ein neues Hören und Kommunizieren gelernt. Mit MUSIca ALcheMIca habe ich mich bei der Aufnahme unserer CD „La Bellezza“ in Rom mit Musik des 17. Jahrhunderts wie in einer Jam Session gefühlt. Ich habe eine besondere Schwäche für das Repertoire des 17. Jahrhunderts. Dabei fühle ich eine enorme Affinität zur Kreativität, zum Mut und zur Experimentierfreudigkeit des Momentes. Einmal habe ich etwas ganz Besonderes erlebt: Bei einer Generalprobe von Corellis „Follia“ in einer Kirche beobachteten uns einige Besucher und am Ende applaudierten sie lange. Es war eine Gruppe von tauben Leuten. Aber sie kamen trotzdem ins Konzert und waren begeistert … Da wurde mir klar, dass Musik nicht nur Klang ist, sondern auch viel Energie. Musik geht auch über den Klang hinaus …
Was fasziniert Sie persönlich an der sogenannten Alten Musik?
Die Art, diese Musik direkt aus Manuskripten zu lesen, als wären es Briefe, die uns jemand vor langer Zeit hinterlassen hat – diese Zeitreise inspiriert mich. Die Alte Musik erfordert Forschung und Kenntnisse, aber dann lässt sie Raum für Freiheit. Das ist eine Kombination, die enorme Lebendigkeit ausstrahlt. Musik ist eng mit den universellsten Emotionen verbunden, wie es die Seconda Prattica beabsichtigt. Sie ist auch mit dem jeweiligen Land, mit der Natur und der menschlichen Selbstverständlichkeit von Tanz und Gesang sehr verankert. Ich genieße das Gefühl, mit diesen früheren Zeiten in Kontakt zu sein und irgendwie das Beste davon in unseren stressigen und avantgardistischen Zeitgeist mitzunehmen; eine gewisse Sehnsucht nach etwas, was ich nicht erlebt habe.
Wie sind Sie zur Alten Musik und zur Barockvioline gekommen?
… weil ich gemerkt habe, dass ich Bach nicht so weiterspielen konnte, wie ich es gelernt hatte. Doch als ich einen Barockbogen und eine Barockgeige in den Händen hatte, war mir innerhalb von einer Stunde klar, dass plötzlich etwas sehr Tiefes und Wichtiges in mir erwachte. Und ich war Feuer und Flamme das Repertoire des 17. Jahrhunderts zu entdecken, für immer. Mein erstes Projekt mit der Barockgeige war die Mitwirkung bei einer Johannespassion von Bach, und da verstand ich, dass es kein Zurück mehr für mich geben würde. Ich habe am Anfang viel im Gambenconsort mitgespielt – das war sehr wichtig für mich, für alles was ich daraus lernte.
Was hat Sie dazu motiviert, sich auf die Professur in Weimar zu bewerben?
Ich habe in Deutschland und Wien studiert und dann auch dort gelebt, insgesamt zwölf Jahre. Es gibt etwas Kulturelles, das mich an der deutschen Tradition fasziniert. Ich mag auch deutsches Repertoire und Literatur sehr. Ich wusste, dass es in Weimar ein interessantes Institut für Alte Musik mit sehr guten Professor*innen gibt; also dachte ich, es wäre eine wirklich gute Gruppe, mit der man arbeiten könnte. Weimar als Stadt ist ein unglaublich inspirierender Ort, sowohl kulturell als auch musikalisch, ein wunderbarer Rahmen für eine solche Aufgabe. Es ist für mich eine Ehre, jetzt dabei zu sein, und ich nehme es mit großer Freude, Leidenschaft und Begeisterung. Auch die Aussicht, wieder in Deutschland zu leben, bereitet mir persönlich große Freude.
Sie spielen verschiedene verwandte Instrumente, wie Barockvioline, Barockviola, Viola d‘amore: Wie beeinflussen diese die Ausbildung der Studierenden?
Ich denke, die Instrumente sind etwas Lebendiges und sie geben uns viele Informationen, die wir sonst nirgendwo bekommen können. Je älter eine Tradition ist, desto idiomatischer und natürlicher ist sie, meiner Meinung nach. Daher gibt es viel zu erforschen und zu studieren, aber die bloße Erfahrung, die richtigen Werkzeuge in unseren Händen zu haben, ist etwas, das uns keine andere Information geben kann.
Sie haben reichhaltige pädagogische Erfahrungen: Was ist Ihnen in der Lehre besonders wichtig?
Ich glaube, dass Unterricht ein Fenster (oder besser eine Tür) öffnen muss, wo zuvor eine Wand war. Die Student-Professor-Beziehung ist eine der engsten, die ich kenne. Ein Lehrer, der beobachten kann (und will), kann Dinge sehen, die nur wenige erkennen. Durch die Musik drücken wir uns am stärksten aus – daher diese „intime“ Beziehung im Violinunterricht, wo wir neue Dinge lernen, aber auch gemeinsam an unseren Schwächen arbeiten, um uns zu verbessern. Einen Studierenden bei der Entfaltung seiner künstlerischen Persönlichkeit zu begleiten ist faszinierend und auch eine große Verantwortung. Als Professor*innen müssen wir den Studierenden objektive Informationen geben und vor allem Kriterien vermitteln, um ihre eigene Interpretation zu finden und auch unnötige Dogmen zu vermeiden. Je mehr der Studierende weiß, je mehr Traktate er gelesen hat, desto weniger Dogmen und desto interessantere Fragen und Inspirationen wird er haben. Und jeder lernt anders: Es gibt einige, die körperlicher, andere, die emotionaler, andere, die intellektueller sind ...
Einige brauchen Erklärungen, andere ein Vorspiel. Ich persönlich arbeite viel mit dem Körper für Klang und Technik, mit dem Intellekt für Stilrichtungen und Gestaltung und mit den Emotionen für die notwendigen Kommunikationsfähigkeiten, die jeder Musiker haben muss. Insbesondere bei der Alten Musik sind die Beziehungen zum Vokalen, zur Rhetorik und zum Tanz wichtig.
Vielen Dank für das Gespräch!