Wenn die Stimmen von 150 Grundschulkindern durch das Treppenhaus der Hochschule für Künste Bremen schallen, kann das nur eines bedeuten: Öffentliche Generalprobe zum Familienkonzert im Bremer Konzerthaus „Die Glocke“. Dort hat sich eine 1999 entstandene Konzertreihe etabliert, bei der einmal im Monat am Sonntagvormittag Kinder und Erwachsene zum gemeinsamen Zuhören und Mitmusizieren eingeladen sind. Die Hochschule für Künste Bremen ist hierbei einer der festen Partner: Regelmäßig wird ein Konzert vom Fachbereich Musik gestaltet, so zuletzt vom Studiengang Elementare Musikpädagogik und von der Schlagzeugklasse. Das Vorkonzert im Konzertsaal der Hochschule gehört traditionsgemäß dazu.
Anfang des Jahres lud ein Projektensemble unter der Leitung von Jürgen Schrape (Choreographie) und Detlef Bratschke (Musik) zu einem außergewöhnlichen Konzert in der Reihe ein. Unter dem Titel „Auf spitzen Sohlen“ wurden historische Tänze zu Musik aus dem 16. bis 19. Jahrhundert präsentiert. Bemerkenswert daran ist neben der Tatsache, dass Konzerte mit ausschließlich Alter Musik für ein überwiegend junges Publikum ohnehin Seltenheitswert haben, dass hier die Verbindung von Musik und Bewegung, von Eindrücken für Ohr und Auge gleichermaßen zum besonderen Erlebnis wurde. Musik und Tanz trugen gleichberechtigt zum Gesamteindruck bei, waren miteinander verwoben und verstärkten sich gegenseitig.
Die von einem eigens für dieses Projekt zusammengestellten kleinen Orchester gespielte Musik war die Grundlage für die Aktionen des Tanz-ensembles; gleichzeitig verdeutlichten die Tänze die unterschiedlichen Musikstile, die in ihrer Differenziertheit sonst oft nur von Spezialisten der Alten Musik verstanden werden.
Beide Ensembles setzten sich aus Studierenden der Abteilung Alte Musik und einigen Gästen zusammen, wobei manche Musiker zwischendurch ihren Platz hinter dem Notenpult verließen, um auf der Bühne mitzutanzen. Alle Tänzerinnen und Tänzer dieser Aufführung sind nämlich in erster Linie Instrumentalisten oder Sänger/-innen.
Historischer Tanz ist jedoch für zwei Semester Pflichtfach im Studium Alte Musik, damit die Studierenden das Wesen der von ihnen gespielten Musik, die oft vom Tanz herkommt oder beeinflusst ist, besser verstehen können.
Es war für Jürgen Schrape eine Premiere, ein Tanzprogramm mit Erwachsenen für Kinder zu entwerfen. Entgegen seinem üblichen Ansatz, in einem Konzert den Schwerpunkt auf die Darstellung einer Epoche zu legen, hatte er für das Bremer Familienkonzert bewusst Tänze aus verschiedenen Epochen ausgewählt, um Vielfalt und Abwechslung in das siebzigminütige Programm zu bringen. Dieses reichte von einem deutschen Triolet-Walzer (Walzer zu dritt) über französische Barocktänze wie Loure und Gigue bis zurück zu den Balletti der italienischen Spätrenaissance. Die Musiker hatten die Originalmusik teilweise für ihre Besetzung bearbeitet. Die Choreographien stammten überwiegend direkt aus historischen Tanzanweisungen wie der 1588 erschienenen „Orchésographie“ von Thoinot Arbeau, einige waren von Jürgen Schrape in Anlehnung an Originalquellen entworfen worden.
Viele wohlüberlegte Details trugen zur großen Abwechslung im Programm und zur Verständlichkeit des Dargestellten bei: Jürgen Schrape und Klauspeter Andritzky schufen mit ihrer charmant- natürlichen, dialogisch gestalteten Moderation eine Verbindung zwischen Kindern und Künstlern, zwischen heutiger Zeit und Vergangenheit. Sie gaben auf prägnante Art und Weise Informationen zu Namen, Herkunftsländern und Entstehungszeiten der Tänze, hatten auch einmal einer Tänzerin beim Schnüren ihres Korsetts zu helfen und zeigten außerdem, dass auch sie die alten Tänze beherrschten. An einer großen Zeitleiste konnten die Kinder mitverfolgen, aus welchem Jahrhundert die jeweils dargebotenen Tänze stammten. Der Vergleich zwischen ihrem eigenen Alter und dem der Musik machte ihnen am Anfang des Konzertes deutlich, um welche zeitlichen Dimensionen es sich dabei handelte.
Das Auf- und Abtreten der Tänzer gehörte meistens mit zur Choreographie und schuf spannungsvolle Übergänge. So mischte sich ein Harlekin schon vor seiner Nummer verstohlen unter die Tänzer, um am Ende seiner „Chacoon“ hüpfend und winkend wieder von der Bühne zu laufen, noch bevor die Musik verklungen war. Mal traten die Tänzer paarweise und sehr vornehm auf, mal stürzten sie als Gruppe durcheinander rufend und scherzend auf die Bühne.
Viele der Tänze waren in kleine Szenen eingebettet, in denen allen Akteuren ihre schauspielerischen Fähigkeiten und große Spielfreude anzumerken waren. So wurden – zum Beispiel in der Darstellung von einfachem (Bauern-)Volk und höfischer Gesellschaft – die unterschiedlichen Charaktere der Rollen und der Musikstile noch eindrücklicher. Große Aufmerksamkeit, besonders unter den Jungen im Publikum, erfuhr ein ausschließlich von den Männern des Ensembles aufgeführter Schwertertanz, an dessen Ende die „Kämpfer“ erschlagen zu Boden fielen.
Requisiten wie Hüte und Fächer wurden künstlerisch in die Tänze integriert, und die Tänzer spielten zusätzlich zur Musik des Orchesters typische Instrumente wie Zimbeln und Triangeln bei einem türkisch inspirierten Tanz („Entrée pour la Cérémonie des Turqs“) oder Kastagnetten für die spanische Folia („Folie d‘Espagne“). Denn während man heutzutage bei Historischem Tanz normalerweise nur an Menuette in barocken Kleidern und Puderperücken denkt, gab es damals, wie im Konzert gut zu erkennen war, ganz eigene Klischees. Diese wurden auch durch spezielle, etwa exotisch-chinesisch aussehende Tanzkostüme unterstützt, die es schon in der Entstehungszeit der jeweiligen Musik neben der zeittypischen (höfischen) Kleidung gegeben hat. Entsprechend betonten die von der Kostümwissenschaftlerin Barbara Purrucker nach historischen Vorbildern entworfenen und in aufwändiger Einzelanfertigung von ihr und Carla Linné genähten Kostüme die verschiedenen Facetten des Historischen Tanzes und trugen zur „Farbigkeit“ des Konzertes bei. Ein gemeinsam mit den Kindern einstudierter Tanz zum bekannten Lied „Brüderlein, komm tanz mit mir“ rundete das Programm ab.
Es war erstaunlich, mit welcher Vielseitigkeit, Genauigkeit, Anmut und Ausdrucksstärke die (Laien-)Tänzerinnen und Tänzer auftraten und selbst komplizierte Choreographien und Hebefiguren wie ein Leichtes aussehen ließen. Aufs Beste unterstützt wurden sie dabei vom Orchester, das Detlef Bratschke vom Cembalo aus leitete, und einigen Sängern. Dabei kam der stark besetzten Continuogruppe und dem Percussionspieler eine besondere Aufgabe zu, denn bekanntermaßen ist ein stabiler Rhythmus unerlässlich für Tänzer. „Tanzmusik muss vom Hocker reißen“, so Jürgen Schrape, und um eine optimale Verständigung zwischen Orchester und Tanzensemble zu erreichen, wurde eine Woche lang jeden Abend gemeinsam geprobt.
Das Ergebnis konnte sich uneingeschränkt sehen und hören lassen und begeisterte Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Das junge Publikum war so fasziniert und konzentriert, dass es während der Generalprobe mucksmäuschenstill blieb und sich am Ende gerne noch eine Zugabe erklatscht hätte. Doch Jürgen Schrape erklärte, dass zuviel Applaus bei einer Generalprobe Unglück brächte und lud stattdessen alle ein, mit Freunden und Familien zwei Tage später in „Die Glocke“ zu kommen, um das Programm noch einmal zu erleben.