Soziale Ungerechtigkeit ist kein neues Phänomen. Ebenso lange wie den Protest dagegen gibt es Arbeiterlieder, die seit 2014 zum immateriellen Kulturgut gehören. Wer sich dafür interessiert, stößt im Zentrum für Populäre Kultur und Musik in Freiburg (ZPKM) auf reiches Archivmaterial.
Kampf um Emanzipation und Partizipation
Hier finden sich zum Beispiel Lieder, die in der Weimarer Republik und damit in jener Zeit, als auch das politische Kabarett einen Höhepunkt erlebte, in Arbeiterkreisen gesungen wurden. Aber nicht nur Revolutionäres liegt digitalisiert vor. In katholischen Arbeiterkreisen um Adolph Kolping wurde aus christlicher Perspektive gesungen. Wer im Bestand der Arbeiterliederbücher bis 1945 gräbt, stößt zum Beispiel auf das „Liederbuch für katholische Gesellenvereine“ von 1856. Oder auf das „Feierabend“ übertitelte „Liederbuch für den katholischen Gesellenverein“, das 1897 in Coesfeld erschien.
In politischen Arbeiterliedern wird nicht zuletzt der ausbeuterische Tanz ums Goldene Kalb angeprangert. Ein Beispiel dafür ist die „Internationale“. ZPKM-Leiter Michael Fischer hat sich hiermit unlängst befasst. Als Chorlied sei die „Internationale“ erstmals am 23. Juli 1888 im nordfranzösischen Lille aufgeführt worden: „Gleichzeitig erschien ein Liedblatt in einer Auflage von 6.000 Stück.“ Richtig bekannt wurden Text und Melodie durch den XIV. Parteitag der französischen Arbeiterpartei 1896 in Lille: „Dort sollen 20.000 Kundgebungsteilnehmer, begleitet von einer Arbeiter-Blaskapelle, die ‚Internationale‘ angestimmt haben.“
Das im April 2014 als Forschungseinrichtung der Universität Freiburg gegründete Zentrum für Populäre Kultur und Musik ging aus dem 1914 gegründeten Deutschen Volksliedarchiv hervor. Im Projekt „Arbeiterlied digital“ sind vier Sammlungen zur Arbeitermusikkultur im deutschsprachigen Raum zusammengefasst. Sie umfassen über 10.000 Einzelbelege, darunter historische Arbeiterlieder, Schlagerparodien, Berliner Kinderlieder, 100 Arbeiterliederbücher sowie 1.780 Tonaufnahmen. Die „Internationale“ ist zum Beispiel in einer „Artiphon“-Aufnahme, gespielt von der „Schalmei-Kapelle des R. F. B. Berlin-Cöpenick“, dirigiert von Erdmann Sommer, zu hören.
Die Lieder erzählen vom Kampf um Emanzipation und politische Partizipation. Auch wenn die Zeitumstände völlig andere waren als heute, gibt es etliche Brückenschläge in die Jetztzeit. Denn auch heute, sagt Michael Fischer mit Blick auf die aktuell wieder steigende Arbeitslosigkeit oder die Auseinandersetzungen um den Mindestlohn, ist die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit von hoher Relevanz. Zu denken ist auch daran, dass es nach wie vor Kinderarbeit auf dieser Welt gibt. Und nach wie vor bleibe eine postkoloniale Perspektive in Bezug auf das kapitalistische Wirtschaften in anderen Länder wichtig.
Michael Fischer interessiert sich aktuell für einen ganz besonderen Aspekt der Thematik „Historische Arbeiterlieder“: Er plant im Lauf des Jahres ein kleines Bändchen zu „Religiösen Sozialisten in der Weimarer Republik“ herauszugeben. Zwei „Kampf- und Glaubens-Lieder der religiösen Sozialisten“ vom Ende der 1920er Jahre nimmt er sich dabei vor. Religiöse Sozialisten gehen weit über das hinaus, wofür Adolph Kolping kämpfte, sagt der ZPKM-Direktor. Der religiöse Sozialismus ist für ihn vor allem deshalb so interessant, weil „Sozialismus“ und „Kirche“ eigentlich als konträr zueinander aufgestellt gelten.
Dass Michael Fischer großes Interesse vor allem an solch rarem Liedgut hat, verwundert nicht mehr, wenn man um seine ursprüngliche Ausbildung weiß: Er ist Theologe. Als solcher wiederum hatte er schon immer sehr viel mit Musik zu tun gehabt. Wie interessant die ungewöhnliche Verbindung der Themen „Religion“ und „Arbeiterlieder“ ist, können Weihnachtslieder aufzeigen. „Es gibt zum Beispiel nicht nur die kleinbürgerliche ‚Stille Nacht‘ mit ihrem hohen emotionalen Gehalt“, sagt Michael Fischer.
Traurige Nacht
Laut dem Wissenschaftler dichtete die Arbeiterbewegung dieses Lied sehr früh schon parodistisch um. Etwa um 1900 verfasste Boleslaw Strzelewicz, Holzbildhauer, sozialistischer Vortragskünstler und Leiter der ersten Profi-Spielgruppe der Sozialdemokratie, die „Arbeiter-Stille-Nacht“. Die geht so: „Stille Nacht, traurige Nacht, / hast Du Brot mitgebracht? / Fragen hungrige Kinderlein. / Seufzend spricht der Vater: Nein. / Bin noch arbeitslos!“. Theologisch ist dem Forscher zufolge gegen eine solche Parodie im Übrigen nicht das Mindeste einzuwenden. Denn was bedeutet Weihnachten? Gerade an diesem Fest stelle sich doch die Frage nach Gerechtigkeit.
Ganz besonders spannend ist für den Direktor des Zentrums die Sammlung von fast 900 Schellackplatten mit Liedern und Musik der Arbeiterbewegung vor 1933: „Diese Fülle an Tondokumenten ist wirklich ganz unglaublich.“ Zusammengetragen wurden die Platten von dem Privatsammler Klaus-Jürgen Hohn. Seit 2011 liegen die Audio-Inhalte und seit 2019 die Plattenetiketten digitalisiert vor. Wer mag, kann sich über die ZPKM-Homepage den „Sozialisten-Marsch“ von Carl Gramm, die Marseillaise, den 1910 in Berlin aufgenommenen „Mailiedermarsch“ von Adolf Becker oder den Marsch „Wir Männer in der Bluse sind’s“ anhören.
Michael Fischer bedauert, dass das umfangreiche Archiv seines Zentrums nicht noch stärker für Forschungsarbeiten genutzt wird. Eine Fülle von Themen ließe sich mit dem Material beackern. Arbeiterlieder sind nicht nur musikwissenschaftlich, sondern auch politologisch, soziologisch und historisch interessant. So lässt sich zum Beispiel aus den Arbeiterliedern im zeitlichen Kontext um die NS-Diktatur die Meta-Botschaft generieren, wie Nationalismus entsteht. Interessant und würdig, näher erforscht zu werden, wäre aber auch die Tatsache, dass die NSDAP Arbeiterlieder übernommen hat.
Apropos Nationalsozialismus: Inge Lammel, deren Sammlung ebenfalls im Zentrum zu finden ist, musste 1939 vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach Großbritannien fliehen. 1947 kehrte sie nach Deutschland zurück. Zwischen 1954 und 1985 leitete sie das Arbeiterliedarchiv der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik und veröffentlichte etliche einschlägige Liedersammlungen und wissenschaftliche Schriften. Die Musikwissenschaftlerin befasste sich neben dem Arbeiterlied und der Arbeitermusikbewegung vor allem auch mit der Rolle von Musik im Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Für Inge Lammel war das Arbeiterlied ein politisches Kampfmittel der Arbeiterklasse. „Es ist parteilich und kämpferisch in seiner Aussage, will die Arbeiter anspornen und zu gemeinsamem Handeln mobilisieren“, schrieb sie 1978. Ein Beispiel dafür ist das „Bergmannslied“ zur Melodie von „Strömt herbei ihr Völkerscharen“. Worin es heißt: „Drum Bergmann, bedenke reiflich, / Kannst du lindern dir dein Leid: / Einigkeit kann dich befreien, / Gib die Bruderlieb nicht auf!“.
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