Seit dem vergangenen Semester nutzen erste Studierende die neuen Angebote Musiktheorie und Gehörbildung im Masterstudiengang „Musik“ an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim. Die beiden Fächer, die unabhängig voneinander, aber auch parallel und vernetzt belegt werden können, knüpfen an die bestehenden Bachelor-Angebote an, bieten darüber hinaus jedoch auch eigene Inhalte und Schwerpunkte.
Das Fach Musiktheorie (im Master als „Musiktheoretische Analysemethoden“ bezeichnet) ist unter dem Dach des Bereichs „Musikforschung/Medienpraxis“ angesiedelt. Obwohl seine Ausrichtung prinzipiell in der Tradition der ehemaligen Diplomstudiengänge steht, die inzwischen durch die Bachelor- und Master-Curricula modernisiert wurden, bedeutet die Verortung der Musiktheorie in der Musikforschung mehr als nur einen titelgebenden Namen. Vielmehr wird durch sie einer Entwicklung Rechnung getragen, die bereits seit Jahrzehnten im Gange ist und in der sich das vormalige künstlerisch-pädagogische Fach, das noch im 19. Jahrhundert als „Vorhof“ zur Komposition eingerichtet worden war, hin zu einem auf die Analyse und Erforschung von historischen Kompositionstechniken ausgerichteten Spezialfach der Musikwissenschaft bewegt.
Diesem allmählichen Wandel entsprechend liegt der Schwerpunkt des Masters Musiktheorie nicht allein auf der Stilübung und der Werkanalyse, die nach wie vor einen Anteil ausmachen, sondern – und das ist neu – auf der Vermittlung der wichtigen aktuellen (oder immer noch aktuellen) Analysemethoden, auf deren kritischer Reflexion und Verortung in der Geschichte der Musiktheorie. Dabei sind es weniger die üblichen praktizierten Methoden, wie etwa auf harmonischem Gebiet die Funktions- und Stufentheorie, auf satztechnischem Gebiet die Analyse nach Modellen oder auf formal-syntaktischem Gebiet die Motivanalyse oder die Analyse nach „Endigungsformeln“ (diese Methoden sollten zu Beginn des Masterstudiums bereits bekannt sein), als vielmehr die komplexen funktionalen Analysen, die den Hauptfachstudierenden sowohl im Einzelunterricht als auch in einem eigens eingerichteten Kolloquium praktisch, historisch, ästhetisch und methodisch näher gebracht werden.
So wird etwa der Schenkerian Analysis, die trotz ihrer überragenden Bedeutung in der US-amerikanischen Music Theory in Deutschland bislang nicht den Widerhall gefunden hat, den sie verdient, ein wichtiger Platz eingeräumt. Ein zweiter Schwerpunkt liegt in den zahlreichen untereinander verwandten Ansätzen, die sich mit der schwierigen Harmonik in den Kompositionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auseinandersetzen wie etwa die Pitch-Class Set Theory, die Transformational Theory, die Neo-Riemannian Theory und die Ansätze ungarischer Musiktheoretiker wie Ernö Lendvai und Albert Simon.
Ein Alleinstellungsmerkmal dieses Mannheimer Studienangebots in Deutschland besteht nicht nur darin, dass die genannten und weitere Ansätze – etwa solche, die die sogenannte Alte Musik betreffen, oder moderne Formenlehren (Caplin, Hepokoski/Darcy) – überhaupt den Mittelpunkt des musiktheoretischen Studiums bilden, sondern dass Wert auf ihren tatsächlichen Erwerb gelegt wird. Ein zentrales Anliegen des Masters besteht nämlich darin, dass über die jeweiligen Methoden nicht allein informiert und reflektiert, sondern dass zu ihrer Anwendung ausführlich und aufwändig angeleitet wird. Gerade für das Verständnis dieser komplexen Verfahren ist Letzteres von zentraler Bedeutung.
Mit dem Wandel des Fachs Musiktheorie hat sich auch das Berufsbild des Musiktheoretikers partiell verschoben, der seine Perspektive nicht mehr allein im Unterricht, sondern darüber hinaus in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit musiktheoretischen Problemen und der Publikation der betreffenden Ergebnisse sucht. Auch dieser Tendenz trägt das neue Master-Angebot Rechnung, indem die Studierenden zum Verfassen musiktheoretischer Texte mit wissenschaftlichem Anspruch angeleitet werden. Gelegenheit zur praktischen Anwendung bieten Einführungstexte für die Konzerte der Hochschule oder öffentliche Präsentationen der Hauptfachstudierenden, die interessierten Laien musiktheoretische Themen unterhaltsam nahebringen.
Das neu im Masterstudiengang Musik eingeführte Fach Gehörbildung knüpft an den gleichnamigen Bachelor an, wobei eine Gewichtsverlagerung von der pädagogisch-didaktischen zur künstlerisch-forschenden Perspektive erfolgt. Da ein solcher Stellenwert – Gehörbildung als künstlerische Forschung – für die historisch primär als »Unterrichtsfach« verstandene Gehörbildung noch gar nicht existiert, handelt es sich hierbei gleichzeitig um die Entwicklung einer zeitgemäßen Definition von Gehörbildung als eigenständige Disziplin, indem ihr entsprechend ein theoretisch und historisch reflektiertes Fundament zugrundegelegt wird. Dabei knüpft der neue Master bewusst an Bestrebungen und Tendenzen der aktuellen Musiktheorie, als dessen Teilmoment er sich versteht, an. Inhaltlich ergibt sich aus diesem Vorsatz eine gehörbildungsbezogene Forschung in den vier Bereichen Höranalyse, Improvisation, Hörpsychologie und neue Medien.
Die Höranalyse bildet die logische Fortsetzung des Gehörbildungs-Studiums auf fortgeschrittenem Niveau. An die Stelle des (propädeutischen) Unterrichts mit Fokus auf spezifische musikalische Parameter (Rhythmus, Melodie, Intervalle usw.) tritt ein Unterricht mit Fokus auf das musikalische Werk in seiner Ganzheit und der mit ihm verbundenen inhaltlichen Aspekte. Zu den zu erwerbenden Kompetenzen gehören sowohl die Fähigkeit, größere Musikausschnitte verschiedener Stilistik durch Hören analytisch zu fassen und nach bestimmten theoretischen Ansätzen zu beschreiben, als auch gehörte oder aber nur gelesene Werkausschnitte spielerisch (auswendig) am Instrument (Klavier) wiederzugeben bzw. aus analytischer Perspektive zu „skizzieren“. Solche musikalischen Skizzen verstehen sich als non-verbale Form von theoretischer Analysedarstellung.
Der Bereich Improvisation zielt sowohl auf die instrumentale und vokale Kompetenz der Studierenden im Umgang mit musikalischer Stilistik als auch auf die methodische Bedeutung von Improvisation für das Fach Gehörbildung. Die seit einigen Jahren in der Musiktheorie sich vollziehende Wiederentdeckung des „improvisierten Kontrapunktes“ des 15. und 16. Jahrhunderts gibt den Impuls für eine grundsätzliche, weit über den Bereich der Alten Musik hinausgehende Erforschung methodischer und pädagogischer Möglichkeiten des Improvisierens für den modernen Gehörbildungsunterricht. Um der damit für das Fach Gehörbildung einhergehenden Kompetenz-Verlagerung bzw. -Erweiterung gerecht zu werden, wird gezielt die Fähigkeit zum stilistisch differenzierten Spielen und Singen ohne gedruckte Vorlage gestärkt und dabei das pädagogische Potential des Improvisierens für den Gehörbildungsunterricht auf allen Lehrstufen genutzt.
Jede Theorie der Musik ist auch eine Theorie des Hörens insofern, als sie ihren Ausgangspunkt implizit oder explizit stets in der Wahrnehmung von Tönen bzw. Tonbeziehungen nimmt. Für die theoretisch fundierte Gehörbildung ergibt sich daraus das Studium und die Auseinandersetzung mit historischen und aktuell relevanten europäischen und amerikanischen Publikationen zur Musiktheorie aus der Perspektive der „Psychologie des Hörens“. Die so aufgefasste Gehörbildung berührt die Teilbereiche Akustik, Hörphysiologie, Tonpsychologie, Musikpsychologie, Psychoakustik sowie kognitive Musiktheorie.
In keinem anderen Bereich des Musikstudiums und der künstlerischen Forschung ist der Einbezug und die Arbeit mit neuen Medien naheliegender als bei der Gehörbildung. Nebst dem Kenntniserwerb im Zusammenhang mit aktuellen computer- bzw. internetgestützten Gehörbildungs-Anwendungen dient die hochschuleigene Internetplattform „Eartraining“ als Arbeits- und Forschungsfeld; es werden neue sowie bestehende Möglichkeiten interaktiven Lernens erprobt, konkret umgesetzt sowie deren Nutzen für Gehörbildungsstudierende ausgewertet.
Michael Polth,
seit 2002 Professor für Musiktheorie an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim, Studium der Musikwissenschaft und Philosophie in Bonn und Berlin (TU) sowie Musiktheorie und Gehörbildung an der Universität der Künste Berlin, von 2000 bis 2004 Präsident und bis 2010 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH), von 2008 bis 2015 Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH), zahlreiche Veröffentlichungen zur Tonalität des 18. bis 20. Jahrhunderts, zur Schenkerian Analysis, Tonfeld-Analyse und Zwölftontechnik.
Dres Schiltknecht,
geboren 1974 in Bern, studierte Musiktheorie, Klavier, Komposition und Dirigieren in Lausanne und Köln. Ab 2003 Lehrtätigkeit in Musiktheorie und Gehörbildung u.a. an den Musikhochschulen Lausanne, Luzern und Mannheim, seit 2009 Professor für Musiktheorie und Gehörbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim. Veröffentlichungen und Vorträge zur Theorie der Tonfelder nach Albert Simon und der musiktheoretischen Bedeutung von Enharmonik, Autor der Gehörbildungs-Plattform www.eartraining-online.de der Musikhochschule Mannheim.