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Vermittlerin des musikalischen Kulturtransfers: Adelina Yefimenko. Foto: privat
Vermittlerin des musikalischen Kulturtransfers: Adelina Yefimenko. Foto: privat
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Popularität aus brutalem Anlass

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Die ukrainische Musikwissenschaftlerin Adelina Yefimenko hat in Deutschland seit Kriegsbeginn sehr viel zu tun
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Der Aufbau ihrer Seminare ähnelt anderen Einführungen in die sakrale und säkulare Musikgeschichte europäischer Nationen. Seit 2016 doziert sie an der Ukrainischen Freien Universität München, seit 2022 an der Ludwig-Maximilians-Universität München, an der Hochschule für Musik und Theater München sowie an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Allerdings nicht mehr in der Ukraine. Durch den Krieg wurde ihre seit 2015 bestehende Professur an der Hochschule für Musik Lviv unterbrochen, Zeitpunkt der Wiederaufnahme ungewiss. Denn die gebürtige Ukrainerin Adelina Yefimenko (geb. 1965) lebt nun in Deutschland.

Seit Forschungsprojekten an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sowie an den Universitäten Leipzig und Dresden mittels DAAD-Stipendium kennt sie das deutsche Musikleben gut. Und natürlich freut sich Adelina Yefimenko über den explosiven Hype ihres Themas und das Interesse an der Kultur der Ukraine. Aber einen mehr verwunderten als bitteren Beigeschmack beinhaltet die auch vom Verfasser dieses Textes gestellte Frage: Warum erst jetzt?

Vereinzelte Anzeichen zur größeren Verbreitung ukrainischer Kunstmusik in Europa gab es bereits vor dem Krieg. Da kündigten um 2017 Kirill Karabits als Generalmusikdirektor der Staatskapelle Weimar und Oksana Lyniv als Chefdirigentin der Grazer Philharmoniker Konzertstücke von in Mitteleu­ropa allenfalls ihrem Namen nach bekannten Komponisten an. Das ist jetzt anders. Ukrainische Kompositionen erklingen als Zugaben bei großen Festivals. Benefizkonzerte mit Werken ukrainischer Provenienz sind keine Seltenheit. Die Aufführung ukrainischer Musik ist ein Akt der Solidarität, ihr Anlass der Krieg.

Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 musste Adelina Yefimenko oft das Desinteresse deutscher Einrichtungen und Programmgestalter erleben. Dabei ist Yefimenko keine auf maximales Imagewachstum erpichte Lobbyistin. Wichtiger sind für sie die Kulturtransfers zwischen den Ländern. Als Kennerin der Klassik-Szene weiß sie, dass ein Programm nur mit ukrainischen Kompositionen in Deutschland keinen Saal füllt.

Yefimenko versteht sich als Vermittlerin. Das Einkommen als Klavierlehrerin sichert ihr eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die Expertin für sakrale Musik betrachtet das Musiktheater als ihren Schwerpunkt. Sie coacht junge ukrainische Sänger*innen, ist eine intensive Netzwerkerin und Autorin. Für ukrainische Medien rezensiert sie Opernaufführungen, oft mit ukrainischen Künstlern. Zudem engagiert sie sich für Innovationen an ukrainischen Opernhäusern, womit sie sich in ihrem Heimatland nicht nur Freunde machte. Neuinszenierungen wie ein mit „Rocky Horror Show“-Reminiszenzen aufgeladener „Don Giovanni“ oder ein mit politischen Akzenten durchsetzter „Lohengrin“ waren in der Ukraine bis Kriegsbeginn lebhaft diskutierte Ausnahmen, als man in Europa parallel das Ende des so genannten Regietheaters beschwor. Über die Präsenz von Landsleuten auf internationalen Konzertpodien und Opernbühnen sind die ukrainischen Fachkreise stolz – wie überall.

Erstarktes Interesse

Bei Kriegsbeginn fiel Yefimenko in berufliche Schockstarre und zweifelte am Sinn ihrer künstlerischen Projekte. Doch innerhalb weniger Wochen er­starkte bei Veranstaltern und Medien das Interesse an den Themen, für die Yefimenko sich in Deutschland seit Jahren mit nur geringem Erfolg eingesetzt hatte. Der Leipziger Verein Notenspur widmete dem ukrainischen Komponisten Mykola Witalijowytsch Lyssenko (1842–1912) eine Gedenktafel, weil dieser in Leipzig studiert hatte. Mehrere Opernhäuser veranstalteten eine Präsentation der Oper „Die goldene Krone“ des ukrainischen Komponisten Borys Ljatoschynskyj. Das noch nie außerhalb der Ukraine aufgeführte Werk entstand 1929, als die Politik der „korenizatsiya“ (Rückkehr zu den Wurzeln) eingeführt und mehrere Opern mit nationalen Sujets bei ukrainischen Komponisten und Librettisten in Auftrag gegeben wurden. Um die „Ukraine des 21. Jahrhunderts zu unterstützen“ lancierte das Onlineportal OperaVision am 25. Oktober 2022 eine Koproduktion der Finnischen Nationaloper, der Oper Lviv, des Royal College of Music, des Teatro dell’Opera di Roma, der San Francisco Opera und der Polnischen National­oper. Eine vollständige Inszenierung soll bald folgen.

Warum ist die ukrainische Musik mit Ausnahme von Walentyn Sylwestrow und Mykola Lyssenko in Deutschland derart unbekannt? Adelina Yefimenko dazu: „Seit dem 18. Jahrhundert bestand eine immer wieder neu definierte Abhängigkeit der Ukraine zu Russland, obwohl beide Nationen in der Religion zwar gemeinsame Wurzeln hatten, aber in der Mentalität, Kultur und Musik immer eigenständig waren. Russland jedoch vereinnahmt bis jetzt die besten Kulturschaffenden, Musiker, Pädagogen und Wissenschaftler. So wie Russland Industrie, Erfindungen und Güter von während der Sowjetzeit kolonisierten Völkern wie der Ukraine, Georgien und den Baltischen Ländern in großem Umfang ausnützte. So kam es, dass ukrainische Musiker von Russland mit Repräsentationswerken beauftragt wurden. Sie mussten für die Machthaber komponieren. Aber Werke für die Repräsentanz der eigenen Volksgemeinschaft wurden unter Androhung von Gefängnis, Gulag oder Mord verboten. So wurde Mykola Leontowytsch ermordet. Wassyl Barwinskyj kam mit seiner Frau in ein Straflager nach Mordowien. Viele Musiker und Künstler mussten ins Exil“.

Die komplexen kulturellen und hierarchischen Befindlichkeiten der Ukraine sind für Ausländer noch komplizierter. Ein Beispiel: In der Spielzeit 2021/22 brachte die Oper Frankfurt Nikolai Rimski-Korsakows „Die Nacht vor Weihnachten“ heraus. In dieser geht es um den ukrainischen Schmied Wakula, der mit Hilfe des Teufels nach Moskau reist und für die von ihm geliebte Oksana von der Zarin (Katharina II.) deren Pantöffelchen erbittet. Das Publikum goutierte in der Regie von Christof Loy, Johannes Leiackers Bühnenbild und Ursula Renzenbrinks Kos­tümen ein edel gestaltetes, fast exotisches Märchen. Für Yefimenko hat das Sujet nach Gogol aber eine weitaus schärfere Dimension: „Rimski-Korsakow verwendete in seiner 1895 in Sankt Petersburg uraufgeführten Oper ukrainische Volksmelodien. Er zeigte an der nachlässigen Gnade der Zarin aber auch die Unterlegenheit der Ukraine, obwohl die dort spielenden Szenen durch Rimskis Vertonung sehr schön sind.“

Ukrainische Avantgarde

Aus dem ukrainischen Opernschaffen gibt es keine internationalen Zugtitel wie Smetanas „Die verkaufte Braut“ aus Tschechien oder „Boris Godunow“ aus Russland. In der derzeitigen Woge von Solidarität für die Ukraine sind weitere Neuentdeckungen aus deren Nationalkultur wahrscheinlich. Yefimenko bedauert, dass im Westen noch immer zu wenig aus der ukrainischen Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre bekannt ist, obwohl diese für die Entwicklung der ukrainischen Neuen Musik von vergleichbarer Bedeutung war wie die Musiktage Donaueschingen und die Darmstädter Ferienkurse für Deutschland. Und sie hat eine Vision: „Man müsste in Konzerten, Lehrveranstaltungen und in der Kulturvermittlung die ukrainische Musik durch die Erläuterung formaler Analogien mit der Musik Mitteleuropas bekannt machen.“ Warum also nicht ein Konzert oder ein kleiner Zyklus mit Werken von Gustav Mahler neben Borys Ljatoschynskyj, dem wichtigsten Komponisten und Lehrer der nächsten ukrainischen Komponistengeneration, oder von Mozart neben seinen Zeitgenossen Maksym Beresowskyj und Dmytro Bortnjanskyj? Das Notenmaterial ist verfügbar und in Mitteleuropa stünden viele Künstler bereit.

Solidaritätsbekundungen gegen Krieg in Form von Musik sind löblich. Auch ohne den Krieg ist die Verbreitung der ukrainischen Musik eine überfällige Aufgabe, die sogar von der Ukraine selbst – ungeachtet ästhetischer Wertmaßstäbe – vernachlässigt wurde: Eine internationale Kulturrepräsentation wie Goethe Institut oder British Council hat die Ukraine nicht, kann deren Gründung unter den bestehenden Kriegsbedingungen auch nicht leisten. Adelina Yefimenko weiß inzwischen, dass ihr Einsatz gerade deshalb wichtig und keineswegs sinnlos ist. Es fällt auf: Nie setzt sie qualitative Vergleiche zwischen Kunstwerken aus Russland und der Ukraine. Es geht nicht um die Verdrängung wichtiger oder beliebter Stücke, sondern um den Beginn einer Verbreitung von Werken, die durch Auswirkungen welthistorischer Ereignisse wie die so genannte Oktoberrevolution keine Chance auf eine internationale Rezeption hatten.

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