„Als ich letzten Sommer auf Sizilien war, gab es im Haus nebenan Bauarbeiten. Eines Tages kam während der Mittagspause ein Maurer, der zu dieser Baustelle wollte, doch als er klingelte, machte ihm keiner auf. Da stellte er sich vor eines der Fenster und begann mit einer herrlichen Tenorstimme ,Nessun dorma‘ zu singen, wunderschön!“
Die 30-jährige Sopranistin Lara Venghaus erzählt begeistert von diesem Erlebnis in Italien, das ihr wieder einmal vor Augen (und vor allem vor Ohren) geführt hat, dass die Affinität der italienischen Bevölkerung zur Oper bis heute ungebrochen ist und alle gesellschaftlichen Schichten durchdringt. Wir befinden uns bei unserem Gespräch mehr als 2.000 Kilometer nördlich von Sizilien, an der Universität Bielefeld, einem „monströsen Beton-Gebäude der 1970er-Jahre“, wie die Uni auf ihrer Homepage ihr architektonisches Zuhause in bestechender Offenheit beschreibt. Hier, im Audimax, wird in wenigen Tagen Giuseppe Verdis „La Traviata“ aufgeführt werden und die Betonburg wird sich in einen Musentempel verwandeln.
Ungefähr 200 Mitwirkende (neben den drei professionell besetzten Hauptrollen fast alles Laien) stellen an drei Abenden im April 2017 eine komplette Opernaufführung auf die Beine und laden bei freiem Eintritt alle Interessierten herzlich zu „Oper im Audimax“ ein. Federführend sind das Universitätsorchester Bielefeld unter der Leitung von Michael Hoyer sowie Lara Venghaus in ihrer Funktion als ehrenamtliche Projektleiterin. Die junge Sängerin hat die Partie der „Violetta“ (der weiblichen Hauptrolle) übernommen und ist außerdem zuständig für Inszenierung, Pressearbeit, Sponsorenakquise, Programmheftredaktion, Kostümbild und alles, was irgendwie sonst keiner macht. Regie führt Sebastian Menke.
Ein großes Projekt, das mit einem geradezu winzigen Budget auskommen muss. Es ruht auf wenigen Schultern und basiert zugleich auf dem, größtenteils ehrenamtlichen, Zusammenwirken vieler verschiedener Menschen im Alter von 16 bis knapp 90 Jahren: (aktive und ehemalige) Studenten und Universitätsmitarbeiter, Schüler und Senioren, Hartz-IV-Empfänger und Wohlhabendere, Einheimische und Migranten (zehn verschiedene Sprachen sind vertreten) – sie alle waren zuvor kaum mit Oper in Berührung gekommen und erarbeiten nun gemeinsam, in monatelanger Probenarbeit und Vorbereitung die „Traviata“.
Ein genauerer Blick auf diese „Opernneulinge“ lohnt: Da musiziert in der Gruppe der ersten Geigen ein vor 17 Monaten angekommener Flüchtling, der nur seine Geige und seine Laute aus Syrien hat mitnehmen können und nun glücklich ist, zum ersten Mal Oper spielen zu dürfen. Auf der Bühne proben Mädchen aus der Ballettschule des Theaters Bielefeld für ihre Auftritte als Zigeunerinnen, in einem Bühnenbild, das 16-Jährige im Kursus „Kreatives Gestalten“ an ihrer Gesamtschule in Werther bei Bielefeld entworfen und umgesetzt haben. An den Kostümen wirkt fleißig ein junger afghanischer Schneider mit, der erst nach der Flucht Lesen und Schreiben gelernt und bis dahin ausschließlich traditionelle afghanische Gewänder geschneidert hat. Jetzt näht er Opernkostüme der 1920er-Jahre und beeindruckt durch die Schnelligkeit und Genauigkeit, die er dabei an den Tag legt. Ebenso dabei ist die Anglistikstudentin Sina Nobbe, der aufgrund ihrer angeborenen Spastik ein Gesangsstudium verwehrt geblieben ist, die nun aber als Mitglied des Chores erstmals ihren Traum lebt, auf einer Bühne Oper zu singen. Auch sie lerne ich bei meinem Besuch an der Bielefelder Uni kennen und ich sehe die Freude und Begeisterung der jungen Frau, endlich Oper singen zu dürfen.
„Es sollten viel mehr Laien Opern aufführen, um diese kennen und verstehen zu lernen. Dann würden auch wieder mehr Leute in die Theater und Opernhäuser gehen“, erklärt Lara Venghaus. Gerade der freie Eintritt, aber auch das Audimax als Raum, den die Studenten in ihrem Alltag regelmäßig betreten, schaffen wichtige Rahmenbedingungen, durch die insbesondere für die jungen Leute die Hemmschwelle entscheidend gesenkt wird. Lara Venghaus kann dies mit Erfahrungswerten belegen, denn die „Traviata“ ist schon die dritte Oper, die durch das Bielefelder Uniorchester im Audimax zur Aufführung kommt. „Ja, tatsächlich begannen wir 2009 im kleinen Rahmen mit einer teilszenischen Aufführung des ,Freischütz‘. 2012 folgte dann ,Die Zauberflöte‘ bereits als vollständige Inszenierung. Damals mussten wir bei beiden Aufführungen jeweils 500 Leute wieder wegschicken, da die 800 Plätze des Audimax schon besetzt waren. Es gab deshalb ein paar Monate später auf Wunsch der Uni eine Wiederaufnahme. Somit hatten wir am Ende ein Prozent der Bielefelder Bevölkerung erreicht.“
Ein Riesenerfolg und so scheint es ganz natürlich, dass das diesjährige Opernprojekt noch umfassender ist. Es wird ergänzt durch eine interdisziplinäre Vortragsreihe mit Themen rund um „La Traviata“, eine Fotoausstellung dokumentiert die Genese der Inszenierung, zudem hat Michael Hoyer den Operntext in deutscher Sprache vorgelegt und vor den Aufführungen gibt es jeweils eine halbstündige Einführung für Flüchtlinge durch den oben erwähnten syrischen Geiger.
Die Frage „Wie wird das klingen?“ wird bei der Premiere am 21. April beantwortet, anlässlich derer viele Studenten, aber auch eine große Zahl Älterer gespannt im Audimax sitzen. Mangels Orchestergraben sind die Musiker der Bühne vorgelagert und damit gut sichtbar. Das karge Ambiente des Audimax ist bereits nach wenigen Klängen vergessen – eine eigene Opernwelt entsteht. Wer hier höchste Präzision erwartet, ist – natürlich – fehl am Platz. Aber darum geht es nicht. Hier erlebt und durchlebt man alles, was Oper bieten kann. Die Musiker, Sänger und Tänzer leisten Großartiges, begeistern, reißen mit – und auch das Niveau ist erstaunlich hoch. Es führt dem staunenden Opernbesucher vor Augen und vor Ohren, wozu „Laien“ im Stande sind.
Blog zum Opernprojekt des Universitätsorchesters Bielefeld: