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Musikleben und Musikstudium als Spannungsfeld

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Überlegungen zur Reform der Ausbildung an Musikhochschulen (Teil I) · Von Christoph Richter
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In der Februar-Ausgabe der neuen musikzeitung (S. 24) stellten wir das Konzept vor, mit dem sich die Folkwang-Hochschule Essen in den kommenden Jahren reformieren will und dessen Kern eine Modularisierung des Studienangebots sein wird. Nun drucken wir in gekürzter Form einen Vortrag ab, den Prof. Christoph Richter Anfang des Jahres an der Folkwang-Hochschule zu diesem Thema gehalten hat und der in einem ersten Teil die Voraussetzungen analysiert, denen sich eine Umgestaltung des Hochschulstudiums heute zu stellen hat.

In der Februar-Ausgabe der neuen musikzeitung (S. 24) stellten wir das Konzept vor, mit dem sich die Folkwang-Hochschule Essen in den kommenden Jahren reformieren will und dessen Kern eine Modularisierung des Studienangebots sein wird. Nun drucken wir in gekürzter Form einen Vortrag ab, den Prof. Christoph Richter Anfang des Jahres an der Folkwang-Hochschule zu diesem Thema gehalten hat und der in einem ersten Teil die Voraussetzungen analysiert, denen sich eine Umgestaltung des Hochschulstudiums heute zu stellen hat.Eine Reform der Musikausbildung im Hochschulbereich sollte einerseits bei Erörterungen der Ziele und Aufgaben ansetzen, auf die diese Ausbildung sich richtet, sowie andererseits bei der Erörterung jener Situationen, in denen die Ausgebildeten berufliche Bewährung und individuelle Entfaltung ihrer Vorstellungen und ihrer Möglichkeiten finden können.

Zwei unterschiedliche Voraussetzungen also sind zu beleuchten, die als Maß einer Reform gelten können. Die eine findet sich in den Institutionen, Aufgaben und Situationen des Musiklebens, und zwar sowohl in seinem tradierten und noch geltenden Bestand als auch in seinen schon absehbaren Entwicklungen. Anders gesagt: Musikausbildung muss auf die bestehenden und auf die zukünftigen Musikberufe und musikalischen Tätigkeiten hin ausgerichtet sein.

Als die andere Voraussetzung muss jenes Bild des Musikers gelten, das sich aus den Vorstellungen, Interessen, Vermögen und Einstellungen der Studierenden (und der zukünftig Studierenden) zusammenfügt. Denn sie sind es, die das bestehende Musikleben und seine Weiterentwicklung mit Leben füllen (werden). Die Erörterung der beiden Reformvoraussetzungen – Musikleben und Musikerbild – wird am ehesten einer Reform zugute kommen, wenn sie nach dem Prinzip „Anpassung und Widerstand“ verfährt (um einen berühmten Buchtitel zu zitieren) oder nach dem Prinzip „Beteiligung und Stärkung versus Innovation und Veränderung“. Mit anderen Worten: eine sinnvolle Reform wird aus einer fruchtbaren Polarität und vom warm gehaltenen Streit ihre Energien und ihr Engagement beziehen. Den Streit nicht beizulegen, sondern wach zuhalten, bürgt für den Erfolg einer Reform.

Außerdem ist als eine Prämisse zu beachten: Eine Reform der Musik-hochschulen gerät auch immer zu einer Reform des Musiklebens oder sollte es wenigstens. Denn eine Musikhochschule, als eine Institution, die nicht nur für Ausbildung zuständig ist, sondern auch für die Reflexion und Vermittlung der Musik und des Musizierens, hat ja die doppelte Aufgabe, dem Musikleben neue Kräfte zuzuführen und es andererseits mit Kritik, Alternativen und Veränderungen weiterzuentwickeln.

Eine dritte Einflussgröße darf bei diesen Überlegungen nicht übergangen werden: die prägende, sowohl bewahrende als auch innovative Art und Wirkung der Lehre und der Lehrenden, die ja so sind, wie sie sind – mit ihrem speziellen Können, in ihrem Vorbild, in ihrer pädagogischen Geschicklichkeit, in ihrem menschlich und künstlerisch prägenden Einfluss, in ihrem mehr oder weniger ausgeprägten Engagement für die dauernd notwendige Entwicklung der Hochschulen. Die Lehrenden sind einerseits eine Energiequelle für die Hochschulen selbst und andererseits Teil des Musiklebens; sie sind auch eine positive oder negative Reibungsfläche bei der Entwicklung der Studierenden als Musiker, als Wissenschaftler und als Lehrer. Eine Hochschulreform ohne die Eigenart und Intentionen der Lehrenden zu versuchen, würde, wieder einmal, ein Geschöpf hervorbringen, in dessen Adern kein Blut fließt sondern verstopfendes Altöl; eine Maschine ohne Motor. Darüber ist im Zusammenhang mit der Berufungspolitik einer Hochschule zu reden.

Musikleben und Musikerbild

Die beiden genannten (und potenziell konträren) Reformvoraussetzungen – das Musikleben und das Musikerbild der Nachwachsenden – bedürfen zuverlässiger und gesicherter Situati-ons-, Institutions- und Entwicklungsanalysen. Sie fehlen leider. Da sie in diesem Zusammenhang nicht zu leis-ten sind, müssen Andeutungen genügen. Ich wähle solche, die vorwiegend auf Veränderungen der musikalischen Tätigkeiten im Musikleben aufmerksam machen:

  • Neben den traditionellen Orchestern entstehen seit geraumer Zeit freiere oder freie Ensembles, deren Musiker ihre Tätigkeiten auf spezielle Musikarten, Spielweisen, Konzert- und Probenformen, auf spezielle Arten des Managements und der Präsentation, auf veränderte Mitbestimmungs- und Hierarchieprinzipien im Künstlerischen wie im Organisatorischen ausrichten. Und auch die traditionell konzipierten und arbeitenden Orchester entwickeln neue Konzert- und Arbeitsformen, erweitern die musikalischen Genres und die Spiel- und Interpretationsweisen. Für die Ausbildung bedeutet dies die Notwendigkeit, jene engen Einbahnstraßen in bestimmte Berufe zu verlassen, die über die Transportmittel – orchesterdienliche Technik, Orchesterstellen, bestimmte Solokonzerte – zu den Endbahnhöfen Orches-terdienst, Kammermusik, Solistenkarriere führen.
  • Auch die Ausrichtung des individuellen Musikerbildes erweitert sich und bildet Mischungen, An- und Ausbauten, neue Fundamente oder veränderte Möblierungen. Das betrifft die Gleichzeitigkeit oder das Nacheinander vielfältiger künstlerischer, wissenschaftlicher, pädagogischer und organisatorischer Tätigkeiten.
  • Ein neu entdecktes, erst noch zu eroberndes und zu kultivierendes Gebiet ist die Vermittlung von Musik. Sie hat künstlerische, pädagogische, präsen-tationsbezogene und organisatorische Aspekte und wird im Zusammenhang ganz verschiedener musikalischer Tätigkeiten und Berufe entwickelt und betrieben.
  • Musiklehrer an allgemein bildenden Schulen werden, nach einer sehr allgemeinen, traditionell verengten und daher stets defizitären Ausbildung, in ihrer Berufspraxis mit Aufgaben und Problemen konfrontiert, für die sie nicht hinreichend ausgebildet sind. Sie werden jedoch von den Schulen zunehmend gerade wegen spezieller Fähigkeiten und für spezielle Tätigkeiten ausgewählt. Sie leiden sowohl an einem unstudierbaren Musiklehrerstudium als auch an jener wuchernden Themen- und Tätigkeitspalette, die dem Musikunterricht aufgebürdet wird: von der Singschulung bis zur BigBand-Arbeit, von der Elementarlehre zu Leistungskursanalysen, von außereuropäischer Musik bis zum Umgang mit Kindem aus aller Welt, von kulturverbindenden bis zu lebensweltlich-philosophischen Themen.
  • Instrumentallehrer ohne Fähigkeiten in Gebieten wie der U-Musik, Musiktheorie, Bewegungslehre, neuen Spieltechniken, Ensembleleitung oder Psychologie des Übens haben schlechte Berufschancen.
  • Kirchenmusiker sind gehalten, sich über Orgelkunst und Chorarbeit hi-naus mit Manager- und Moderationstätigkeiten, mit allgemeiner Elementarlehre, mit musikalischer Früherziehung und Erwachsenenbildung zu beschäftigen.
  • Die bisher betriebene Ausbildung von Sängerinnen und Sängern in gegenseitig abgeschotten Gesangs-Sparten steht mehr und mehr in Opposition zur Berufswirklichkeit. Sänger müssen sich heute wieder in allen Sparten bewähren und alle Arten des Singens und der Darstellung beherrschen, und zwar sowohl, weil die Theater alle Sparten anbieten müssen, als auch, weil sich die Arten des Singens innerhalb der Sparten immer mehr mischen.
  • In der Ausbildung zum Schauspieler wird es ebenfalls immer notwendiger, ein Breitbandstudium anzustreben, das die Ausbildung im Tanzen, in der Bewegung, im Singen, in der Kabarett-Kunst einschließt.
  • Die Zahl der freien Musiker nimmt zu, nicht nur aus Not, sondern aus Überzeugung, und erfolgreich dann, wenn sie entweder in Spezialgebieten hoch qualifiziert oder wenn sie in vielen Arten der Musik und des Musizierens zu Hause sind. Die Gesellschaft der Musiker ist eine mobile Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft der mehrfachen Mitgliedschaft in ganz unterschiedlichen Ensembles, eine Gesellschaft edler und edelster Muggen, zwischen den Kontinenten sich ebenso bewegend wie zwischen Dorf und Stadt. Sie müssen also auch Reisespezialisten sein und Organisationstalente, sich rasch um- und einstellen können auf andere Musiziersituationen und Ensembles.

Ich gehe über zur Beschreibung von Musikerbildern, die entstanden oder in Entstehung begriffen sind:

  • Da gibt es nach wie vor zukünftige Musiker, die zielgerichtet auf eine Tätigkeit im Orchester und auf die Erfüllung der dort verlangten Fähigkeiten zusteuern – im Hinblick auf die Spieltechnik, das Spielen in Gruppen, auf Literaturkenntnis, auf die Zugehörigkeit zur oft bemühten Orchesterdemokratie und/oder auf die Zugehörigkeit zur großen und vielfältigen Gemeinschaft eines Opernhauses mit seinem Gesamtkunstwerkerlebnis.
  • Da gibt es den Musiker, dessen künstlerisch-handwerkliches Interesse sich vorwiegend auf aufführungspraktische und musikhistorische Spiel- und Interpretationsweisen richtet, oder solche, die sich der Neuen Musik, dem Jazz, der Rockmusik oder volksmusikspezifischen Genres verschreiben.
  • Da gibt es die Vorliebe und Spezialisierung für Kammermusik, für musikalische Kommunikationsbedingungen und -prozesse.
  • Da gibt es das Bild des Musikers, der nach Vielseitigkeit des Musizierens und der Literatur verlangt.
  • Da gibt es Musiker, deren besonderes Interese das Unterrichten ist, die sich mit dem Lehren und Lernen von Spieltechniken und Interpretation, mit Methoden des Übens, mit der musikalischen wie handwerklichen Entwicklung Jugendlicher und mit instrumentaldidaktischen Fragen beschäftigen wollen.
  • Da gibt es das Bild des Musikers, der sich als Kulturmanager betätigen möchte und hierfür eine verlässliche künstlerische Ausbildung und Qualifikation für wichtig hält.
  • Da gibt es den Musiker, der künstlerische Fähigkeiten als Grundlage für musikwissenschaftliche oder musiktheoretische Tätigkeiten wählt.
  • Da gibt es das Bild des Musikers, der seine Kunstausübung mit einem soliden Wissen in der Geschichte, der Theorie und der Ästhetik verbinden möchte und das vielseitige Verstehen von Musik als Fundament und Anregung des künstlerischen Tuns zu brauchen glaubt.

Führt man sich die Veränderungen im Musikleben und die veränderten Ansprüche an Musiker vor Augen und versucht man außerdem, die veränderten Musikerbilder zu verstehen, so scheint es kaum noch angemessen, auf die traditionell eingeschränkten und engen Berufsbilder hin auszubilden oder den Studierenden den Verzicht auf eine umfassende allgemeine musikalische Bildung zu gestatten. Die Reformschwerfälligkeit der Musikhochschulen und das gelegentlich fehlende oder schwach ausgebildete Verständnis für die genannten und im Gange befindlichen Veränderungen bringt die Arbeit der Hochschulen und die Berufsvorbereitung der ihr Anvertrauten zunehmend organisatorisch wie inhaltlich in Schwierigkeiten. In einem dritten Aufzählungskatalog stelle ich – immer noch bei der Diagnose verharrend – einige dieser Schwierigkeiten zusammen:

Organisatorische Probleme

Die in Gang befindlichen Veränderungen im Musikleben und die Tendenz, eigene individuelle Musikerbilder zu verwirklichen, bringen Unordnung und Unübersichtlichkeit in die Organisation und die Struktur der Musikhochschulen. Sie führen zu immer komplizierteren Um- und Anbauten sowohl innerhalb der Fächer als auch der Studiengänge.

Viele, vermutlich der größere Teil der Studierenden, erweitern ihr grundständiges Studium längst schon durch Aufbaustudien, durch Zusatzqualifikationen, durch Spezialfächer oder -angebote. Doppelstudien, weiterbildende Studieneinheiten für bereits im Beruf stehende Musiker, Umorientierungen und Umschulungen belasten die Hochschulen in zunehmendem Maße – organisatorisch wie finanziell. Einige Beispiele:

  • Vor kurzem standen für das Orchester einer bestimmten Hochschule nur zwei von zehn Trompetenstudenten zur Verfügung. Die anderen hatten Stellen in Orchestern, reisten nur gelegentlich zum Aufbau-Unterricht an und müssen noch nicht einmal Studiengebühren bezahlen.
  • Es ist üblich, dem Schulmusikstudium ein instrumentalpädagogisches anzuhängen (oder umgekehrt). Dadurch werden Langzeitstudenten und doppelte Prüfungen produziert. Helfen würde hier ein selbst zusammengestelltes gemischtes Studium, das auf beide Tätigkeiten vorbereitet.
  • Viele zukünftige Kirchenmusiker erkennen, dass sie etwas von musikalischer Früherziehung, von Kinderchorarbeit, von Musikvermittlung und (verbaler) Interpretation verstehen müssen. Im Normal-Studienplan ist das alles nicht enthalten.
  • Es steigt das Interesse von Instrumentalstudierenden, auch noch Dirigieren zu lernen, um den Umgang mit Musik und den inneren Zusammenhang von Musik und auch das Dirigieren besser zu verstehen, unter dem sie gelegentlich leiden.
  • Komponisten können nur mit Hilfe anderer Berufstätigkeiten existieren. Sie versuchen, leider erst nach ihrem Studium, Musiktheorielehrer, Musiklehrer oder etwas anderes zu werden.
  • Studierende mit dem künstlerischen Hauptfach Klavier sehen irgendwann ein, dass sie Geld verdienen müssen –als Begleiter, Korrepetitoren, als Manager, als Musikvermittler oder als Professoren, die dann wieder viele Pianisten ausbilden.

Diese Probleme lediglich durch partielle Erweiterungen der Studiengänge und durch ein mehr oder weniger geordnetes oder zufälliges System neuer Fächer und neuer Zusatz- und Aufbaustudien auffangen zu wollen, erweist sich mehr und mehr als unübersichtliches Flickwerk.

Eine Ausbildungsinstitution für Musikberufe hat die Aufgabe, in transparenter und flexibler Weise einerseits auf die Wunschbilder eines Musikers stärkend und anregend einzugehen und andererseits selbst neue und veränderliche Bilder vom Musiker und von Musikberufen zu entwerfen und anzubieten. Eine Reform der Musikhochschule muss also Viererlei berücksichtigen und als Studienmodelle anbieten:

  1. die Möglichkeiten und Entwicklungen, die das Musikleben bietet und fordert,
  2. eine Vielzahl und Vielseitigkeit der Musikerbilder gemäß der Interessen und Vorstellungen der Studierenden sowie der Vorbilder der Lehrenden,
  3. Hochschul- und Studienkonzepte für zukunftsweisende, flexible, und Mischungen der Studienangebote ermöglichende Studienpläne und Abschlüsse,
  4. erweiterte und vielseitige Angebote allgemeiner und allgemein-musikalischer Bildung für alle Studienrichtungen und Musikerbilder.

Aus den angedeuteten Fakten und Tendenzen ergeben sich Zwänge, aber auch Chancen, die als Voraussetzungen für ein inhaltlich und strukturell reformiertes System der Musikhochschulausbildung grundlegend sind.

Der in der kommenden Ausgabe folgende zweite Teil meiner Überlegungen wird – als Andeutung einer Therapie – in zwei größere Teile gegliedert sein: erstens in Überlegungen zu allgemeinen Strukturprinzipien und zweitens in Versuche einer inhaltlichen und organisatorischen Ausfüllung dieser Prinzipien mit dem Mittel eines Lehr- und Lernangebots in Modulen, also einer Modularisierung des Hochschulangebots.

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