Oft geht es in jüngster Zeit, wenn das Parlament tagt, um „Rassismus“. Im Februar zum Beispiel wurde im Bundestag der 100-seitige Bericht „Rassismus in Deutschland: Ausgangslage, Handlungsfelder, Maßnahmen“ der Beauftragten der Bundesregierung für Migration vorgestellt. Rassismus durchzieht laut dem Papier alle Lebensbereiche. Auch die Musik. Hiermit befasst sich Nepomuk Riva. Den Vertretungsprofessor für Ethnomusikologie an der Universität Würzburg interessiert dabei vor allem Rassismus im Kinderlied.
Durch Worte, aber auch durch Lieder kann man einen anderen Menschen ungewollt kränken. „Mich interessiert, was Lieder mit rassistischem Inhalt im sozialen Kontext mit Kindern machen, wie sie genau verwendet werden und was betroffene Personen berichten“, schildert Nepomuk Riva. Nach seinen Analysen gibt es etwa ein knappes Dutzend Kinderlieder mit rassistischen Stereotypen, die nach wie vor in Kitas gesungen werden. Die „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ führen die Negativliste an. „Kinder von chinesischen Eltern, aber auch japanische oder koreanische Kinder nehmen dieses Lied als sehr diskriminierend wahr“, konstatiert er.
Vielerorts wird beklagt, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft verloren geht. Sozialforschern zufolge ist diese Entwicklung nicht zuletzt auf Rassismus zurückzuführen. Geradezu erstaunlich findet es Riva, wie das Singen rassistischer Kinderlieder in Kitas nach wie vor gerechtfertigt wird. Die „Drei Chinesen“ zum Beispiel gelten weiterhin als pädagogisch wertvoll, weil Kinder mit diesem Lied die Bedeutung von Vokalen erlernen: „Doch der Vokalaustausch wäre auch mit nicht-rassistischen Liedtexten möglich.“ Dennoch schafften es die „Drei Chinesen“ bis heute in neue Liederbuchveröffentlichungen.
Im Grunde ist es äußerst spannend, wenn sich Menschen verschiedener Herkunft an einem Ort tummeln. Sie können einander viel erzählen, können sich gegenseitig bereichern. Auch Kitas sind heute in aller Regel bunt. Der kulturelle Schatz, den Kinder aus afrikanischen, südamerikanischen, slawischen oder asiatischen Ländern mitbringen, wird in Kinderbetreuungseinrichtungen nach Rivas Beobachtung jedoch noch immer nicht gehoben. Vorbildlich ist vor diesem Hintergrund für ihn ein Würzburger Projekt, aus dem das Buch „Ich habe meine Musik mitgebracht“ hervorging. Hier sind Lieder, Spiele und Geschichten von Flüchtlingskindern gesammelt.
Weiterbildung sensibilisiert
Immerhin von einigen Kinderliedern hat man sich inzwischen distanziert. So werden die „Zehn kleinen Negerlein“ nirgends mehr veröffentlicht und wohl auch kaum noch gesungen. Auch nahm man in der Kinderlieder-Szene Abstand vom Lied „Lustig ist das Zigeunerleben“. An anderen Liedern wird laut Riva festgehalten, als wäre mit der Entfernung die Aufgabe von bedeutendem Kulturgut verbunden: „Doch die ‚Drei Chinesen‘ haben nicht den Stellenwert von ‚Der Mond ist aufgegangen‘.“ Während Matthias Claudius den „Mond“-Text 1778 schrieb, finden sich Belege für Textvarianten der „Drei Chinesen“ erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Wie fühlen sich die Einwohner eines Landes, über die vermeintlich lustig in einem Kinderlied hergezogen wird? Viel zu selten stellen sich Pädagogen diese doch auf der Hand liegende Frage. Das will Nepomuk Riva ändern. Er möchte eine Weiterbildung für Musikpädagogen und Erzieherinnen konzipieren, die für Rassismus in Kinderliedern sensibilisiert. Ein Pilotprojekt dazu fand in Würzburg statt. Unter der Überschrift „Was bedeutet Fairplay in der Musikpädagogik?“ setzten sich 20 Studierende aus ganz Deutschland Ende März an der Uni Würzburg eine Woche lang mit dieser Thematik auseinander. Gefördert wurde der Workshop von der Bundeszentrale für politische Bildung. Wer Antidiskriminierungsarbeit betreibt, wird früher oder später auf Hemmnisse stoßen. Gegenwind kommt vor allem von Menschen, für die der öffentliche Diskurs inzwischen derart „woke“ geworden ist, dass sie sich förmlich tyrannisiert fühlen. Mag sein, dass tatsächlich manches zu weit getrieben wird. Doch in Bezug auf Rassismus lässt Riva keine verharmlosenden Argumente gelten.
Er verweist auf Artikel 3 des Grundgesetzes. Hier steht eindeutig, dass niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf.
Transkultureller Denker
Zahlreiche Erlebnisse im Ausland haben ihn selbst zu einer Persönlichkeit geformt, der transkulturelles Denken eingebrannt ist. Nepomuk Riva sammelte Unterrichtserfahrungen in Kamerun und Südafrika. In seiner Promotion befasste er sich mit schriftlichen und mündlichen Überlieferungen von Kameruner Kirchenmusik. Am Hildesheimer „Center for World Music“ koordinierte er von 2016 bis 2020 das DAAD-Graduiertenkolleg „Performing Sustainability. Cultures and Development in West-Africa“. Westafrikanische Studierende wurden darin gefördert, sich forschend mit dem Beitrag der Künste in Westafrika zur Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele auseinanderzusetzen.
Ist es jemand von seiner frühesten Jugend her gewöhnt, sich empathisch in einer transkulturellen Atmosphäre zu bewegen, wird er wahrscheinlich später nicht rassistisch agieren. Deswegen kommt der Kita und der Schule als frühe Bildungsorte eine so große Bedeutung zu. Beim Workshop „Was bedeutet Fairplay in der Musikpädagogik?“ entlarvten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kulturelle Stereotype in Kindermusik und Bewegungsspielen. Sie lernten die Grundprinzipien einer transkulturellen Musikvermittlung kennen und tauchten in die antirassistische Theaterarbeit mit Kindern ein. Auch antirassistisches Empowerment war Thema.
„In manchen Kinderliedern wird die Geschichte komplett falsch dargestellt“, erfuhr Alicia Gagar, Musikstudentin aus Oldenburg, bei der Analyse des Lieds „Ein Mann, der sich Kolumbus nannt“. Der Song erzählt von Kolumbus’ „fröhlicher“ Ankunft: „Die Menschen, auf die er trifft, werden als primitiv beschrieben.“ Der brutale Völkermord an den Indianern bleibt komplett ausgeblendet. Besonders authentisch war der Workshop in Würzburg dadurch, dass die Dozenten selbst einen transkulturellen Hintergrund hatten. Yongfei Du, Musikethnologin in Hannover, stammt zum Beispiel aus China. Mit Renas Ibrahim gehörte ein kurdischer Weltmusiker aus Syrien dem Dozententeam an. Von ihm lernten die Studierenden sowohl ein kurdisches Lied mit Tanz als auch ein Lied aus dem Kongo kennen.
Mit Pepetual Mforbe Chiangong konnte ein aus Kamerun stammender Afrikawissenschaftler gewonnen werden. Komponist Assion Lawson, der heute in Stendal lebt, hat seine Wurzeln in Togo. Rafael Montero, in Köln wohnender Sänger, Gesangslehrer und Musiker, stammt aus einer indigenen andinen Familie vom südamerikanischen Volk der Kolla. Von ihm erfuhren die Workshopteilnehmer, wie schwierig es nach wie vor ist, zeitgenössische Musik in indigener Sprache zu schaffen: „Wir selbst haben immer noch einen kolonisierten Kopf.“