Finanzknappheit und die aufwändige Umstellung der Studiengänge auf die Bologna-Struktur bringen die Musikhochschulen in unbequeme Entscheidungszwänge. Eine kritische und dennoch nicht hoffnungslose Bilanz zieht Inge-Susann Römhild, Präsidentin der Musikhochschule Lübeck (MHL), zum 100-jährigen Jubiläum.
neue musikzeitung: Welche Perspektiven ergeben sich für Sie aus der Tradition?
Inge-Susann Römhild: Ich spüre die ganz starke Verpflichtung, sowohl den Kern einer Musikerausbildung, das ist die künstlerische Elite, in jedem Fall beizubehalten und zu verbessern, als auch die Notwendigkeiten für die Musikpädagogik zu realisieren. Dieses Bekenntnis ist für uns an der MHL essentiell.
nmz: In einer Rede zum Semesterbeginn 2009/2010 haben Sie einige neue Orientierungen erwähnt.
Römhild: Die Berufsbilder von Musikern haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Es gibt zwar noch die institutionellen Orchesterstellen, aber viele unserer Studierenden wünschen sich auch so eine Art Patchwork-Beruf. Wenn man ein entsprechend gegliedertes Fächerangebot hätte, dann könnte man gerade diese Musiker sehr individuell und doch für variable Funktionen sinnvoll ausbilden. Das ist natürlich kostenintensiver, weil es in der Musik oft Einzelunterricht gibt. Wesentlich sind aber die Idee und deren Perspektiven, ohne sie wegen notwendiger Ressourcen-überlegungen vorab zu begrenzen.
nmz: Welche humanistischen Werte sind denn fürs Musikstudium zentral?
Römhild: Faszinierend an der Musik ist die Kombination komplexer Fähigkeiten. Man muss Kompositionsregeln kennen, um ein Werk interpretieren zu können, und wissen, wo Freiheiten erlaubt oder sogar gefordert sind. Einordnung und Eigenverantwortung kommen hier zur individuellen Spannung. Außerdem ist Kommunikation wichtig. Dafür ist die Kammermusik für mich wegen der konstruktiven Auseinandersetzung im Kollektiv exemplarisch. Indem man es aufs Podium bringt, wird ein Arbeitsergebnis dann vor Publikum zur Diskussion gestellt – und zwar nicht in Stein gemeißelt, sondern in einem stets kreativen Prozess, den man lernen und erleben muss. Das ist für mich der Kern, den es im Unterricht zu vermitteln gilt.
nmz: Sie sagten, die Bologna-Struktur biete auch die Chance einer Qualitätssteigerung in der Ausbildung. Wie ist die Position der kleinen MHL?
Römhild: Die MHL ist von der Anzahl der Studierenden her sicher nicht größer als Rostock oder Trossingen. Aber bei unserem Angebot mit zwei polyvalenten Bachelor- und dazu zwei Master-Studiengängen werden solche Vergleiche relativ. Unsere Stärke besteht in der Beschränkung darauf, das gut zu machen, was wir können.
nmz: Wie ist Ihre Position in der Bologna-Struktur?
Römhild: Wir waren und sind die erste Musikhochschule (MH) von 24 in Deutschland, die komplett umgestellt hat, und deren Studiengänge nicht nur genehmigt, sondern auch zusammen mit einer Agentur akkreditiert worden sind, eine Besonderheit in Schleswig-Holstein (S-H). Diese Akkreditierung ist ein Zertifikat für jetzt alle Studiengänge (mit Ausnahme des Master of Education). Es bescheinigt, dass alle aufgelisteten Studiengänge gut konzipiert sind, aber auch, dass man sie vorhalten muss. Dadurch, dass unsere Akkreditierung erfolgte, bevor die Studiengänge eingeführt waren, was an keiner MH in Deutschland so war, konnten wir sie nicht wirklich erproben. Entgegen unseren Erwartungen hatten fast alle Studierenden den Einzelunterricht gewählt. So mussten wir nachjustieren und drastische Reduzierungen hinnehmen, um in einem bezahlbaren Umfang ein vertretbares Lehrangebot bereitzustellen.
Dieser Zwang zur Reduktion bestätigt scheinbar Kritiker an der Bologna-Idee. Doch wir glauben, dass zu einer adäquaten Musikausbildung genuin Individualität gehört, gerade auch mit Blick auf die Breitenwirkung. Deshalb haben wir ein doppeltes Mentorensystem eingeführt, sodass Studierende, ganz im Sinn der Bologna-Struktur, von zwei Mentoren aus verschiedenen Blickwinkeln beraten und betreut werden können. Wegen potenzieller kritischer Einwände haben wir hier das Kollegium sehr früh eingebunden. Damit uns nicht hinterher diktiert wird, was wir zu tun haben, wollen wir versuchen, selbst zu denken und zu gestalten. Wir finden nun, dass es uns in Lübeck sehr gut gelungen ist.
nmz: Welche Funktion hat die Evaluation, die im Januar 2011 stattfand?
Römhild: Das Wissenschaftsministerium S-H hat Karin Donhauser von der Humboldt-Universität Berlin als Vorsitzende beauftragt, in Abstimmung mit uns eine Strukturkommission zu bilden. Deren fünf Mitglieder haben von uns Materialien bekommen und Gespräche geführt. Einen Bericht werden sie bis März 2011 vorlegen. Wir erhoffen uns von der Analyse und Auswertung genügend Argumente für einen konstruktiven Dialog mit dem Ministerium, damit klar wird, welchen Notwendigkeiten wir Gehör schenken müssen, um in gemeinsamer Anstrengung herauszuarbeiten, welche Hochschule das Land S-H ab 2014 haben möchte.
nmz: Wie würden Sie die aktuelle Situation kennzeichnen?
Römhild: Nicht von ungefähr haben wir ja den Start der MHL im Jahr 1911 gewählt, um bewusst zu machen, was sich seitdem über viele Stationen hier an Musikausbildung etablieren konnte. Auch wenn wir wissen, dass ein Land wie S-H nicht über wünschbare Ressourcen verfügt, erbringen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten eine absolute Spitzenleistung.
nmz: Sie haben, proportional gesehen, sehr viel mehr Lehrbeauftragte als normalerweise üblich. Können Sie unter diesen Bedingungen das angestrebte Ausbildungsniveau garantieren?
Römhild: Bei der Erörterung von Zahlen kommt es mir darauf an, nicht zu klagen, sondern Fakten festzustellen. Fakt ist, dass eine fiktive vergleichbare Hochschule in Relation zu unserem Lehrangebot etwa 50 bis 55 Professorenstellen haben sollte. An der MHL haben wir 38 Stellen, davon eine für die Präsidentin, und von den 37 verbleibenden sind zurzeit 6 nicht besetzt. Das ist eine Vakanzrate um die 20 Prozent. Um ein akkreditiertes Studienangebot vorzuhalten, müssen wir die verbleibenden Aufgaben mit Lehrbeauftragten erfüllen. Fairerweise muss ich sagen, dass wir einen Teil des Geldes, mit dem man eine Professorenstelle finanzieren könnte, für die Bezahlung der Lehrbeauftragten nutzen. Ein prekärer Aspekt. Wenn man nur daran denkt, kostengünstig hervorragende Leistungen einkaufen zu können, müsste man perspektivisch das Hochschulsystem überdenken. Neben den verbeamteten Professoren haben wir hervorragende freiberufliche Lehrbeauftragte, die von Semester zu Semester engagiert, aber für die gleiche Arbeit, die ein Professor macht, ungleich schlechter bezahlt werden. Das birgt auch ein gewisses Potenzial an Unmut. Dennoch würde ich die Ausgangsfrage mit Ja beantworten.
Im Kontext des immensen organisatorischen Aufwands für die Bewältigung der Bologna-Struktur darf ich allerdings nicht mit Ja antworten. Die akademische Selbstverwaltung braucht aufgrund der Gremien, die eingeführt werden müssen, und des Betreuungsfaktors, der sich aufgrund der Modularisierung der Studiengänge erhöht hat, mehr Arbeitskapazitäten. Es fehlt also Personal, an das Arbeit delegiert werden könnte. Da kann ich hauptamtliche Kollegen einspannen, aber nicht Lehrbeauftragte, die weder Prüfungstätigkeit noch Gremienarbeit vergütet bekommen. Wobei zu berücksichtigen ist, dass die hauptamtlichen Kollegen durchschnittlich 20 Prozent über Deputat arbeiten. Insofern sind wir über eine externe Evaluation gar nicht unglücklich, um zu prüfen, ob wir die genannten Fakten falsch sehen oder richtig darstellen.
nmz: Was erwarten Sie davon?
Römhild: Auf der Basis dieser Evaluation hoffen wir auf gute Entwicklungen. Dieses Jahr zu feiern ist auch ein Signal dafür, dass wir stolz darauf sind, was wir tun. Wir wollen der einzigen MH in S-H zu mehr Popularität verhelfen, weil wir beobachtet haben, dass uns viele Menschen nicht kennen. Gerade mit Blick auf die Landeshauptstadt Kiel müssen wir das ändern, denn in S-H sind wir der größte Konzertveranstalter. Und deshalb ist diese Reihe „Wir in Kiel“ geplant. Am Theater dort wird uns freundlicherweise das Foyer für insgesamt fünf Veranstaltungen zur Verfügung gestellt. Diese Kooperation soll fortgesetzt werden. Dahinter steckt der Versuch intensivierter Öffentlichkeitsarbeit.
nmz: Wie ist nun das Profil der MHL?
Römhild: Unsere Verabredung mit dem Land ist, jährlich 93 Studierende aufzunehmen. Um diese 93 Studienplätze bewerben sich ungefähr 1.400 Studieninteressierte. Diese Nachfrage ist, auch international gesehen, sehr groß. Menschen aus über 40 Nationen sind bei uns und für uns zum Vorteil, denn Musik ist da ein Medium zur Völkerverständigung. Unsere und jede andere Hochschule hat in diesem Sinn eine integrative Funktion.
nmz: Wird die MHL angemessen respektiert?
Römhild: Die Reputation der MHL hat sich in den letzten Jahren kolossal zum Positiven verändert, was schon an den erwähnten Bewerbungen um Studienplätze zu erkennen ist. Ebenso werden unsere Kompetenzen und Erfahrungen bei der Umstellung auf die Bologna-Struktur beim Vorstand der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen und bei anderen Institutionen angenommen. Glücklich und dankbar sind wir darüber, dass die Regierung in Kiel uns schätzt und wir unser Verständnis füreinander zu einem besseren Dialog entwickeln wollen, um akzeptable Lösungen für die Ausbildung zu erarbeiten. Die MHL möchte das Land nicht nur schmücken, sondern dem Land dienen.
nmz: Und in Lübeck?
Römhild: Hier in Lübeck fühlen wir viel Sympathie. Unsere Konzerte, übers Jahr etwa 300, werden sehr gut besucht. Allerdings haben wir einen großen Bonus, weil wir im Zentrum der Altstadt residieren. Wir glauben auch, dass wir der Hansestadt Lübeck etwas bieten, worauf sie stolz sein kann. Wir empfinden das als Geben und Nehmen. Doch im Fokus müssen immer die Studenten bleiben, denn sie sind unsere Daseinsberechtigung.