„An der Musikhochschule Lübeck (MHL) sind die Strukturen durchlässig“, sagt Bernd Ruf, der dort als Professor für Popularmusik lehrt. „Es findet Verzahnung zwischen klassischer und populärer Ausbildung statt.“ Künstlerische Bilanzen dieser Interdisziplinarität und Vernetzung der Sparten sind öffentliche Revuen, die unter der Ägide von Bernd Ruf zum Abschluss jedes Sommersemesters stattfinden. Sie sind jeweils einem bestimmten Sujet zugeordnet.
Aktuell wurde ein in Deutschland weithin bekanntes TV-Format − das Sportstudio − als Kulisse und Konzept inklusive Torwand und Erkennungsmelodie adaptiert, um an der MHL einen Pop-Revue-Film zu produzieren. Hinter den typischen Stehtischen kündigen Sarah Sieprath (Netzer) und Hilko Engberts (Delling), Studierende im Bereich „Musik vermitteln“, die Videoclips zu verschiedenen Klang-Disziplinen an. Und los geht’s mit manchmal satirischem, manchmal flapsigem, allerdings immer professionellem Schwung ins musikalische Sportvergnügen. Ihre Studio-Moderation im Rollen-Tandem (der oben in Parenthese genannten Echt-Kommentatoren) ist nicht nur modern telegen, sondern auch animierend, auch wegen der kurzen Aerobic-Übungen zum Mitmachen fürs Publikum draußen und drinnen. Weil die Revue im Kontext von Olympia und der Fußball-Europameisterschaft 2020 entstanden ist, drehen sich die meisten Episoden um diese Ereignisse. Und Ruf kann voller Zuversicht als Bundestrainer Löw im badischen Dialekt sagen: „Den Titel ham wir quasi schon in de Dasch.“
Ursprünglich war für das „Sportstudio“, wie bei den MHL-Revuen üblich, 2020 eine große Live-Show geplant. Aufgrund von Corona-Restriktionen wurde eine Umorientierung notwendig: So wurde die Revue in Kooperation mit und in den Räumen der Gollan-Kulturwerft Lübeck stattdessen aufgezeichnet. Verbunden mit dem glücklichen Umstand, dass durch das Videoformat eine zusätzliche ästhetische Komponente und unter anderem durch die Anwendung von Schnitt- und Überblendtechniken eine zuvor unberücksichtigte Dimension interdisziplinärer Studienpraxis zur Geltung kommt. So ploppen nach Anpfiff des erwähnten fiktiven Fußballduells Deutschland/San Marino Einzelbilder der Sängerinnen und Sänger des MHL-Pops-Chores auf, die Hymne der UEFA Champions League interpretierend, während im Monitorzentrum zwei kickende Teams zu sehen sind. Nun werden Sportereignisse nicht nur von Musik begleitet, sondern auch, etwa für die Schachpartie auf einem Gartenschachgelände, als klassisches Menuett-Ballett in klingender Kinetik inszeniert. Im eigens vom Boxclub Lübeck zur Verfügung gestellten Boxring wird laut deklamierend für einen spektakulären Kampf geworben, aber die Akteure sind Pianisten. Ihr Duell an zwei Klavieren, angefeuert vom Song „Eye of the Tiger“, ist eine Folge sehens- und hörenswerter Tastenakrobatik, die in schnell wechselnden Kameraperspektiven, gemäß dem Tempo der Musik, sequenziert wurde, ebenso wie der Außendreh mit Rap vor dem Holstentor. Für die Intermezzo-Momente ist die MHL-Studioband zuständig, die swingend und gut gelaunt die Szenen mit knackigen Sounds verknüpft.
Das MHL-Sportstudio ist insofern exzeptionell, als erstmals ein Sujet für digital-audiovisuelle Kommunikation vorbereitet, entwickelt und präsentiert wurde. Dabei arbeiteten circa 70 Studierende nicht nur in den Planungsgruppen für die Revue mit, sondern sie produzierten die Video- und Tonaufnahmen, arrangierten auch die Songs aus den Genres Pop, Jazz und Musical selbst, leiteten die Proben und dirigierten sogar. Außerdem organisierten sie die notwendigen Requisiten und verfassten das Skript, aus dem sich Rollen und Kostüme ergaben, kurzum: Sie übernahmen eine große Verantwortung. Dennoch: stets werden diese Aktivitäten von Bernd Ruf begleitet und beratend unterstützt, damit sich optimaler Lerneffekt einstellen kann. Seine Aufgaben und die Charakteristika des doch ziemlich großen Studierenden-Kollektivs beschreibt er so: „Ich habe das Vergnügen, die jeweils interdisziplinären Programme insgesamt betreuen zu dürfen. Dabei stehe ich als Mentor zur Verfügung, der die Prozesse des Projektmanagements von der ersten Idee über die Realisierung bis hin zur Reflexion moderiert.“ Erfahrungen in Team- und Kreativarbeit, gruppendynamische Konfliktlösungen, sowie Entwicklung und Übung konkreter Anwendungsmöglichkeiten für die spätere Praxis als Musikvermittler*innen sind für die Studierenden von Bedeutung, denn was sie machen, ist analog zu den Instanzen in einem Theaterbetrieb zu sehen: Künstlerisches Betriebsbüro, Dramaturgie, Regie, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und auch Budgetverwaltung kommen da zusammen. Der Leitgedanke ist, mit den vorhandenen Ressourcen das maximal Mögliche zu gestalten, womit sowohl die zur Verfügung stehenden materiellen Mittel als auch das individuelle Potenzial der beteiligten Personen gemeint sind. „Dieser Anspruch lässt sich nur in einer Umgebung realisieren, die ohne äußeren Stress und Druck freie und intuitive Gestaltung zulässt und fördert. Die Studierenden haben sich diesen Aufgaben mit unglaublich hohem Engagement und Esprit und voller Leidenschaft gewidmet“, freut sich Bernd Ruf.
Ein Schwenk vom Beobachter zu den Akteuren Sarah Sieprath und Hilko Engberts, die berichten, wie sie die Aneignung, die Proben und die Darstellung ihrer Moderation erlebten: „Wir haben vom studentischen Team einige Wochen vor dem Drehtermin Moderationstexte bekommen und diese nach unseren Vorstellungen ergänzt und auswendig gelernt. Dabei haben wir uns vom echten Sportstudio inspirieren lassen. Zusammen haben wir intensiv geprobt und viele Details erarbeitet. Unser Part wurde innerhalb eines Tages in der Gollan-Kulturwerft aufgezeichnet. Am schönsten war es, die gemeinsame Zeit während des ansonsten trüben Lockdowns erleben zu dürfen, wobei natürlich ein entsprechendes Hygienekonzept und tägliche Tests notwendig waren. Es war ein tolles Gefühl, selbst vor der Kamera zu stehen. Insgesamt konnten wir als zukünftige Lehrer*innen etwas über Projektmanagement, Aufnahmetechnik und Postproduktion der Songs lernen und somit Kenntnisse erwerben, die für den späteren Musikunterricht nützlich sind.“
Die Anerkennung, eine hervorragende Filmdramaturgie sportiven Musikwettkampfs produziert zu haben, hat Bestand. Resümierend meint MHL-Präsident Prof. Rico Gubler: „Die Revue ist das wichtigste Aushängeschild für Popularmusik an der MHL. Wir können hier sicher ein sogenanntes Best-Practice-Modell anbieten, etwa in der Hinsicht, dass die Lernergebnisse aus verschiedenen Lehrveranstaltungen in eine Präsentation münden und somit übergreifend zum Einsatz kommen und geprüft werden.“ Mit dem Film steht unter dem Titel „MHL-Sportstudio“ im Youtube Kanal der MHL nunmehr ein Musik-Medium zur Verfügung, das über die Dokumentation einer Semesterbilanz hinaus überregionale Wirkung und Modellfunktion haben kann.