Musik zu kategorisieren, das ist nicht Ziel des Teams der „Abteilung Musik“ im Frankfurter Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik. „Wir fragen nach dem Wahrnehmen, dem Erleben und Bewerten von Musik durch die Hörer“, erläutert Direktorin Melanie Wald-Fuhrmann. Im Wissen darum, dass Musik unter den Künsten ganz besondere und besonders intensive Wirkungsweisen hat, geht es dem Team um die Musikwissenschaftlerin also um Facetten der Rezeptionsästhetik.
Musik wirkt auf den Körper. Sie wirkt auf das vegetative System. Sie wirkt auf die Gefühle des Hörenden. Sie löst Erinnerungen und Gedanken aus. „Dieses Phänomen wollen wir sowohl mit historischen und theoretischen als auch mit empirischen, experimentellen und kulturvergleichenden Ansätzen erforschen“, so die 1979 in Schwerin geborene Wissenschaftlerin. Indem die Wirkungen der Musik mit derart unterschiedlichen Disziplinen unter die Lupe genommen werden, soll deutlicher werden als bisher, was es im Grunde ist, das die vielbeschworene „Kraft der Musik“ ausmacht. Ein aktuell bearbeitetes Teilprojekt befasst sich dabei mit dem „Musikgeschmack“.
Wie kommt jemand dazu, Neue Musik zu mögen? Warum stehen so viele ältere Menschen auf Folklore? Wie bildet sich der musikalische Geschmack der heutigen Jugend heraus? Die Forschungen im Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik beginnen damit, dass Methoden entwickelt werden, wie man den Musikgeschmack differenziert erheben kann. Melanie Wald-Fuhrmann: „Wir fragen nach dem Entstehen von Geschmack zwischen ‚Vererbung‘, ‚Eigentätigkeit‘ und ‚Schlüsselerlebnissen‘.“
Eine bis dato unbekannte Musik kann einen so großen Eindruck machen, dass sie zu einer Neuorientierung des Geschmacks führt. Das ist mit „Schlüsselerlebnissen“ gemeint. In die Erhebungen der Musikforscher fließen aber natürlich auch kulturelle Aspekte des Elternhauses und der Sozialisation ein. Denn natürlich kann der kulturelle Hintergrund der Eltern, ihr musikalisches Engagement ebenso wie die elterliche Schichtzugehörigkeit und das Familieneinkommen den eigenen Geschmack deutlich beeinflussen.
Über die Wirkungskalküle
In die einzelnen Forschungsprojekte sind Komponisten und Musiker integriert, die sich für die Wirkung ihrer Arbeit interessieren, sie bewusst zu erzeugen suchen und die „Wirkungskalküle“ in Form von Experimenten genauer erforschen möchten. Wald-Fuhrmann: „In einem aktuellen Projekt über mögliche Effekte von Körperkontakt beim Singen auf Ausführungsqualität und Gemeinschaftsgefühl arbeiten wir zum Beispiel mit Thomas Heyer und seinen Studierenden zusammen.“ Heyer, Gesangsprofessor an der Frankfurter Musikhochschule, interessiert sich selbst sehr für die wissenschaftliche Modellierung gesangspädagogischer Techniken und Praktiken.
Dass jemand alles mag, was die Musikgeschichte zu bieten hat, dürfte kaum vorkommen. Schon die Aussage „Ich mag Klassik!“ ist zu hinterfragen. Ist Klassik doch ein sehr weites Feld.Die Aussage hat oft eher etwas mit persönlichen Ansichten über das Qualitätsniveau verschiedener Musikarten zu tun. Wer sich als Klassikliebhaber outet, will meist zu verstehen geben, dass er mit Schlagern nichts am Hut hat. Doch worauf „steht“ er oder sie tatsächlich? „Wir fragen auch nach Unterschieden innerhalb einer Musikrichtung“, bestätigt die Abteilungsdirektorin: „Warum mag der eine Klassikliebhaber Brahms, der andere Bruckner?“ Wie setzt sich die jeweilige Musiksammlung zusammen? Und wie verhält sie sich zu dem, was man in einer Umfrage als Musikgeschmack angeben würde?
Wie über Musik sprechen
Ob jemand über ein soeben gehörtes Gstanzl spricht oder einem Freund von einer komplexen Komposition, gestern im Sinfoniekonzert gehört, berichtet, dazwischen liegen mindes-tens so viele Welten wie zwischen den beiden Musikformen selbst. Christian Bär, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, geht in seiner Dissertation der Frage nach, wie Menschen über Musik sprechen. Er untersucht etliche Rezensionen von – insbesondere subkultureller – Popmusik und analysiert die Userkommentare. Dabei interessiert ihn besonders, wie Urteile und Gefallen artikuliert werden. Was meint jemand, wenn er die „fetten Beats“ lobt?
Melanie Wald-Fuhrmann, die Musikprofessorin in Lübeck und Berlin war, legte in den vergangenen Jahren einen persönlichen Forschungsschwerpunkt auf die Themen „Musikästhetik“ sowie „Musik und Bedeutung“. Im Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik arbeitet sie mit 16 Kollegen zusammen. Das Team beschäftigt sich gegenwärtig in einem dritten Projekt mit der Frage, ob man denn wirklich von einer „Krise des Konzerts“ sprechen kann.
Oft wird beklagt, dass klassische Konzerte out seien. Junge Menschen haben keine Lust mehr, ohne „Show“ so lange still zu sitzen. Auch wird die jüngere Generation von den klassischen Themen kaum berührt. Das noch vorhandene Konzertpublikum wiederum ist überaltert und vom Aussterben bedroht. Den finanziellen Aufwand für Orchester, Chöre, Solisten und Opernhäuser zu legitimieren, fällt Konzertveranstaltern, allen voran die öffentliche Hand, immer schwerer.
Und doch haben Konzerte nach wie vor ihre Berechtigung und ihre Bedeutung. Sie bescheren Erlebnisse, die das beste Surroundsystem daheim nicht bieten kann. Das Team um Wald-Fuhrmann will herausfinden, welche genuinen Erlebnisse genau vermittelt werden. Dieses Projekt hat einen stark interaktiven Fokus: „Wir wollen zeigen, dass das Publikum auch in einem Klassik-Konzert nicht nur ein bewegungslos-passiver Empfänger der Botschaft von der Bühne sein muss.“ Es gibt durchaus Interaktionsformen: „Sie sind es nicht zuletzt, die ein Konzert für Musiker und Publikum zu einem besonderen Erlebnis machen.“
Das heutige Publikum schätzt es, mit Künstlern Tuchfühlung zu haben. Doch wie ist das möglich? Und was halten Künstler davon? Für dieses Projekt werden auch Musiker interviewt. Was in der Konzertforschung, so Wald-Fuhrmann, bislang kaum vorkäme. Außerdem wird ein eigenes „ArtLab“ gebaut: „Das wird ein architektonisch ansprechender Raum für verschiedene kulturelle Darbietungen, also auch Konzerte, sein, das zugleich als Labor zur Publikumserfoschung funktioniert.“ So können während einer Aufführung verschiedene Daten des Publikums erhoben werden: physiologische Reaktionen, Selbstauskünfte sowie beobachtetes Verhalten.