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Jörg Zirfas, Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck, Joachim Kremer (v.l.).  Foto: Hochschule für Musik und Theater München
Jörg Zirfas, Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck, Joachim Kremer (v.l.). Foto: Hochschule für Musik und Theater München
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Musikpädagogik und Musikwissenschaft im Dialog

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„Musikalische Bildung – Ansprüche und Wirklichkeiten“: eine Tagung an der Hochschule für Musik und Theater München
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Über 15 Professoren, zahlreiche Studierende und Promovierende und eine Handvoll Lehrerinnen und Lehrer hatten sich vom 12. bis 14. Mai eingefunden, um an der Tagung „Musikalische Bildung – Ansprüche und Wirklichkeiten. Reflexionen aus Musikwissenschaft und Musikpädagogik“ an der Hochschule für Musik und Theater München teilzunehmen. Die inhaltliche Vorbereitung war durch eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe mit Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck und Stefan Orgass als Vertretern der Musikpädagogik sowie den Musikwissenschaftlern Joachim Kremer und Franz Körndle erfolgt, die Organisation durch das Musikpädagogische Institut für Lehrerfortbildung und Unterrichtsforschung (MILU).

Als wäre „musikalische Bildung“ nicht schon ausreichender Anlass zur Diskussion, hatte sich im Tagungstitel neben dem offiziellen Thema ein zweites verborgen: Verhältnis, Abgrenzung und Bezüge von Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Dabei zeigte sich immer wieder eine gewisse Fremdheit der scheinbar so bekannten Disziplinen – was ein Grund dafür gewesen sein könnte, dass Fremdheit und Differenzerfahrung selbst wiederholt Gegenstand der Betrachtung wurden. Schon im Eröffnungsvortrag – durch einen Pädagogen und Philosoph sozusagen von neutralem Boden aus – wurde diese Spur gelegt.

Jörg Zirfas warb dafür, ästhetische Bildung als eigenständige und grundlegende Form der Bildung zu verstehen. Konstituierendes Element sei dabei die Erfahrung von Fremdheit, denn nur durch Wahrnehmung von Differenz könnten sich Transformationen ästhetischer Selbst- und Weltbezüge ergeben. Eine Beschränkung der Pädagogik auf Kompetenzentwicklung greife ebenso zu kurz wie ein fragwürdiger Verweis auf Transfereffekte. Schon die strukturellen Vorteile von Kunst ließen ausreichend Begründungen für einen Umgang mit ihr ableiten: Dort fänden sich Zweckfreiheit, Dialektik von Bezug und Distanznahme, das Spiel im Mittelpunkt sowie die Konfrontation sowohl mit dem Gegenstand als auch mit sich selbst. Der abschließende Programmteil des Abends ermöglichte eine praktische Überprüfung dieser Theorie in einem Konzert aus der Reihe „hellhörig“, in dem Peter Wittrichs Landpartie uraufgeführt wurde, verwoben mit Volksmusik im traditionellen Stil.

Nähe und Distanz

Der zweite Veranstaltungstag begann mit Kurzvorträgen, in denen sieben Professorinnen und Professoren Schlaglichter auf musikalische Bildung warfen. Franz Körndle setzte mit Beispielen aus Musik- und Geistesgeschichte an, um davon ausgehend über die Relevanz von Schillers Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ zu sprechen. Constanze Rora lenkte die Aufmerksamkeit auf das alltägliche (Hintergrund-)Hören von Musik als wesentlichem Teil der Gebrauchspraxis. Sie plädierte dafür, dass ein Aufmerksam-Werden auf den eigenen Umgang mit Musik angestoßen werde. Im folgenden Plenumsgespräch wurde diskutiert, ob für eine solche Beschäftigung ein vorab erlerntes Vokabular notwendig sei oder ob dieses im Prozess der gemeinsamen Verständigung entwickelt werden könnte. Aufgegriffen wurde auch, inwiefern für Identitätsentwicklung ein Spiel von Nähe und Distanz zum „Gegenstand“ wichtig sei und dass der Umgang mit möglichen Identitäten insbesondere für Jugendliche wichtig sei.

Aus musikethnologischer Sicht kritisierte Bernd Clausen normative Setzungen wie die der abendländischen Musik als unhinterfragten Ausgangspunkt und plädierte für einen Abschied vom Elfenbeinturm in Hinblick auf Bildung, Selbstbestimmung, Politik und Internationalisierung. Silke Leopold widmete sich musikalischer Bildung in einer globalisierten Welt. Sie kritisierte die unangemessene Vereinnahmung fremder Kulturen und forderte, Achtung vor dem Fremden lieber durch Wahrung von Distanz zu zeigen. Beide Kurzvorträge sorgten für viele Anknüpfungspunkte: Da keine Kultur gänzlich bekannt sei – welche Konsequenzen für die Bildungspraxis folgten? Wie sollte man sich zum responsiven Charakter des Fremden verhalten? Inwiefern habe die Musikwissenschaft ein kolo­nialistisches Erbe? Was bedeute es, wenn die Musikethnologie sich nicht mehr materiell, sondern methodisch bestimme? Wie ließe sich das Nicht-Verstehen lehren? Und worüber täusche ein naiver Kulturbegriff hinweg?

Vergessenen, aber notwendigen Ansprüchen an musikalische Bildung widmete sich Stefan Orgass, der aus Sicht der kommunikativen Musikdidaktik darauf hinwies, dass Bildung sich in Interaktionen vollziehe und als soziale Kategorie zu sehen sei. Anzustreben wäre eine Hervorbringung von Möglichkeiten, musikalische Bedeutung zuzuweisen. Susanne Fontaine stellte im Anschluss Überlegungen zum kompetenten Umgang mit Musik an, die sie mit einer Gesellschaftskritik begann. Dabei wandte sie sich gegen die Instrumentalisierung von Musik und die mit dem Begriff „Kompetenz“ verbundene Suggestion, musikalisches Lernen könne ohne bestimmte Inhalte geschehen. Sie forderte Kanon-Debatten – nicht mit dem Anspruch eines abschließenden Ergebnisses, sondern um Kritikfähigkeit zu entwickeln. Abschließend sprach Christian Rolle darüber, wann Musik bildungsrelevant sei. Er kritisierte dabei einen Begriff von Bildung als etwas, „wovon die Vorworte und Einleitungen von Musiklehrplänen lediglich noch erzählen, um dann Inhalte zu präsentieren“. Musikunterricht sei als Ort ästhetischer Bildung möglich, er bedürfe keiner Propädeutik, sei nicht auf Kunstmusik beschränkt und bedeute Abkehr von herkömmlichen Lehrerrollen.

Am Nachmittag fanden drei Workshops statt: Hans Schneider führte in Spielräume für bildende Erfahrungsmöglichkeiten mit der Stimme. Dabei erarbeiteten die Teilnehmer eigene Vokal-Stücke, die sie anschließend im Plenum zur Aufführung brachten. In der Diskussion wurde über das Arbeiten in der Gruppe und damit einhergehende Bildungserlebnisse reflektiert. Im Workshop zu Filmmusik als Bildungsgut befasste sich eine Gruppe unter Anleitung von Manuel Gervink mit unterschiedlichen Herangehensweisen an Filmmusik. Hervorgehoben wurde im späteren Gespräch insbesondere die unterschätzte Relevanz einer semiotischen Betrachtungsweise. Im dritten Workshop erarbeitete Werner Jank mit den Teilnehmern Grundlagen des aufbauenden Musikunterrichts. An eine kurze Einstudierung im Plenum schloss sich eine Diskussion über Musikunterricht an. Besprochen wurde, was eine sachgemäße Vorgehensweise dort leisten und wie ästhetische Erfahrungen dabei vorkommen müssten, ob der Gegenstand als „Sache“ betrachtet nicht seines Prozesscharakters verlustig ginge und in welchem Verhältnis ­Voraussetzungslosigkeit und -haftigkeit stünden. Wo finde sich ästhetische Musikpraxis, wo Gestaltungsspielräume, die neben Selbsttätigkeit auch Selbstbezüglichkeit zuließen? Müssten etablierte Begrifflichkeiten ins Spiel kommen und wenn ja, an welcher Stelle? Und welchen Rang nehmen ästhetisch-leibliche Erfahrungen ein?

Verständigungsfragen

Parallel zu den Workshops bildeten sich Gesprächsrunden, in denen insbesondere Verständigungsfragen zwischen Musikpädagogik und Musikwissenschaft Gesprächsgegenstand waren: Welche Rolle spielen die Werke und welcher Werkbegriff wird angelegt? Was wird unter „Musik“ verstanden und inwiefern widersprechen sich unterschiedliche Ansichten? Wann lohnt die Betrachtung einer Partitur?

Am dritten Tag und abschließend fand eine Podiumsdiskussion statt, die von Andreas Kolb (nmz) moderiert wurde und an der sich neben Frau Leo­pold und den Herren Kremer, Rolle und Orgass auch Wolfgang Auhagen und Franz Niermann beteiligten. Dabei herrschte Einigkeit darüber, dass beide Disziplinen gleiche Anliegen hätten, auch wenn ihr Gegenstand sich, konstruiert aus verschiedenen Perspektiven, unterscheide. Dabei habe durchaus auch die Musikwissenschaft Prozesse und die Musikpädagogik Werke zum Gegenstand. Gesprächsthema wurde auch die sich wandelnde Rolle des Musiklehrers. Dieser sei eben kein Bildender, sondern könne nur Bildungsmöglichkeiten anbieten – Bildung selbst bleibe in letzter Konsequenz unwägbar und unverfügbar.

Unumstritten war, dass die gemeinsame Schnittmenge beider Disziplinen weiterhin Anlass zum Gespräch geben würde. Doch auch die Schnittmenge selbst zeigte sich als verhandlungsbedürftig, erkennbar an der Streitfrage, ob und welche Musik aus der ­Öffentlichkeit verschwinde und wie das zu bewerten sei. Hinsichtlich des wissenschaftlichen Arbeitens wurde ein stärkeres Engagement im internationalen Fachdiskurs gefordert, im Kontext bildungspolitischer Erwägungen ein geschlossenes Auftreten beider beteiligten Disziplinen. Noch keine Einigkeit bestand allerdings in der genauen Beschaffenheit der zu ­artikulierenden Positionen – hier bleibt zu wünschen, dass die sicherlich andauernde Fremdheit zwischen Musikpädagogik und Musikwissenschaft weiterhin als Verständigungsanlass genutzt und so produktiv gewendet wird. Die Vielzahl der aufgeworfenen interessanten Fragen verheißt hier viel, und auch auf den gegen Ende des Jahres erscheinenden ­Tagungsband kann man gespannt sein.

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