Stuttgart - Zehn Jahre nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention in Deutschland ist die Integration behinderter Schüler im Südwesten nicht weit gediehen. Der Beauftragten und der SPD geht es zu langsam. Die Kultusministerin hält hingegen an differenzierten Angeboten fest.
Die Landesbehindertenbeauftragte Stephanie Aeffner fordert mehr Engagement der Landesregierung für die Integration von Schülern mit Behinderung. Die Inklusionsquote im Land - der Anteil der Schüler mit Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen - sei unterdurchschnittlich, sagte Aeffner der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. Bundesweit liege der Wert bei 2,81 Prozent, in Baden-Württemberg nur bei 2,64 Prozent. Spitzenreiter ist Bremen mit 5,8 Prozent (Schuljahr 2016/17). Auch die SPD im Landtag stellt der Landesregierung ein schlechtes Zeugnis bei der Inklusion aus. Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hingegen warnte vor einer Inklusionseuphorie: «Nicht für jedes Kind ist ein inklusives Bildungsangebot automatisch die beste Wahl.»
Aeffner hingegen betonte: «Wir müssen in Schritten dahin kommen, dass langfristig alle behinderten Kinder und Jugendliche an den allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden.» Die Eppelheimerin (Rhein-Neckar-Kreis) fügte hinzu: «Wir brauchen keine Sonderwelten mehr.» Dazu müsse das Kultusministerium Zielvereinbarungen zur Inklusion vorgeben, die von den Schulämtern und Schulen gemeinsam umgesetzt werden. Und das müsse auch überprüft werden.
Nach Ansicht des SPD-Bildungsexperten Gerhard Kleinböck untergräbt die mangelnde Ausstattung der Schulen die Inklusion an zu vielen Standorten. Manch konservative Kraft störe es allerdings nicht, so Kleinböck, wenn Eltern ihre Kinder mit Förderbedarf aufgrund der schlechten Ressourcenlage weiterhin nicht an allgemeinbildende Schulen schicken wollten. Die SPD schlägt ein Stufenmodell vor, damit in den nächsten 15 Jahren mehr sonderpädagogische Fachkräfte an die Schulen kommen. Ziel sei das Zwei-Pädagogen-Prinzip in inklusiven Klassen, also solchen, in denen auch Schüler mit Behinderung unterrichtet werden.
Die Behindertebeauftragte sagte: «Bei Problemen mit Inklusion läuft die politische Debatte derzeit so, dass man eher über das Aussetzen der Inklusion spricht als über bessere Bedingungen dafür.» Immer noch erreichten 85 Prozent der Förderschüler keinen Abschluss. Dabei handelt es sich um Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Eine solche Quote bei Realschülern oder Gymnasiasten würde zu einem öffentlichen Aufschrei führen - und mehr Geld würde bereitgestellt werden. Für die Inklusion brauche es mehr Studienplätze für Sonderpädagogen, mehr Geld für Tandemlehrer und mehr Lehrerfortbildungen, sagte Aeffner.
Zwar nehme die Zahl der Schüler mit Handicap an Regelschulen zu - auch weil Schulleitungen sich davon mehr Ressourcen versprächen, jedoch oft zu Unrecht. Zugleich sinke die Zahl der Schüler an den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) nicht, sondern wachse sogar mancherorts noch. Denn die Eltern versprächen sich hier bessere Bedingungen - etwa kleinere Klassen und empfänden die Wahl der ehemaligen Sonderschulen für ihren Nachwuchs nicht mehr als Stigma. Die Anteil der Schüler in inklusiven Klassen liege - gemessen an allen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung - derzeit bei 15 Prozent.
Nach Überzeugung von Kultusministerin Eisenmann sagen Quoten allein wenig über den Erfolg der Inklusion aus. Entscheidend sei die Frage, an welchem Lernort der jeweilige Schüler seine Potenziale am besten entfalten könne - inklusive Angebote an allgemeinen Schulen, Kooperation zwischen Regel- und Sonderschule oder die Beschulung ausschließlich an SBBZ. Letztere würden von zahlreichen Eltern nachgefragt, weil ihre Kinder mit den besonderen Möglichkeiten dieser Schulen ein hohes Maß an Selbstbestimmung erreichten.
Die Beauftragte Aeffner lehnt das Denken in Kästchen hingegen ab. Langfristig sei der Unterricht in der Regelschule alternativlos. Diese müsse auch Kinder mit Behinderung auf das Leben vorbereiten. «Die Schonraumfalle führt dazu, dass die Kinder aus Förderschulen häufig den Anforderungen der Arbeitswelt nicht gewachsen sind.»
Die sonderpädagogischen Zentren könnten auch ohne Schüler weiter bestehen, sagte Aeffner - etwa mit Fortbildungsangeboten, Supervision, technischer Hilfe und dem Bereitstellen von Materialien für differenzierte Lernniveaus. Zudem brauche es verbindliche Vorgaben für die Unterstützung an allgemeinbildenden Schulen mit Sonderpädagogen. Vorbild seien da die SBBZ, für die das Verhältnis zwischen Sonderpädagogen und Schülern festgelegt sei.