Über zehn Werke einstudieren, vier verschiedene Klangkörper leiten, und das an vier Tagen: Die Teilnehmenden der Dirigier-Masterclass „Campus Dirigieren“ mussten eine enorme Vielseitigkeit und Flexibilität beweisen. „Sehr vielfältig und voll gepackt“, sei das Programm gewesen, berichtet etwa Young-Mook Hwang, der an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) im Fach Dirigieren studiert.
Er besuchte mit 35 weiteren angehenden Dirigent*innen vom 18. bis 21. November 2021 den Workshop an der HfMDK in Frankfurt am Main. 18 deutsche Musikhochschulen hatten jeweils zwei ihrer Studierenden geschickt. In einer zweiten Runde Ende Januar 2022 findet ein Wettbewerb an der Hochschule für Musik und Tanz Köln statt, bei dem zwölf Teilnehmer*innen gegeneinander antreten. „Campus Dirigieren“ wurde 2018 von der Arbeitsgemeinschaft der Dirigierprofessoren der deutschen Musikhochschulen ins Leben gerufen und fand 2021 zum zweiten Mal statt. Das Hybrid-Format folgte auf den abgesetzten Hochschulwettbewerb Dirigieren. „Wir wollten weiterhin einen Niveauvergleich für die deutschen Hochschulen haben und gleichzeitig die Studierenden motivieren“, erzählt Prof. Vassilis Christopoulos, der Leiter der Dirigierausbildung an der Frankfurter Musikhochschule. Vor allem aber sollten die Studierenden mehr Praxiserfahrung sammeln können. In Frankfurt teilten sich deshalb die Studierenden in Gruppen auf, die jeden Tag ein anderes Modul besuchten: Jeweils zwei Mentoren unterrichteten in den Bereichen Symphonik, Neue Musik, Alte Musik und Musiktheater. Die Studierenden mussten zuvor die Werke vorbereiten und hatten dann jeweils 15 Minuten Zeit, mit den Ensembles zu proben und Feedback der Professoren zu erhalten. So lernten die angehenden Dirigent*innen nicht nur verschiedene Dirigierstile kennen, sondern auch die unterschiedlichen Schwerpunkte der einzelnen Lehrenden.
Anhand von Strawinskys „Feuervogel“ diskutierten die Professoren für Symphonik Fragen der Probentechnik: Wie schaffe ich es, dass das Orchester nicht frustriert wird, wenn eine Stelle einfach nicht klappen will? Wann unterbreche ich und wann lasse ich die Musiker*innen einfach mal spielen? „Versprechen Sie nie, dass es das letzte Mal ist“, wird von den Professoren geraten, „das können Sie nicht einhalten“.
Einen Saal weiter tagt die Neue Musik mit den Musiker*innen der Internationalen Ensemble Modern Akademie und probt Nina Šenks Baca II. An der Frage, ob lieber Achtel oder Viertel geschlagen werden sollen, entspinnt sich eine Diskussion über Sicherheit in der Musik. „Sie wollen Freiheit kontrollieren – das wird nichts!“, lautet der Ratschlag der Mentoren. Sie ermuntern immer wieder, das bloße Taktschlagen zu überwinden und den Musiker*innen mehr gestalterischen Raum zu lassen.
Bei der Alten Musik wurde ebenfalls viel diskutiert. Am Vormittag haben sie zwei Stunden lang über Kadenzen bei Georg-Friedrich Händel gesprochen und historische Traktate gelesen, berichtet die Gruppe in einer Pause. Für einige war das eine neue Perspektive auf die Probenarbeit. Als dann Sängerin und Musiker*innen für die Probe eines Rezitativs aus Reinhard Keisers Oper „Octavia“ erscheinen, wird über unterschiedliche Instrumentierungsmöglichkeiten gesprochen. Anders als beim großen Orchester diskutieren hier die Musiker*innen intensiv mit; es wird viel ausprobiert und experimentiert.
„Diese Vielfalt ist wirklich toll“, erzählen die Studierenden. In ihrer regulären Dirigierausbildung gebe es nicht die Möglichkeit, so viele unterschiedliche Stile kennenzulernen. „Meistens studieren wir nur mit unserem Dirigierprofessor an der Hochschule“, so Young-Mook Hwang. „Dirigieren lernt man in der Praxis! Aber es gibt nur sehr selten die Möglichkeit in der Ausbildung, mit so vielen Ensembles zu proben“, bestätigt Prof. Vassilis Christopoulos. „Es gibt zwar auch private Meisterklassen, aber die kosten Geld. Das können sich natürlich nicht alle Studierenden leisten.“ Auch für die Professoren selbst sei das Format sehr spannend: „Wann kommen wir schon einmal mit so vielen Kollegen zusammen? Dirigent sein ist ein einsamer Beruf.“ In Frankfurt wurden die Module extra zeitversetzt geplant, damit die Professoren bei ihren Kollegen einen Blick in den Workshop werfen können.
Auch die Studierenden lernten sehr viel durch den Austausch untereinander. „Das war fast das Spannendste an der Masterclass“, meint Young-Mook Hwang. „Ich konnte sehen, wie die anderen das gleiche Werk angehen — das war zum Teil wirklich sehr unterschiedlich. Allein das Zusehen war extrem bereichernd“. Etwas mehr Zeit für Diskussionen untereinander hätte er sich aber gewünscht – „das Programm war wirklich sehr voll“.
Von den 36 Teilnehmenden in Frankfurt, darunter nur drei Frauen, sind nun zwei Frauen und zehn Männer in die nächste Runde gekommen. „Hier haben wir geschaut, wer besonders lernfähig und flexibel ist. Wer kann sich auf die verschiedenen Bedürfnisse der Klangkörper einstellen, wer das Feedback schnell umsetzen und seine musikalischen Ideen überzeugend vermitteln?“, erläutert Christopoulos.
Die Anforderungen an Dirigent*innen haben sich seiner Meinung nach verändert: „Das ist wie bei allen Führungskräften: Es wird ein neuer Stil gefordert, der sehr viel kommunikativer und auch respektvoller ist. Das Orchester fordert mehr Mitspracherecht ein – als Dirigent müssen Sie Ihre Ideen vermitteln können“, sagt Christopoulos. Die künstlerische Entscheidung müsse vom Orchester mitgetragen werden, da brauche es Persönlichkeiten, die inspirieren können. Das sei schwierig zu objektivieren: „Was macht eine gute Dirigentin aus? Natürlich muss der Auftakt stimmen und die Schlagtechnik, aber ansonsten geht es um Ausstrahlung, um künstlerische Ideen und Überzeugungskraft.“
„Ich glaube, dass wir als Dirigenten heute vielseitiger sein müssen als früher“, ergänzt sein Student Hwang. Insofern sei das vielfältige Programm eine gute Vorbereitung gewesen. „Es war schon anstrengend, in so kurzer Zeit so viele verschiedene Stücke vorbereiten zu müssen. Aber das ist schließlich das Leben, für das ich mich entschieden habe. Insofern war das eine tolle Probe für die Zukunft.“