Schwarzwald, Baar, Heuberg – die drei Namen stehen ebenso für atemberaubende Landschaft wie für florierende mittelständische Wirtschaft, für bodenständige Kultur wie für hohe Kunst – kreativ und innovativ. Und mittendrin – quasi als ein Herzstück – die Hochschule für Musik Trossingen. Wo könnten Innovationen einen besseren Nährboden finden als in einem solchen Raum, der sich aus abertausend Facetten in allen nur denkbaren Farben und Kontrasten zusammensetzt? Natur und Raum als Inspiration für zahlreiche Projekte:
Hohenkarpfen XXI
Ein schmaler Wanderweg führt steil und schweißtreibend hinauf zum Gipfel des Zeugenberges, vorbei an der improvisierten Heimstatt eines posaunespielenden Eremiten, den der Besuch aufschreckt und wild blasend im Wäldchen verschwinden lässt, weiter zu sich nähernden Klanggebilden aus klappernden Kochtöpfen und reibenden Rührbesen. Auf einer kleinen Lichtung bearbeitet eine junge Frau ihren Kontrabass mit einem solchen Rührbesen und einem Spülschwamm, völlig selbstvergessen und in Einklang mit den entstehenden Sounds und der sie umgebenden Natur. Dem Pfad weiter folgend öffnet sich der Blick einem atemberaubenden Panorama: Wiesen und Weiden, Fetzen von Schafsglockengebimmel, der Wind bläst, eine Bank lädt zum Sitzen ein. Ein Akkordeonist nimmt vor der gewaltigen Kulisse Platz und spielt Bach, hier und jetzt, die Musik fließt ganz selbstverständlich, als wäre dies der natürlichste Ort für sie, damit sich die Menschen hier begegnen und etwas erleben, das sie gemeinsam anrührt und ergreift.
Unter künstlerischer Leitung von Prof. Sonja Schmid, Folkert Uhde und Prof. Thorsten Greiner gilt es, Beiträge von mehr als 60 Studierenden über drei Stunden aufzuspüren. Eigens entwickelte Mehrkanal-Klanginstallationen und Performances gehen einher mit klassischen Musikbeiträgen und Rezitationen, die in diesem Kontext freilich eine ganz andere Wirkung entfalten als in einem Konzertsaal. Ein klassisches Konzert ist dies in keiner Weise: Es gibt kein Auftreten, keine Bühne, die Zuschauenden kommen und gehen, mal brennt die Sonne, mal droht der Wind den Klang zu verwehen, mal blökt ein Schaf. Eine Art Schatzkarte weist mehr Möglichkeiten als Wege aus. Unsere gelernten Rituale der Musikausübung - das Auftreten auf eine Bühne, das Verbeugen, der Applaus an den „richtigen“ Stellen, die Roben, Anzüge und Fräcke, die traditionelle Dramaturgie des bürgerlichen Konzertes – all das erlernen Studierende oft unhinterfragt als erprobten Rahmen einer möglichst makellosen künstlerischen Darbietung. Welches Potential in neu gedachten Settings und Dramaturgien steckt, dem Zulassen einer unmittelbaren, gewissermaßen nicht hierarchischen Begegnung mit den Menschen, für die wir unsere Kunst ausüben (oft anonym bezeichnet als das „Publikum“), das konnten alle Beteiligten hier erfahren.
Wand(e)lungen
Das Gebäude der Hochschule für Musik selbst dient zum Hochschuljubiläum als große Bühne für ein besonderes Konzertereignis: Durch Einzelkonzerte, Performances oder Installationen verwandelt es sich in ein Labyrinth aus überraschenden Klängen und Eindrücken. Neue Perspektiven werden freigelegt, Hinweise auf architektonische Besonderheiten gegeben, atmosphärisch verdichtet und klanglich überlappt. Das wohlbekannte Gebäude und die gemeinsam geteilte Zeit lassen sich völlig neu erleben binnen knapp drei Stunden im Mit- und Nebeneinander, jeder nach seiner Dramaturgie – eine abendliche Raum- und Klangerkundung auf bekanntem Terrain.
D-bü-Wettbewerb für neue Konzertformate der RKM
Bahn-Stellwerk, Pulver- und Kartonagenfabrik, Kesselhaus, Altes Krematorium und Narrenmuseum – unterschiedlicher könnten die Spielorte kaum sein, die beim Finale des D-bü-Wettbewerbs in und um Trossingen künstlerisch zum Leben erweckt werden. Es sind fast alle Arten von Aufführungen möglich, solange es sich nicht um „gewöhnliche“ Klassikkonzerte handelt, lautet die Herausforderung. Ganz eigene Dramaturgien und Ästhetiken werden erreicht, ein Interagieren mit dem Publikum, bei dem alle Sinnesreize angesprochen werden, eine Verschmelzung von alter und klassischer Musik mit digitalen Klängen, alles im achtsamen Umgang mit der Umgebung, auf die Bezug genommen wird. Der Trossinger Campus mit Ensemblemitgliedern, studentischer Jury und Lehrenden entwickelt sich zu einem Forum für Kreativität, für Reflexion über Musik, Kultur sowie die eigene künstlerische Position, für einen lebendigen Austausch über neue Konzertformate. D-bü bereitet dadurch den Weg für innovative Kunst und für neue Konzepte.
Bach in Bitterfeld
Die beeindruckende Industriearchitektur des kathedralartigen alten Wasserspeichers in Bitterfeld animiert Musikdesign-Studierende zu einer Klanginstallation, die Motive aus Bachs Musik elektronisch variiert und assoziiert und so förmlich dessen Geist nachspürt. Bei fast zehn Sekunden Nachhall schichten sich die Klänge übereinander und ergeben eine neue Klang-Architektur. Die live spielenden Musiker, aber auch die durch den Raum wandelnden Besucherinnen und Besucher beeinflussen durch versteckte Sensoren den oft sphärischen Klang, der fast durchweg vom Geräusch tropfenden oder fließenden Wassers begleitet wird und damit spielt. Die Installation hat Folkert Uhde, Gastdozent an der HfM und Intendant der Köthener Bachfesttage, gemeinsam mit Sonja Schmid initiiert und mit den Trossinger Studierenden umgesetzt.
Resümee
Die Frage, welche Art Erlebnis die Menschen eigentlich in Verbindung mit unserer Kunst haben sollen, darf eine befreiende sein im Jahr 2022. Die Pandemie hat uns Streaming-müde zurückgelassen; die wenigen „echten“ Live-Erlebnisse sind uns hingegen in prägender Erinnerung geblieben. Die neu erwachte Wertschätzung der physischen Anwesenheit von zuhörenden, zusehenden und miterlebenden Menschen kann für uns eine Chance sein, diese Menschen wirklich in den Blick zu nehmen und das Erleben von Kunst als umfassendes Potential unserer Gegenwart zu denken und zu ermöglichen.
Kennzeichen wie Unwiederholbarkeit und Emergenz geben Projekten wie den hier dargestellten den Anstrich eines performativen Happenings. Ein solches Unterfangen birgt Risiken. Akustische Unwägbarkeiten und Überschneidungen mögen den musikalischen Puristen ohnehin beunruhigen. Auch die Frage, ob Musik eine besondere Inszenierung „braucht“, darf gestellt werden. Aber gemeinsam mit den Studierenden wird in Trossingen immer nach der natürlichsten, stärksten Form gesucht, die Musik oder Sprache wirken zu lassen.
Der (ungewöhnliche) Ort bestimmt die Dramaturgie, die Musik selbst darf jedoch ganz für sich stehen und einfach „passieren“. Dies so natürlich und selbstverständlich wirken zu lassen, bedarf wiederum großen Könnens und präzisen Nachdenkens. Insofern dürfen künstlerischer Anspruch und das Anregen kreativer, inter- und transdisziplinärer Denkweisen bei den Studierenden hier Hand in Hand gehen. Gelingt dies, können wertvolle Impulse für die Selbst-Verortung der künstlerischen Persönlichkeit gesetzt werden.