Die Frage, ob Kunst und Kultur im allgemeinen Diskurs in irgendeiner Form relevant sind, bekommt angesichts des politischen Klimas eine neue Dimension. Es wird sozusagen ernst. Wir leben offensichtlich in einer Gesellschaft, in der es für uns nicht mehr nur darum gehen mag, die eigenen Tätigkeiten zu legitimieren, sondern ernsthaft darüber nachgedacht werden muss, ob Dinge, die wir vertreten und die die ehemalige Kulturnation Deutschland ausgemacht haben, weiterhin oder gerade jetzt notwendig sind, um ein zivilisiertes Miteinander zu ermöglichen. Haben wir dem, was uns beunruhigt, etwas entgegenzusetzen?
Der politische Diskurs bei uns wird weitestgehend von Angst bestimmt. Niemand ist frei von ihr, sie ist eine der elementaren Grundbefindlichkeiten des Menschen. Sie zu überwinden und produktiv wie kreativ umzusetzen, ist eine der Grundbedingungen menschlicher Freiheit, die ja nicht im repressionsfreien Raum entsteht, sondern sich an den Gegebenheiten abarbeitet und ihnen einen irgend gearteten Gegenentwurf gegenüber stellt, der über eine Limitierung der Existenz als Ressource und Produktionsmittel hinausgeht. Offensichtlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Angst (um bei musikalischen Terminologien zu bleiben) zu instrumentalisieren und zu orchestrieren: sich die Unsicherheit des Menschen zu Nutze zu machen, um einen reibungslosen Ablauf des Gegebenen zu gewährleisten oder die eigenen politischen Ziele durchzusetzen, mag ein probates Mittel spätkapitalistischen Denkens sein. Wenn aber in guter dialektischer Manier die Durchrationalisierung des Daseins in Ressentiment, Paranoia und Aggression umschlägt, ist es höchste Zeit, der Irrationalität des gesellschaftlichen Klimas die Irrationalität der Kunst entgegen zu setzen. Dazu müssten wir uns jedoch erst einmal selbst befragen, was Kunst uns eigentlich bedeutet und unter welchen Bedingungen wir sie ausüben und ausdrücken.
Die dabei häufig getätigten Aussagen, Kunst an sich habe keinen messbaren Wert, sei frei von ökonomischen Zwängen, gehorche ihren eigenen Gesetzen, sei autonom und gerade deswegen so wertvoll etc. sind albern und gefährlich angesichts eines teils hochsubventionierten, teils frei florierenden Kulturbetriebs, in welchem man die Wahl hat zwischen einer abgesicherten, aber abhängigen Existenz in der Stadttheater- oder Orchesterlandschaft, der künstlerischen und ökonomischen Selbstausbeutung der sogenannten „freien“ Szene und dem Schönreden prekärer Verhältnisse als freiberuflicher Solitär auf Honorarbasis.
Diese ökonomischen Bedingungen sind heikel genug. Wenn man seine Musik, sein Schaffen nicht zum dekorativen Hobby degradiert wissen will, muss man sich mit ihnen auseinandersetzen und das Selbstbewusstsein haben, für das, was man tut, einen Marktwert festzulegen und zu verteidigen. Kunst kann nicht im luftleeren Raum entstehen, verliert aber nicht selten einen Teil ihrer Freiheit, wenn sie sich institutionellen und pekuniären Zwängen unterordnen muss.
Es gibt jedoch einen Sektor, für den Verwirklichung unbedingter künstlerischer Freiheit nicht nur explizit möglich, sondern sogar notwendig ist: das sind die Musik- und Kunsthochschulen (fürs Protokoll: Schauspiel und Tanz sind natürlich mitgemeint) – Produktionsstätten erster Güte, die vom Potenzial her mit hunderten und tausenden Konzerten, Aufführungen und Projekten einen kulturellen Ausstoß betreiben, der gerade deshalb so wertvoll ist, weil er sich nicht (zumindest nicht im selben Maße) den ökonomischen Gesetzen des sonstigen Kulturbetriebs unterwerfen muss, sondern lediglich ein Nebenprodukt der Lehre ist. Wo sonst könnten gesellschaftliche Diskurse ihren produktiven Niederschlag finden, wenn nicht hier, im Miteinander einer hochkarätigen und durchprofessionalisierten Lehre und der frischen und kompromisslosen Perspektive einer hochmotivierten und begabten jungen Generation?
Gesellschaftliche Relevanz?
Um das Potenzial, das in der Arbeit an einer Hochschule für Musik und Darstellende Kunst verborgen ist, freizulegen, bedürfte es allerdings zweierlei: Kunst müsste in ihrer gesellschaftlichen Relevanz reflektiert werden. Und die Hochschule müsste sich als angstfreier Raum definieren, der jeden kreativen Impuls vorerst zulässt.
Wir wissen alle, das beides nicht oder nur unzureichend passiert, aus vielerlei Gründen.
Es ist müßig, hier noch einmal beispielsweise auf diverse Studienreformen zu verweisen, die den kreativen Fluss eher regulieren als befördern, und auf die immense Anstrengung akademischer Selbstverwaltung, durch die manchmal das Wesentliche aus dem Blick zu geraten droht.
Solche strukturellen Gegebenheiten sind diskussionswürdig, hier aber soll es um den Kern der Sache gehen. Was tun wir eigentlich hier?
Zum Beispiel in Frankfurt: keine andere Stadt in Deutschland definiert sich in ähnlicher Form über das Miteinander von kulturellem und gesellschaftlichem Diskurs. Gerade aufgrund seiner eigenen künstlerischen Kompetenz und Sensibilität konnte beispielsweise Adorno geradezu seismographisch aufspüren und benennen, wo wir, als Einzelne wie als Kollektiv, irreparabel beeinträchtigt und beschädigt sind und wie gerade das Gewahr werden der eigenen Kaputtheit sich in Kunst niederschlägt und Utopie ermöglicht. Was bedeutet das für einen Komponisten, für ein Kompositionsstudium? Wer traut sich noch, in Zeiten postfaktischer Ironisierung ernst zu machen mit der Kunst? Hat das „kritische Komponieren“, die ästhetisch wie technisch relevanteste kompositorische Richtung der letzten Jahrzehnte, die nicht nur bei Helmut Lachenmann und Nicolaus Huber, sondern mit Rolf Riehm als einem ihrer gewichtigsten und politischsten Vertreter auch hier in Frankfurt verortet werden muss, überhaupt noch eine Chance? Wie verhindern wir, dass ehemals radikale und bahnbrechende kompositorische Errungenschaften zu satztechnischen Werkzeugen sich verengen?
Welches sind die interpretatorischen Strategien, einem bürgerlichen Publikum, das sich an künstlerischer Exzellenz erfreut, so lange sie nicht das eigene ästhetische Selbstverständnis in Frage stellt, die Radikalität und Subversivität eines Beethovenquartettes vor Augen zu stellen? Welche Mittel sind uns gegeben gegen die nostalgische Gerinnung und Erstarrung des traditionellen Repertoires?
Wie können wir Schauspieler, Sängerinnen und Tänzer ermutigen, sich der Unbedingtheit und Schutzlosigkeit preiszugeben, die unabdingbare Voraussetzung ihrer Berufsausübung ist, wenn sie für ein Theatersystem ausgebildet werden, das sich überwiegend noch aus feudalen und autoritären Strukturen des letzten Jahrhunderts konstituiert?
Wie kann die so genannte „populäre Musik“ jenseits von deutschem Schlagerpop und einer hochmütigen „die-Kids-dort-abholen-wo-sie-sind“-Attitüde wieder als das wahrgenommen werden, was sie in ihren besten Momenten ist: unmittelbarer Ausdruck gesellschaftlicher Befindlichkeit und, in ihren originären Manifestationen von Blues, Freejazz und Rock´nRoll über Punk, Disco und Techno, subversiver, revolutionärer und emanzipatorischer Impuls?
Wie können wir begreiflich machen, dass hochkarätiges Handwerk und bahnbrechende Virtuosität nicht nur der permanenten Reflexion, sondern auch einer kompetenten Vermittlung bedürfen, und es einem Musiker nichts von seiner Genialität nimmt, wenn er solide und inspiriert unterrichten kann?
Um sich zu positionieren, muss man sich natürlich erst einmal selbst ernst nehmen. Das kann heißen: nicht im vorauseilenden Gehorsam sich den Gesetzmäßigkeiten einer allgemeinen Ergötzungs- und Bespaßungskultur anpassen, sondern die existenzielle Dimension von Kunst für sich selber akzeptieren. Das hat auch eine handwerkliche und selbstdisziplinarische Dimension, bedeutet es doch: mit aller Kraft und Integrität die eigene Exzellenz und Professionalität vorantreiben, sich nicht mit mittelmäßigen Arbeiten zufrieden geben und schauen, welche Handlungsoptionen im gesellschaftlichen Rahmen sich aus einer solchen gesund elitären Haltung ableiten lassen.
Ästhetischer Diskurs
Denn die Freiheit, die der Rahmen einer akademischen Kunstausbildung zumindest ideell bietet, bedeutet auch ein hohes Maß an Verantwortung – sich selbst gegenüber, den Studierenden gegenüber, aber auch in Bezug auf das künstlerische Werk, das wir interpretieren, untersuchen oder erschaffen. Wir müssen akzeptieren, dass es um etwas geht, dass das, was wir tun, nicht durch andere gesellschaftliche Bereiche ersetzt werden kann, und dass die Bewahrung einer jahrhundertealten Kunsttradition ebenso wie die Neuschöpfung eines ästhetischen Diskurses und das Aufbrechen überkommener Strukturen zu den nobelsten und einzigartigsten Aufgaben gehören, zu denen die Menschheit überhaupt fähig ist. In der artifiziellen Vollendung, die gelungene Kunst bietet, und in der alle Unvollkommenheiten, Brüche und Schmerzen des Menschseins aufgehoben sein können, eröffnet sich eine Perspektive menschlicher Freiheit, die zumindest in einem vordergründig säkularen Zeitalter wie unserem ansonsten verborgen bleibt.Darunter sollte man es eigentlich nicht machen.
Dazu gehört, sich ein Umfeld zu bauen und Bedingungen zu schaffen, die eine solche künstlerische Entfaltung ermöglichen. Letztlich geht es um Partizipation, um eine „Teilhabe aller an den Künsten“, wie es das Leitbild dieser Hochschule formuliert, und nichts wäre falscher, als aus einer Position vermeintlicher Überheblichkeit anderen etwas aufdrängen zu wollen. Wie immer kann man nur überzeugen, indem man seine eigenen Ideale authentisch vorlebt.
Frankfurt und die Rhein-Main-Region bieten dafür vergleichsweise gute Bedingungen: kulturelle Vielfalt auf engstem Raum, Liberalität und Weltoffenheit, eine in Deutschland einzigartige Internationalität, eine Vielzahl großartiger Kultureinrichtungen und Institutionen, eine interessierte und engagierte Bürgergesellschaft. Neben dem Museumsufer wird es zukünftig der Kulturcampus sein, der auf in Deutschland einzigartige Weise die kulturelle Identität einer Stadt konzentriert und manifestiert, und neben allen planerischen Herausforderungen, die mit diesem Projekt einhergehen, wird es auch eine breite inhaltliche Diskussion sein – in der interessierten Öffentlichkeit, bei den kulturellen Leistungsträgern und vor allem in der Politik –, die Aufschluss darüber geben wird, was uns Kunst und Kultur wirklich bedeuten und wie sie in unserer Gesellschaft verankert sein müssen.
Neben solchen kulturellen Leuchttürmen bleibt weiterhin eine breit aufgestellte Basisarbeit das Zentralnervensystem kultureller Identität. Ich halte es dabei gerne mit den Idealen von „Live Music Now“, einem Konzept, bei dem sich größtmögliche künstlerische Exzellenz für kein noch so heikles und pragmatisches Umfeld zu schade ist. Was nützt Kunst, wenn nicht alle die Möglichkeit haben, sie zu erleben?
Denn der allgemeinen Verblödung und Verrohung beizukommen, ist natürlich überwiegend eine Frage von Vermittlung und Erziehung: „Es ist viel wichtiger, wer der Musiklehrer ist, als wer der Direktor der Oper ist. Der schlechte Direktor scheitert gleich. (Häufig auch der gute.) Aber der schlechte Lehrer tötet dreißig Jahre lang in dreißig Jahrgängen die Liebe zur Musik”, schreibt Zoltan Kodaly 1929. Bilden wir also nicht zuletzt gute Lehrerinnen und Lehrer aus, die besten, am Instrument wie in der Schule.
Prof. Christopher Brandt, Präsident der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (HfMDK) sowie Ausbildungsdirektor Instrumental und Gesangspädagogik und Professor für Gitarre an der HfMDK