Auslöser für die Idee der ACCADEMIA war die Frage eines Studenten zu Beginn meiner Tätigkeit an der HfM Franz Liszt Weimar, ob ich bisweilen den Unterricht mit Zitaten garniere, weil ich so viele Bücher gelesen hätte. Und ob ich den Studierenden Bücher empfehlen könne, in denen solche Dinge zu lesen wären. Meine spontane schmunzelnde Reaktion empfand ich jedoch als weder hinreichend noch nachhaltig, und so entschloss ich mich, für das ehrliche Bedürfnis der Studierenden nach geistigem Austausch und Anregung ein regelmäßig angebotenes Format zu finden. Dieses sollte bewusst über den regulären, bei uns als Musikhochschule primär musikalisch definierten Arbeitskanon hinausgehen. Ziel war es, unsere Studierenden bewusst dazu anzuregen, sich selbst in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu begreifen und dazu Themen auszuwählen, die zwar in Zusammenhang mit Musik gesehen werden können, aber nicht dezidiert auf den Kontext unseres Hauptfachs Orchesterdirigieren beschränkt sind.
Seit Beginn meiner Berufung zum Wintersemester 2016/17 biete ich jeden zweiten Mittwoch abends diese Gesprächsplattform an. Der Name ACCADEMIA greift bewusst zurück auf die Plato’sche Einrichtung, in der das gemeinsame, schweifende Gespräch von Lehrenden und Lernenden die Basis der Wissensvermittlung bildete. Die Teilnahme ist freiwillig, es gibt weder Testate noch eine Anrechnung auf mein Deputat. Die Zeit ist bewusst an das Ende des Studientages und in die Mitte der Woche gelegt. Wahl von Zeitpunkt und Gesprächsthemen sollen ausdrücklich Gegengewicht und Ausgleich zum anstrengenden musikfokussierten Studienalltag bilden. Das besondere Ambiente mit Kerzenlicht und eigenem Logo (mittels Beamer an der Wand über die gesamte Zeit präsent, siehe Abbildung) bietet einen Rückzugsraum von der Hektik des Tages und soll in entspannter Atmosphäre zum lockeren gemeinsamen Nachdenken anregen. Die andersartige, warme Beleuchtung schafft einen großen Gegensatz zu der sonstigen Raumausleuchtung während des Unterrichts. Die Themen umfassen nach Möglichkeit gesellschaftsrelevante Themen und kommen zum Beispiel aus den Bereichen aktuelle Tagespolitik, Geschichte, Philosophie sowie Kulturpolitik. Ab und zu gibt es Buchvorstellungen. Themenvorschläge der Studierenden sind ausdrücklich erwünscht und nehmen – nach einer ersten Anlaufzeit – stetig zu.
Praktische Ausgestaltung
Die Offenheit der behandelten Themen wird gebändigt durch einen festen Ablauf: 1) Zu Beginn wird nach kurzer Begrüßung jedes Mal Immanuel Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, die Aufforderung zum eigenständigen, unabhängigen Denken, rezitiert. Es folgt 2) die Vorstellung des aktuellen Themas, gegebenenfalls werden zwei verschiedene Themen den Studierenden zur Wahl gestellt. Die Themenvorstellung umfasst 10 bis 15 Minuten und wird oft von einer kurzen Keynote untermauert. Dies kann eine kurze Bildfolge zum Thema sein, ein Foto eines Zeitungsartikels oder zentrale Seiten eines Buches. Nach der Themenvorstellung wird eine Sanduhr von 60 Minuten Dauer umgedreht und 3) zur Diskussion eingeladen. Ab diesem Zeitpunkt trete ich in den Hintergrund, meistens organisiert sich die Diskussion von selbst. Selten greife ich moderierend ein oder vertrete einen eigenen Standpunkt, der gleichwertig zu denen der Studierenden steht. Mit Ablauf der Sanduhr wird die Diskussion sensibel und wertschätzend geschlossen, um zeitlich nicht auszuufern. Den Schluss bildet jedes Mal 4) eine Abwandlung von Bertold Brechts Schlusssatz aus dem Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“: „Das Stück ist aus, wir seh’n betroffen/Den Vorhang zu und alle Fragen offen“. So wird unterstrichen, dass nicht nach Lösungen gesucht wird, sondern der Prozess des Diskurses das Entscheidende ist – der offene Schluss lädt zum privaten Weiterdenken ein.
Das wichtigste Stilmittel der ACCADEMIA ist die Offenheit und Diversität möglicher Themen, ihr stärkstes Werkzeug ist gewissermaßen eine Parataxe der Meinungen. Durch die Gleichrangigkeit der Gedanken aller Anwesenden ergibt sich eine gänzlich andere situative Erfahrung als im Einzelunterricht – oder auch, in noch stärkerem Maße als in einer universitären Hörsaal-Situation. In beiden ergibt sich schon aufgrund der unterschiedlichen Berufserfahrung ein gewisses Gefälle, das in einer freier Analogie als „Geselle-Meister-Verhältnis“ paraphrasiert werden kann. Angestrebt wird in der ACCADEMIA eine Aufwertung der Individualpersönlichkeit des Studierenden durch weitestgehende Begegnung auf Augenhöhe, was im Studienalltag nicht immer verwirklicht ist. Im Unterschied zu den so genannten „sozialen“ Medien findet in der ACCADEMIA echtes soziales Miteinander und wirklicher Austausch im realen Raum statt.
Bei Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram finden sich häufig nur egozentrierte Äußerungen, die zwar miteinander abwechseln, aber letztlich verschiedene Standpunkte nur singulär darstellen. Im Grunde ermöglicht dieses Hin und Her einzelner Äußerungen nur ein Aufeinanderprallen der Meinungen, regt aber zu keiner fruchtbaren konstruktiven Auseinandersetzung und der Entwicklung im physischen Miteinander an. Vielmehr findet in der persönlichen, nicht ausschließlich virtuellen Auseinandersetzung auch eine Übung und Schulung im Entfalten von Gedanken, von Kommunikationsformen und mimisch-gestisch-verbaler Gesprächskultur statt.
Besonders erfreulich ist die Tatsache, dass bereits mehrfach Studierende anderer Institute und auch (abhängig vom Thema) teilweise Lehrende teilnahmen. Die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer pro Sitzung ist durch die freiwillige Teilnahme naturgemäß schwankend und jedes Mal unvorhersehbar. Es finden sich aber regelmäßig zwischen fünf und zehn Studierende ein, eine Gruppengröße, die intensive Diskussionen und ausführlichen Austausch ermöglicht. Ich habe festgelegt, dass die ACCADEMIA nicht stattfindet, wenn am gegebenen Abend die Teilnehmerzahl weniger als drei beträgt. Dies beinhaltet das Risiko, dass ich mir als Einladender (und Vorbereitender) für diesen Abend die Mühe umsonst gemacht habe. Da das jeweilige Thema aber nicht komplett entfällt, ist die vorbereitende Arbeit nicht vergeblich und das Thema kann einfach beim nächsten Mal wieder angeboten werden.
Themenpool
Natürlich sind die Themen in unserem Fall musikaffin, aber ausdrücklich Curriculums-überschreitend. Einige Beispiele für Themen aus den vergangenen Jahren:
· Grenzüberschreitung und Political Correctness. Was darf Kunst?
· Zeitmanagement im künstlerischen Alltag – The Wheel of Balance
· Sind Opern nur für Opas da – was tun mit der Überalterung des Klassik-Publikums?
· Buchvorstellung: Byung-Chul Han, Der Duft der Zeit – die Kunst des Wartens
· Grünes Gewölbe oder KiTas – wo geht das Geld für die Kultur hin?
· Was macht #me_too mit der Oper?
· Buchvorstellung: David Foster Wallace, This here is water – Das hier ist Wasser
· Klassische Kultur und Umwegrentabilität
· Verbindlichkeit – eine aussterbende Tugend?
· Buchvorstellung: Erich Fromm, Haben oder Sein
· Wie verändern KI, Robotik und virtuelle Realität unser Menschenbild?
Die Einladung externer Expertinnen und Experten gab es an unserem Institut in größeren Zeitabständen bereits vor der Gründung der ACCADEMIA. Sie stellt innerhalb dieses Formates einen Sonderfall dar, den wir versuchen etwa einmal pro Semester weiterzuführen. Ziel der ACCADEMIA ist die geistige Anregung, der geistige Austausch unserer Studierenden. Für die angehenden Dirigentinnen und Dirigenten ist demnach der hautnahe Kontakt mit anderen Persönlichkeiten aus der Führungsetage des Musik-Business ein besonderes Highlight. In der Vergangenheit teilgenommen haben zum Beispiel durchreisende auswärtige Gastdirigent*innen von Sinfoniekonzerten, Operndirektor*innen, internationale Chefdirigent*innen, Orchestermanager*innen, besonders erfolgreiche Alumni unseres Instituts (auch per Videokonferenz) oder der Direktor des Thüringer Landesmusikarchivs.
In diesem Fall gibt es keine Themenvorstellung; der Gast und seine Persönlichkeit sind das Thema. Begrüßung (Kant) und Schluss (Brecht) bleiben bestehen. Darüber hinaus hat der Gast die Freiheit, seine Tätigkeit, seinen Lebensweg, Erlebnisse, Anekdoten et cetera zu schildern; die Studierenden haben die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Interessanterweise scheint das Format für unsere Gäste derart attraktiv zu sein, dass bisher alle Anfragen sofort zugesagt wurden – obwohl wir keine Gage zahlen, sondern nur das Erlebnis gelebten geistigen Austauschs mit hochmotivierten und hochinteressierten Studierenden bieten können.
Lehren und Lernen in Zeiten von Corona
In der aktuellen Pandemie-Krise kann der Plattform- und Austauschcharakter der bisher nur als Präsenzveranstaltung durchgeführten ACCADEMIA auch ein wichtiger Impulsgeber für die online vernetzte Ideenarbeit sein. Drei Eigenschaften der ACCADEMIA scheinen mir dabei wichtig: Erstens, die Offenheit der möglichen Inhalte – und damit die Gelegenheit für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, mit inhaltlichen Vorschlägen gleichberechtigt sowohl die Substanz der ACCADEMIA zu erzeugen als auch die Teilhabe daran zu verwirklichen. Zweitens, die äußere Form, die durch die klare zeitliche Vorgabe zur Knappheit in den Diskussionsbeiträgen zwingt und zur Fokussierung der Gedanken anhält. Und drittens, die Möglichkeit zu hoher Diversifikation der Teilnehmenden, die im Sinne der Zielsetzung der ACCADEMIA der Bildung von Echokammern und Meinungsblasen entgegensteuert. Diese Eigenschaften lassen sich in Zeiten der pandemisch bedingten Isolation hervorragend auch auf einen Online-Betrieb übertragen.
Um in Zeiten der Isolation und der vorübergehenden Absage sämtlicher kultureller Übe-, Arbeits- und Betätigungsmöglichkeiten unseren Studierenden Lernmöglichkeiten, Austausch und Inspiration zu geben, hatten mein Kollege Prof. Nicolás Pasquet und ich gemeinsam unmittelbar nach Bekanntwerden der Quarantäne-Bestimmungen eine Videokonferenz mit allen Dirigierstudierenden unseres Instituts für Dirigieren und Opernkorrepetition initiiert. Dabei wurde nach Möglichkeiten zum individuellen Online-Unterricht per Video gesucht sowie zwei wöchentlich stattfindende Video-Konferenzen für den Austausch in der Klasse implementiert: eine mit Themenschwerpunkt Symphonik (Host: Prof. Nicolás Pasquet) und eine weitere mit Themenschwerpunkt Oper (Host: Prof. Ekhart Wycik). Die Kernmerkmale dieser Online-Sitzungen – Offenheit der Themen, die Gleichwertigkeit der Diskutierenden und die zeitliche Begrenzung – sind der Klasse bereits durch die ACCADEMIA vertraut. Dabei wurde zunächst auf übliche, leicht erreichbare und möglichst voraussetzungslose Internet-Videoformate gesetzt – nicht ohne auf aktuelle Datenschutzbestimmungen hinzuweisen.Ähnliche Online-Diskussions- und Austauschrunden mit anderen Teilnehmendengruppen erfolgten noch in derselben Woche (so die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Dirigierlehrer und die Alumni des Lehrezertifikates des „Netzwerks Musikhochschulen“).
Wenige Tage später entstand in diesem Zuge eine internationale Online-Podiumsdiskussion der Dirigierprofessoren aus Zürich, Manchester, Oslo und Weimar mit Dutzenden von internationalen Studierenden als Gasthörer*innen (Thema: Wie verändert Corona unser künftiges Berufsbild? Welche Auswirkungen hat das auf unser Lehren und Lernen?). Die Ausweitung des von der Musikhochschule in Weimar angebotenen IT-Angebots um ein Format, das solche Veranstaltungen regelmäßig in ähnlicher Weise anbieten kann – gegebenenfalls in die bereits bestehende moodle-Plattform eingebettet –, ist in Vorbereitung.
Prof. Ekhart Wycik, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Institut für Dirigieren und Opernkorrepetition