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Mit eigenen Werken beim Symposium „Musik der Kulturen – Kulturen der Musik. Formen der Vermittlung“ vertreten: die Kompositionsklasse von Prof. Oliver Schneller. Foto: S. Diesner
Mit eigenen Werken beim Symposium „Musik der Kulturen – Kulturen der Musik. Formen der Vermittlung“ vertreten: die Kompositionsklasse von Prof. Oliver Schneller. Foto: S. Diesner
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Komponieren ist per se interkulturell

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Symposium an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf zum Dialog der Kulturen
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In Kooperation der künstlerisch-pädagogischen Ausbildung an der Robert Schumann Hochschule (RSH) mit der Kompositionsklasse Oliver Schneller an der RSH fand am 21. April 2022 ein Symposium zum Thema „Musik der Kulturen – Kulturen der Musik. Formen und Vermittlung“ statt.

Neben Oliver Schneller und Wolfgang Rüdiger (Konzeption und Leitung) referierten Frank Kämpfer, Redakteur für neue Musik und künstlerischer Leiter des Forums neuer Musik im Deutschlandfunk, und die argentinische Komponistin und Kompositionslehrerin Natalia Solomonoff aus Santa Fe/Rosario, deren Präsenz anlässlich eines Konzertprojektes mit dem Wuppertaler Ensemble Partita Radicale für den Düsseldorfer Thementag genutzt werden konnte. Neben zahlreichen Musikbeispielen in den Vorträgen kamen – als Uraufführung – das Solowerk „cl / oud“ für Violoncello (2022) von Martin Sadowski (Kompositionsklasse Prof. Oliver Schneller), bravourös gespielt von Hyunah Pyo, und „Vietnamibie“ aus Henri Pousseurs & Michel Butors ethno-elektroakustischer Musik „paysages planétaires“ (2000) zu Gehör.

Den Einstieg in das ganztägige Symposium machte Frank Kämpfer mit dem Thema „Divers, Politisch, Dekolonial? Denk- und Erkenntniswege beim Forum neuer Musik im Deutschlandfunk“. „Komponierende aus aller Welt, kommt bitte ins Funkhaus!“ lautet der Slogan, mit dem Kämpfer die Erzählung seiner mehr als zwanzigjährigen Arbeit beim diskursiven Forum neuer Musik unter der Frage einleitete, was dieses zur Integration und Pluralität in unserem Land beigetragen hat. Desiderate waren vor allem Themen wie die junge Generation, die Ostdeutschen, die Osteuropäer, vor allem Südost-Europäer, und in allererster Hinsicht die Frauen in der Musik, dann auch Musik aus Fernost, Mittelasien und Lateinamerika.

Damit war das Thema Kolonialismus angeschnitten: „News from the Colonies!“ war Thema des Forums 2013, gefolgt von postkolonialen Themen und Theorien mit radikaler Hinterfragung der dominanten Rolle „des Westens“ im Blick auf die Rückkehr einer polyzentrischen Welt und dezentriertes kaleidoskopisches Denken (Boike Rehbein). Mit „Echoes of ’68“ und „Im Anthropozän“ reagierte das Forum vermehrt auf aktuelle gesellschaftliche Themen und schrieb kulturelle Vielfalt durch Integration, „Pluralität als Identität“ auf seine Fahnen – was dann im zweiten Teil des Vortrags in Vorschau auf das kommende Forum neuer Musik 2022 „Der doppelte Blick“ (nach Brecht, Benjamin, feministischer Literaturtheorie etc.) thematisch wurde: Vermessung kolonialer Kontexte älterer Musik in neuen Werken und einem Lateinamerika-Programm, für das Denker wie Aníbal Quijano, Enrique Dussel und Walter Mignolo sowie Jens Kastners „Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika“ das theoretische Rüstzeug einer anhaltenden „Kolonialität der Macht“ im Kapitalismus und neue Perspektiven einer „Trans-Moderne“ mit Bejahung des Anderen bereitstellen.

Ungewissheit und Spannung

Daran knüpfte der Vortrag „Begegnungen im Klang. Komposition als Dialog der Kulturen“ der in der Zeit der Militärdiktatur aufgewachsenen argentinischen Komponistin Natalia Solomonoff (*1968) an, in dem sie Beispiele für den konstanten Kolonialismus in Argentinien gab und den Merksatz „Meine Kultur ist verschieden“ – im Sinne von heterogen, „mestizisch“ – prägte. Komponieren bedeutet für Solomonoff eine Begegnung zwischen Menschen, ein engagiertes Verhalten zur Welt und die Möglichkeit, eine Brücke und Verbindung zwischen den Kulturen zu schaffen, durch Musik zu kommunizieren. Nach einem kursorischen Überblick über wichtige Ereignisse in der Entwicklung der neuen latein­amerikanischen Musik ab 1960 stellte sie im ersten ihrer vier „Dialoge“ (hier mit der Gegenwart) das Trio „Quema“ für Oboe, Klarinette und Fagott (2018) vor, in dem sie das „Verbrennen“ Argentiniens durch die Politik ebenso wie die eigene Wut, Trauer und Zerrissenheit über die Zustände in ihrem Heimatland in verschiedene klangliche Texturen verwandelt.

Ihr zweiter Dialog widmete sich dem Werk „Piedra viva“ (2017) für das Ensamble de Cámara de la Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN) de La Paz (Bolivia), ein (inter)kultureller Dialog mit der Aimara-Kultur und Musik und den ethischen Aspekten des Miteinander Arbeitens und Lernens. Solomonoffs Dialoge über ihr aktuelles Improvisationsprojekt und ein Werk für Jugendorchester mit dem Titel „Suelo Incierto Cielo“ (Boden Unsicher Himmel), in dem sich das Gefühl der Ungewissheit und Spannung angesichts der sozialpolitischen Situation spiegelt, leiteten sodann organisch über in den Nachmittagsblock.

Aus Zuhörern werden Spieler und Zeugen

Wolfgang Rüdigers Praxis-Vortrag „Was nun, weinendes Krokodil? Welt und Körper in musikalischen Werken aus Lateinamerika und den Philippinen“ schloss sich geradewegs an Solomonoffs Ausführungen an. Gegenübergestellt und verglichen wurden – am Klavier und in Youtube-Videos – das Klavierstück „¿Y ahora?“ des uruguayischen Komponisten Coriún Aharonián aus dem Jahre 1984 und das Konzeptstück „PATANGIS-BUWAYA“ für Bläser und Schlagzeug des philippinischen Komponisten Jonas Baes. Arbeitet Aharonián in „¿Y ahora?“ (Und nun?) mit dem kargen Material von Ein-Ton-Pulsation und drei kontrastierenden Gesten aus der Tradition des Tangos als Ausdruck deklassierter Immigranten seit Ende des 19. Jahrhunderts, so bringt er damit auf eindringliche Weise Angst und Unsicherheit, Wut und Weinen angesichts der ungewissen politischen und gesellschaftlichen Zukunft 1984 in Uruguay zum Ausdruck (Ablösung der Militärdiktatur durch die Demokratie). Ähnlich und doch ganz anders artikuliert Jonas Baes in „PATANGIS-BUWAYA“ (Und das Krokodil weint) den Schmerz über den Raubbau an Mensch und Natur auf den Philippinen: ein Blatt mit einer Graphik und verbalen Anweisungen für Klangaktionen zwischen Ton und Stille, Atem und Schrei, bei denen die Hörer*innen am Schluss mit Steinen und Vogelpfeifen aus dem Regenwald aktiv werden und die Rollen sich umkehren: aus Spielern werden Hörer, aus Zuhörern Spieler, Zeugen und Mitglieder einer weltweiten Gemeinschaft gegen die Veränderung und Zerstörung unserer natürlichen Umwelt – eine politische neue Musik aus gesellschaftlicher Verantwortung, interpretativer Aneignung und kreativer Verwandlung der sozio-ökonomischen Realität der eigenen Kultur.

So sind die beiden Werke aus Sicht einer praxeologischen Kulturtheorie verschieden und verwandt zugleich: als je spezifische Formen kompositorischer Aneignung und Verarbeitung von am eigenen Leibe erfahrenen Prozessen und „Praktiken kollektiver Lebensformen“ – Kunst verstanden als die Stimmen der Anderen, auf deren Ansprüche wir kreativ antworten und von denen wir lernen.

Mit dem Thema „Pluralität der Modernen? Interkulturalität in der Neuen Musik“ rundete Oliver Schneller das Symposium ab. Wie wenige verkörpert Schneller als kosmopolitischer Künstler, der in verschiedenen Welten zuhause ist, genau das, worüber er spricht – sodass sein Vortrag über die Stationen seines „migrantischen“ Lebens und Wirkens als Komponist und Kompositionslehrer zu einem Plädoyer für Pluralität in Person und für die Anerkennung des Anderen jenseits gültiger Modelle westlicher neuer Musik und kolonialistischer Attitüden sogar kritischer Komponisten unserer Zeit geriet (muss eine Kompositionsstudentin aus Ghana sich mit der Kultur ihres Landes auseinandersetzen?).

Kosmopolitischer Blickwinkel

Schnellers interkulturelles Engagement gründet sicherlich auch darin, dass er in Irland, Sudan, Belgien, den Philippinen („ich wurde ein philippinischer Teenager“) und in Nepal aufgewachsen ist, wo er am Goethe Institut Kathmandu ein Projekt zur Förderung lokaler Musikkulturen leitete. Schneller sprach unter anderem über das Projekt „Der musikalische Moment“, das er 2005 als Gastkurator am Berliner Haus der Kulturen der Welt realisierte. Hier wurde über den Begriff von musikalischer Schönheit im interkulturellen Kontext und am Beispiel japanischer und westlicher Musik mit Komponisten wie Helmut Lachenmann und Toshio Hosokawa sowie dem Philosophen Rolf Elberfeld und anderen diskutiert. 2004 konzipierte Schneller das „Tracing Migrations“-Projekt in Berlin, das zur Gründung einer laufenden Dokumentation und Datenbank für Kompositionen, Aufnahmen und Institutionen für zeitgenössische Musik aus der arabischen Welt führte. Seit 2009 arbeitet er als Sound Arts Curator bei der Taswir Platform for Philosophy and Art in Berlin. Von 2015 bis 2019 unterrichtete er als Professor der Komposition an der Eastman School of Music in Rochester und ist seit 2018 neben seiner Professur an der RSH Gastprofessor für Komposition am Zhejiang Conservatory of Music in Hangzhou, China.

Abschließend lässt sich sagen, dass das Symposium für alle Beteiligten, Redner*innen, Zuhörer*innen, Diskutant*innen, einen spannenden Einblick und Austausch bot, der den eigenen Horizont erweiterte und viele Aspekte unserer global vernetzten Welt anschnitt, die zugleich eine vertiefende Behandlung verdienen. Jeder Vortrag beinhaltete Thesen und Themen, über die man jeweils einen weiteren Thementag veranstalten könnte. Oliver Schneller fand am Ende die richtigen Worte und fasste passend zusammen: „Komponieren ist per definitionem interkulturell“.

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