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Lehrer und Gelehrter

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Das 88. Bachfest findet in Detmold unter Federführung der Musikhochschule statt
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Ein Paradox bei Johann Sebastian Bach ist, dass sich bei ihm alles leichthin wie von selbst versteht und dass doch nichts in seinem Werk selbstverständlich ist. Jeglicher Weg zu einem tieferen Verständnis bietet immer weitere Rätsel auf. Seine Musik ist unmittelbar zugänglich und doch voller Geheimnisse, deren nicht geringstes es ist, dass das Geheimnishafte selbst darin verborgen ist.

Wer von den Geheimnissen nicht weiß, wird dennoch bereichert, wer sie aber zu enthüllen versucht, wird es erst recht. Diese Musik ist vertraut, diese Musik ist verstörend. Sie bedarf keiner Begründung und gewinnt doch durch Vermittlung. Die Kompositionen sind meist an bestimmte Anlässe gebunden, die Besetzungen pragmatisch an den Aufführungsmöglichkeiten der Zeit orientiert, und doch sind sie davon losgelöst darstellbar. Bachs Musik kann man nicht „modernisieren“, weil sie in ihrer Offenheit gleichsam zeitfrei sind: durch und durch historisch in ihrer Form, ihrem Potenzial nach erschließbar für jede Epoche und deren spezifische Bedürfnisse und Möglichkeiten. Es ist die Musik eines feinsinnigen Gelehrten, der zugleich feinfühliger Lehrer zahlloser Schüler war, darunter seiner Söhne.

Diese Vielschichtigkeit wird programmatisch entfaltet beim 88. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft, das unter dem Motto „Bach – Lehrer und Gelehrter“ vom 3. bis 12. Mai in Detmold stattfindet. Die Wahl des Ortes mag prima vista verblüffen. Eigentlich erstaunlich dürfte sein, wie sinnreich das passt. Detmold ist ein überschaubarer Ort mit 70.0000 Einwohnern. Bis 1918 war es die Residenz der Fürsten von Lippe. Clara Schumann und Johannes Brahms unterrichteten hier die fürstlichen Kinder, und Albert Lortzing gehörte für eine Zeit lang dem lippischen Hoftheater an. Heute ist die Stadt Hauptort eines NRW-Regierungsbezirks, sie beherbergt ein Drei-Sparten-Landestheater und ist Standort der 1946 als Nordwestdeutsche Musikakademie gegründeten Hochschule für Musik Detmold. Für die stellt es eine Herausforderung dar, eine Veranstaltung in der Größenordnung des Bachfestes zu organisieren. Sie meistert dies auf zweierlei Art: durch Kooperationen mit örtlichen Veranstaltern, vor allem mit Kirchgemeinden, und durch eine systematische Einbindung der landschaftlich reizvollen Region, indem sie die musikalischen Eigenheiten von Ostwestfalen-Lippe nutzbar machte.

Bachs Instrument war bekanntlich die Orgel. Detmold liegt inmitten einer vielgestaltigen Orgellandschaft. Das Bachfest 2013 profitiert davon, indem es hinausgeht in die Region mit dem seltsam antagonistischen Namen Ostwestfalen. In Borgentreich befindet sich die größte Barockorgel Westfalens und Deutschlands erstes Orgelmuseum. Orgelkonzerte gibt es hier sowie an zahlreichen anderen Orten (Lemgo, Bielefeld), nicht zuletzt in der ehemaligen Abtei Marienmünster. Hier steht die kürzlich restaurierte Orgel aus der Werkstatt von Johann Patroclus Möller. Dessen Schwiegersohn und Nachfolger Daniel Christoph Vahlkamp war – ein indirekter Bezug zu Johann Sebastian Bach – ein Schüler von dessen ältestem Sohn Wilhelm Friedemann. Es ist nicht die einzige Verbindung.

Der Thomaskantor war selbst zwar nie im lippischen Land. Doch ein weiterer seiner Söhne war es: Johann Christoph Friedrich Bach. Nicht in Lippe-Detmold, sondern in der benachbarten Grafschaft Schaumburg-Lippe war er 45 Jahre lang, von 1750 bis 1795, Cembalist und dann Leiter der Bückeburger Hofkapelle. Das Bachfest lädt zu Exkursionen nach Bückeburg mit seiner Weserrenaissance-Kirche ein. Vorübergehend wirkte dort auch Johann Gottfried Herder als Hofprediger. Er hat Wilhelm Friedrich Ernst getauft, den zeitweiligen Musikdirektor in Minden und letzten komponierenden Bach.

Überhaupt ist Ostwestfalen-Lippe durchaus nicht musikalische Diaspora. Außer der Hochschule für Musik, Gastgeberin des 88. Bachfestes, und dem Landestheater ist gleich nebenan Herford Sitz der Nordwestdeutschen Philharmonie und der Hochschule für Kirchenmusik. Auch das Schloss Corvey, Kandidat für das UNESCO-Weltkulturerbe, mit dem prunkvollen Kaisersaal gehört zur Region.

Damit sind einige der zentralen Schauplätze des 88. Bachfests genannt. Das Programm bildet die formale und mediale Vielfalt ab, die die Musik von Johann Sebastian Bach charakterisiert: Das Spektrum reicht von der historisch fundierten Gestaltung eines Leipziger Kantaten-Gottesdienstes (in der Marienkirche Lemgo) bis hin zur Uraufführung einer choreographierten „Kunst der Fuge“ (mit dem Auryn Quartett und Tänzer/-innen des Detmolder Landestheaters) sowie zu anachronistischen Instrumentierungen (Akkordeon, Marimba).

Angesprochen werden Kenner und Liebhaber (um den Titel einer Sammlung von Clavierwerken von Carl Philipp Emanuel Bach zu zitieren). An die Kenner richten sich das musikwissenschaftliche Symposium „Bach: Genius – Genus – Generationen“ unter der Leitung von Rebecca Grotjahn und Peter Wollny oder auch ein Meisterkurs mit Thomas Quasthoff. Konzerte aller musikalischen Gattungen mit prominenten Interpreten (La Petite Bande, Freiburger Barockorchester, Alfredo Perl, Martin Stadtfeld …) sind geplant und für die erhofft künftigen Liebhaber ein Kindermusikfest im Detmolder Palaisgarten, ausgerichtet von der Philharmonischen Gesellschaft Ostwestfalen-Lippe.

Vielversprechend ist eine besondere Konzerteinführung: Hochkarätige Musikjournalisten des „Preises der deutschen Schallplattenkritik“ diskutieren über Bachs h-Moll-Suite BWV 1067. Und zur Einstimmung in jeden Tag dienen die „Morgenklänge“ mit wechselnden Orgelsonaten des Thomaskantors sowie Kammermusik der Söhne und Schüler Bachs, ausgeführt von Studierenden der Hochschule für Musik. Und weil Bach sich eben doch nicht ganz von selbst versteht, wird man in viele Konzerte durch Detmolder Studierende der Musikvermittlung kundig-launig eingeführt.

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