„Ich hatte zu Beginn des Projektes eine Vision, und diese Vision heißt auch heute noch, ich möchte Menschen ermöglichen, Musik zu machen, denen man es erstmal nicht ermöglichen oder zugestehen oder zutrauen würde.“ Dieses Ziel verfolgte Andreas Brand im Rahmen seiner Bachelorarbeit im Trossinger Studiengang Musikdesign in Kooperation mit der Lebenshilfe in Tuttlingen. Es entstand das Pilotprojekt „Musiklusion – barrierefreies Musizieren“, das erst im April mit dem hoch dotierten „B. Braun Preis für Soziale Innovationen“ in Höhe von 12.500 Euro ausgezeichnet wurde. Für die Trossinger Hochschule bedeutet dieses bemerkenswerte Projekt eine von verschiedenen Möglichkeiten der Erweiterung des traditionellen künstlerisch-pädagogischen Selbstverständnisses der Musikhochschulen um soziales und gesellschaftliches Engagement, verbunden mit Kreativität auf neuestem technischen und ästhetischen Stand.
Herausragendes Merkmal des von Prof. Florian Käppler betreuten Projekts ist sicherlich die Tatsache, dass die vom Initiator des Projekts beschriebene Vision tatsächlich Wirklichkeit wurde. Der Musikdesigner Andreas Brand ist seiner Vorstellung, „in der Gesellschaft das Verständnis eines Musikinstrumentes dahingehend zu verändern, dass wir auch solche digitalen Musikinstrumente als vollwertige Musikinstrumente ansehen“ sicherlich schon einen bedeutenden Schritt näher gekommen, ebenso seinem Wunsch, „dass wir das Musizieren der Menschen mit Beeinträchtigungen als vollwertig beobachten und auch annehmen.“
Mit Hilfe von verschiedenen Sensoren, Druckknöpfen, Mikroprozessoren, Laptops, Lautsprechern und einer speziellen Software hat Andreas Brand über mehrere Monate hinweg individuelle, an die Klangvorlieben und motorischen Fähigkeiten der Menschen mit Behinderung angepasste digitale Musikinstrumente entwickelt. So entstanden von Oktober 2015 bis Februar 2016 individuelle Musikinstrumente und Klanginstallationen für Gruppenmitglieder der Lebenshilfe Tuttlingen: Roland Schnee ruft mit seiner linken Hand einen Akkordeonton ab und verändert diesen durch das Bewegen seiner rechten Hand in einem Abstand-Sensor. Sabine Müller (Name geändert) bringt Gitarrentöne zum Klingen mithilfe von Infrarot-Sensoren. Kristof Puhlmann entlockt seinem Musikinstrument typische Klänge aus Trickfilmvertonungen. Pascal Graupe startet mit einem Controller Playbacks des Rappers „Cro“ und mischt selbst erzeugte und aufgenommene Geräusche hinzu. Fabian Berendt rappt über Pascals Beats. Daniela Hermann kann zu Playbacks ihrer Lieblingslieder singen und per Joystick den Originalgesang hinzumischen.
Zentraler Bestandteil des Projekts war es, so Andreas Brand, die Klangvorlieben der Teilnehmenden gezielt zu erörtern – und dies größtenteils non-verbal. So wurden zusammen mit den Betreuenden der Lebenshilfe die Verhaltensmuster beim gemeinsamen Musikhören genau analysiert. Im darauffolgenden Schritt wurde experimentiert, mit welchen technischen Komponenten diese Klangvorlieben spielbar und erfahrbar gemacht werden können. Mit klanglichen und haptischen Prototypen wurden verschiedene Versuchsreihen ermöglicht und erste Musizierversuche erprobt, anschließend die erfolgreich evaluierten technischen Komponenten in feste Installationen aus Holz integriert. Der Zusammenbau der Instrumente erfolgte in der hauseigenen Schreinerei der Lebenshilfe.
Unerwartet brachte das Projekt positive Nebeneffekte mit sich. Beispielsweise konnte bereits eine verbesserte Motorik in Alltagssituationen durch das kontinuierliche Musizieren festgestellt werden. Ebenso bemerkbar ist die neue und erweiterte Interaktion mit anderen Menschen in den Gruppen der Lebenshilfe. Und ganz nebenbei steigert das neue Hobby auf besondere Art und Weise das Selbstwertgefühl. Nach der Fertigstellung der Musikinstrumente erhielten die Betreuenden eine umfassende Einführung in die Bedingung der technischen Komponenten. Seit Anfang Februar 2016 wurden die Musikinstrumente kontinuierlich in den Tagesablauf der Lebenshilfe Tuttlingen integriert.
Die Auszeichnung des Pilotprojekts „Musiklusion“ in dem gemeinsam von der B. Braun-Sparte Aes-culap in Tuttlingen und der Zeppelin Universität Friedrichshafen ausgerichteten Wettbewerb unter der Leitfrage „Wo steht das soziale Engagement unserer Gesellschaft wirklich?“ gibt eine Ahnung von der Relevanz des Projekts. Die Laudatorin Antje Bostelmann, Gründerin und Geschäftsführerin der Berliner Klax Gruppe, sei sofort sehr begeistert gewesen, da durch diese Idee scheinbar Unmögliches möglich gemacht werde. Zwei weitere von insgesamt 89 Initiativen im Wettbewerb waren mit dem 2. und 3. Preis gewürdigt worden.
Ein Fazit des Preisträgers Andreas Brand: „Alles ist Musik, alles was klingt, ist Musik, und ich glaube, diese Vision darf man weitertragen. Ich hoffe, dass auch hier das Umdenken stattfindet.“
Musik im Alter
Ein „Kompetenzzentrum für Musik im dritten Lebensabschnitt“ wurde jüngst an der Musikakademie Villingen-Schwenningen, einer Tochtergesellschaft der Trossinger Hochschule, ins Leben gerufen. Dort werden jene Erkenntnisse institutionalisiert, die der Musikpädagoge und Gitarrist Gerhard Schempp, langjähriger Sprecher des Trossinger Methodik-Fachbereichs, während der vergangenen Jahre in intensiver und kontinuierlicher Arbeit mit Senioren gewinnen konnte. Möglichkeiten aktiver Partizipation auch für jene gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln, die bislang oftmals nur (noch) als konsumierende Zielgruppe kultureller Angebote gesehen wurden, ist ein fundamentaler Bestandteil nachhaltiger künstlerisch-pädagogischer Arbeit von Musikhochschulen. Der Trossinger Master-Studiengang „Musik für Menschen im 3. und 4. Lebensabschnitt“ bietet Profile in Music & Movement sowie Instrument/Gesang und zahlreiche Kooperationsmöglichkeiten mit dem neuen Kompetenzzentrum.
Theater mit Musik
Auch die Trossinger Abteilung Music & Movement eröffnet derzeit neue Wege: Die „Aktion Mensch“ bewilligte jüngst eine Förderung von knapp 100.000 Euro für das Lehrforschungsprojekt „Theater mit Musik“. Dr. Dierk Zaiser, Vertretungsprofessor für Music & Movement, hat das das Projekt mit dem Familien Entlastenden Dienst e.V. Tuttlingen als Hauptpartner konzipiert. Ziel sind Gründung, Aufbau und Entwicklung einer Freizeittheatergruppe mit Menschen mit Behinderung, Musikhochschulstudierenden und Fachschüler/innen für Sozialpädagogik. Theaterspielen ermöglicht Menschen mit Behinderung, ihre Ausdrucksmöglichkeiten in der Gemeinschaft mit anderen zu erproben und zu kultivieren. Kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung erschließt sich zum einen in der Entdeckung, Stärkung und Entwicklung ihrer künstlerischen Kompetenzen und zum anderen in deren öffentlichen Präsentation. Langfristig sollen die gewonnenen Erkenntnisse Bildungseinrichtungen helfen, ihre Profile zu schärfen und den Inklusionsanspruch in den Bildungsplänen inhaltlich fundieren und sinnvoll verankern.