Banner Full-Size

Gesten der Verbundenheit

Untertitel
Studierende aus Jerusalem und Weimar auf Deutschland-Israel-Tournee
Publikationsdatum
Body

Sie gehören verschiedenen Kulturkreisen an, pflegen unterschiedliche Musiktraditionen und haben doch eine Vergangenheit, die sie für immer miteinander verbindet. Zum vierten Mal seit der Projektgründung im Jahr 2011 kamen Studierende der Musikhochschulen in Weimar und Jerusalem zu gemeinsamen Proben und Konzerten zusammen. Als Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar konzertierten sie unter der Leitung von Michael Sanderling zunächst im August 2015 in Weimar, Wolfsburg, Berlin und Chorin. Die Tournee führte die jungen Musikerinnen und Musiker im Oktober 2015 dann zu Auftritten nach Rishon LeZion, Jerusalem und Tel Aviv. Ina Schwanse begleitete die zweiwöchige Projektphase in Deutschland.

Als der letzte Ton verklungen ist und das Publikum dem Orchester noch immer eifrig applaudiert, fallen sich die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne plötzlich in die Arme. Freude zeichnet ihre Gesichter. Ein Augenblick des Glücks und der Verbundenheit. „Das war total spontan. Aber es hat sich in diesem Moment richtig angefühlt“, erzählt die israelische Flötistin Anat Nazarathy. Dieses Konzert am 2. August in Weimar ist der erste von insgesamt vier Auftritten in Deutschland. Eine achttägige Probenphase liegt hinter dem 70-köpfigen Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar (YPOJW), das sich je zur Hälfte zusammensetzt aus Studierenden der Jerusalem Academy of Music and Dance und der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Aus einzelnen Musikerpersönlichkeiten, die zudem geprägt sind von verschiedenen Spielkulturen, hat Dirigent Michael Sanderling einen Klangkörper geformt. Über Orchestererfahrung verfügen sie natürlich alle. Und als Studierende einer Musikhochschule stehen sie tagtäglich im Austausch mit Kommilitonen aus anderen Ländern und Kulturen. „Das Musikalische, das Freundschaftliche, das Miteinander steht im Vordergrund“, fasst Bratschist Lucas Freund seine Eindrücke vom Projekt zusammen.

Sehr emotionale Momente

Nach dem Auftaktkonzert in Weimar reisen die Ensemblemitglieder zunächst nach Wolfsburg, um anschließend in Berlin das Young Euro Classic zu eröffnen, eines der wichtigsten Festivals für Jugendorchester weltweit. Zu Konzertbeginn fragt Moderator Ulrich Deppendorf die Musikerinnen und Musiker, wer aus Jerusalem und wer aus Weimar komme. Nicht ein geschlossener Block, sondern immer einzelne Personen erheben sich von ihren Stühlen. Seit das YPOJW im Jahr 2011 gegründet wurde, bilden israelische und deutsche Mitglieder nicht etwa Instrumentengruppen für sich, sondern verteilen sich auf das gesamte Ensemble und sitzen sogar jeweils zusammen an einem Notenpult. „Das Konzert hat in außergewöhnlicher Weise gezeigt, was junge Menschen gemeinsam bewegen können. Wir haben heute Abend die deutsch-israelische Zukunft gehört“, betont Yakov Hadas-Handelsman, Botschafter des Staates Israel in Deutschland, nach dem ausverkauften Konzert im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Ein Ensemble aus jungen Musikerinnen und Musikern aus Jerusalem und Weimar – das ist auch 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer noch eine besondere Konstellation. „Ich denke oft über die Geschichte der Juden nach, lese sehr viel, nicht nur über die Geschehnisse während des Zweiten Weltkrieges“, so Pianist Philip Solomonick aus Jerusalem. Sich zu erinnern sei heute wichtiger denn je. An einem Nachmittag besuchen die Studierenden daher das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald auf dem Ettersberg oberhalb Weimars und diskutieren mit Mitarbeitern der Gedenkstätte. „In der Schule habe ich die geschichtlichen Fakten gelernt, aber leider kaum etwas über die Menschen, denen das Unrecht widerfahren ist“, erzählt der israelische Bratschist Yakov Geller. Buchenwald zu besuchen sei ein sehr emotionaler Moment gewesen.

Zugleich herrscht eine Stimmung des Aufbruchs im Orchester. Die Vergangenheit schwebt freilich immer über Projekten wie dem Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar. Doch schwebt sie in immer größerer Höhe und wird als vergangen akzeptiert. „Es hängt vor allem von den Menschen ab, mit denen man zusammenarbeitet, und weniger, dass Deutsche und Israeli zusammen spielen“, so Yakov Geller. Die Weimarer Hornistin Vanessa Reußner ergänzt: „Der Reiz war groß, Israeli kennenzulernen und die Geschichte aus einer anderen Perspektive zu erleben. Besonders finde ich, dass wir durch die Musik das Rollendenken vergessen und einfach gemeinsam musizieren können.“ Auch wenn die Proben und die anschließende Konzertreise straff durchgeplant sind, bleibt bei den gemeinsamen Abendessen in der Weimarer Mensa oder bei den Führungen durch die Autostadt Wolfsburg und im Schloss Sanssouci in Potsdam Zeit zum persönlichen Austausch. Vanessa Reußner lädt an einem Abend einige israelische Studierende zu sich nach Hause ein, wo sie gemeinsam israelisch kochen. „Ich habe die israelische Kultur als sehr herzlich und freundlich kennengelernt“, meint Cellist Alexander Letsch aus Weimar.

Das Leben teilen

„Wir versuchen, die jetzige Generation von Israeli und Deutschen zusammenzubringen in der vielleicht einfachsten Art, nämlich in der Sprache der Musik“, so Michael Sanderling. Der Chefdirigent der Dresdner Philharmonie leitet das YPOJW nach 2013 zum zweiten Mal und ist insbesondere von der „fantastischen Atmosphäre“ begeistert. Auch die Studierenden der beiden beteiligten Musikhochschulen sind mit Herzblut dabei. Giuliana Carfagnini meldete sich umgehend zum Projekt an, nachdem ihr ihre beiden Mitbewohner, die 2013 Teil des Orchesters waren, vom Projekt erzählt hatten. „Was mir wirklich gefällt, ist, dass wir auch unser Leben geteilt haben“, so die Jerusalemer Fagottstudentin. Andere Orchestermitglieder sind bereits zum zweiten oder sogar dritten Mal dabei. Posaunist Marco Vogel aus Weimar und Geigerin Anat Pagis aus Jerusalem – beide nahmen an den drei großen Projektphasen 2011, 2013 und 2015 teil – sind inzwischen ein Paar; seit September 2015 lebt Marco Vogel in Jerusalem, wo er eine Stelle als Bassposaunist beim Jerusalem Symphony Orchestra angetreten hat. Cellist William Weil wiederum wechselte zum Wintersemester 2015/16 für ein Kontaktstudium nach Weimar. Dass sich die israelischen und deutschen Orchestermitglieder einander in den vergangenen Jahren angenähert haben, davon ist Yesha‘ayahu Ginzburg überzeugt.

Der Geiger und Bratschist von der Jerusalem Academy of Music and Dance spielt ebenfalls seit 2011 im Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar. „Von Projekt zu Projekt kommen sich beide Parteien immer näher und fühlen sich wohler miteinander. Wir entwickeln inzwischen regelrecht eine gemeinsame ‚Sprache‘.“ Freundschaft steht indes als Leitgedanke über dem Orchesterprojekt und spiegelt sich auch im Konzertprogramm wider. Eigens für das deutsch-israelische Projektorchester hat der israelische Komponist Ziv Cojocaru das Stück „Links.Metamorphosis“ geschrieben, das er als „Geste der Verbindung zwischen Kulturen und Musiktraditionen“ verstanden wissen will.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!