Ob man es „Musikalisch-ästhetische Bildungsarbeit“ nennt oder „Musik für junge Ohren“ – es ist ein wichtiges und viel diskutiertes Thema. In Saarbrücken ging man es mit hochkarätigen Vorträgen und originellen Workshops an; Veranstalter war das Netzwerk Saar in Zusammenarbeit mit Musikhochschule und Universität des Saarlandes. Der Eintritt war frei, alle Kosten, so wurde mit berechtigtem Stolz betont, trug das Netzwerk mit Hilfe privater Sponsoren, allen voran die Union-Stiftung.
E inhundertvierzig Kinder wippten erwartungsvoll auf Sitzkissen, als Michael Dartsch, Professor für Musikpädagogik an der Saarbrücker Hochschule, ganz unprofessoral über die Bühne eilte und den ersten Workshop in Gang brachte. Vokale und Konsonanten wurden am eigenen Kehlkopf erprobt und in Ligetis „Aventures“ wiederentdeckt. Das ganze Spektrum der vielfältigen Möglichkeiten und Stilbereiche der menschlichen Stimme entfaltete sich zwischen einem rappendem Computer, Volksmusik, Girlie-Trend und Vokalkompositionen von Schönberg bis Cage, szenisch phantasievoll auf die Bühne gebracht. Zugleich eine beachtliche Talentprobe für die an diesem „Konzert für junge Ohren“ beteiligten Studenten der Musikpädagogik.
Dann waren die Kinder selber gefordert. Erstaunlich, wie selbstverständlich sie vier patterns nach dem ersten Hören nachsangen und bald darauf zu einem vierstimmigen Ensemble zusammenfügten.
Mit Sprache umgehen
Als Zuhörer ertappte man sich bei dem Gedanken, dass es ruhig so hätte weitergehen können mit den „jungen Ohren“. Doch nun waren erst einmal die Musikwissenschaftler an der Reihe, um sich mit der anderen Hälfte des Arbeitstitels, der „aktuellen Vokalmusik“, zu befassen. Professor Wilfried Gruhn (Freiburg) sprach über Janáceks „Kátia Kabanová“; Professor Wolf Frobenius (Saarbrücken) untersuchte die Sprachvertonung in Schönbergs „Erwartung“. Professor Herbert Schneider (Saarbrücken) hatte Ravels „L’Enfant et les sortilèges“ zum Thema gewählt und Professor Renate Jung-Kaiser (Frankfurt) den „Oedipus Rex“ von Strawinsky. Den Eröffnungsvortrag hatte der neue Saarbrücker Professor für Schulmusikpädagogik, Christian Rolle, übernommen. Nach einer Würdigung seines verdienten und renommierten Vorgängers Professor Klaus Velten stellte er im überfüllten Hörsaal seine musikdidaktische Positionsbestimmung vor.
Sein Vorschlag: auf den Begriff der „Vermittlung“ zu verzichten und an seine Stelle den der Erfahrung zu setzen. Denn: „Musikalische Bildung kann stattfinden, wenn Menschen im Umgang mit Musik ästhetische Erfahrungen machen. Musikpädagogisches Handeln sollte deshalb vielfältige Räume für musikalisches Handeln eröffnen, in denen solche ästhetischen Erfahrungen möglich sind, angeregt und unterstützt werden.“
Der verbreiteten Auffassung, dass mit Sätzen wie: „Dieses Musikstück ist schön“ oder ähnlichen lediglich der persönliche Geschmack bekundet werde, dass es sich also gar nicht um richtige Urteile handele, setzt Rolle entgegen, dass nur solche Urteile ästhetische genannt werden sollten, die mit einem intersubjektiven Geltungsanspruch auftreten. „Einen solchen Anspruch erhebt, wer andere davon zu überzeugen versucht, (...) nicht nur für ihn sei das Stück von Wert, sondern es sei ein aussichtsreicher Kandidat ästhetischer Wertschätzung auch für die anderen.“ Lehrer/-innen sieht Rolle damit „als Mediatoren im ästhetischen Streit ihrer Schülerinnen und Schüler.“ Bedauerlich, wenn auch bei derartigen Symposien wohl unvermeidlich, dass sechs hochkarätige Beiträge einschließlich Mittagspause auf den Zeitraum von fünfeinhalb Stunden zusammengedrängt waren – jeder hätte etwas Raum zum Nachklingen verdient.
Cis-umsungend
Einblick in die Arbeit des Komponisten mit Wort und Musik gab der Saarbrücker Professor Theo Brandmüller. Schon der irritierende Titel seines Chorwerkes „Cis-umsungend“ sei „Kind einer Umwandlungsgrammatik“. Temperamentvoll zwischen Sprachspielen, barockisierenden Wort- und Satzballungen und philosophischen Exkursen jonglierend, erläuterte Brandmüller mit Klangbeispielen und projizierten Partiturseiten, „wie eine relativ eindeutige Metasprachlichkeit verlassen wird zugunsten einer Dominanz des Klanglich-Phonemhaften.“ Denn: „Musik gibt nichts Hörbares wieder, sondern macht hörbar“, so Brandmüller, frei nach Paul Klee.
So kam man beim Hören ins Grübeln: Ist diese Musik „schön“, weil man die ihr zugrundeliegenden komplizierten Strukturen gar nicht bemerkt, oder ist sie schön, weil man diese unbewusst wahrnimmt?
Grafische Partituren szenisch
Aber nicht abgebrühten Rezensenten wollte man Derartiges vorführen, sondern „jungen Ohren“. Und die sollten mitmachen. Am zweiten Tag konnte man unterschiedliche Ansätze dazu beobachten.
Den Anfang machte Wolfgang Rüdiger, Professor für Musikpädagogik in Düsseldorf, mit Oberstufen-Schülern zweier Saarbrücker Gymnasien. Der Komponist Leon Schidlowsky (geb. 1931) hatte sein Gedicht „Am Grab Kafkas“ als grafische Partitur aufgezeichnet, (weitere Arbeiten von ihm waren schon 1996 in der Saarbrücker Stadtgalerie zu sehen), die von den Schülern nun phonetisch und szenisch umgesetzt wurde. Doch jede Altersstufe braucht einen anderen Ansatz. So trat der Kinderlieder-Macher Unmada Manfred Kindel mit Piratenhut und Stoffpapagei vor seine drei- bis sechsjährigen Pipapo-Piraten und entführte sie auf große Fahrt. „Seht Ihr da oben die Wolken?“ Natürlich sehen sie alles, was er suggeriert, hissen mit großen Gesten die Segel, schwanken im Sturm und erkennen deutlich die verheißene Insel. Und kreischen „He!“ und jubeln „Banane!“, wenn Kindel seine kleinen Nonsense-Gedichtchen bringt, und finden selber passende Reimwörter dazu. Und wieder einmal war man entwaffnet von der natürlichen Begabung kleiner Kinder, von der Frische, mit der sie alles aufnehmen und wie geschickt sie alles nachahmen. Nicht anders beim Workshop von Uli Führe, dessen Kinderlieder in viele Schulbücher Eingang fanden. Spielerisch brachte er etwas älteren Kinder Lieder bei und animierte sie, sie pantomimisch und agogisch zu – tja, „interpretieren“?
„Rock ist so fern wie Mozart.“
„Aktuelle Musik für junge Ohren?“ Beim abschließenden Round Table wurde deutlich, wieviel Sprengstoff auch ein bescheidener Titel in sich bergen kann. Der Lehrer, die Theaterpädagogin, der Kulturpolitiker, der Musikwissenschaftler, die Vorschullehrerin, der Schulmusikstudent – jeder hatte etwas anderes zum Thema beizutragen.
Was heißt eigentlich „aktuell“? Worauf von einem Referendar berichtet wurde, der seiner Klasse so richtig voll krass mit Rock’n Roll kommen wollte und – auf gähnende Langeweile stieß. „Rock ist für die heutige Jugend so fern wie Mozart.“ Dartsch warnte vor der Illusion, man könne Kindern „beibringen, wie man Musik erlebt“.
Ein Vater berichtete von einem mit Fachchinesisch gespickten Aufsatz seines Sohnes für den „Musikunterricht“ und forderte, der müsse wieder zum wahrhaft musischen Fach werden. „Musikalisch“, ergänzte ein anderer. „Ja, aber“, meinte Rolle. Der Lehrer müsse auch lernen, wissenschaftlich zu arbeiten, schon um sich lebenslang weiterbilden zu können.
So geriet die Diskussion zwangsläufig so tief in die allgemeine Schul- und Bildungsproblematik, dass der Verleger und Musikmoderator Theo Geissler als Gesprächsleiter wiederholt bremsen musste. Resümee: Dieses Symposion darf kein Einzelfall bleiben – zu weit ist das Feld, zu viele Fragen bleiben offen, zu viel Tradiertes muss durch Neues ersetzt werden (das dann wieder veraltet sein wird). Schon Theo Brandmüller hatte gewarnt: „Traditionen sind wie Laternen: Sie leuchten auf dem Weg, doch nur Betrunkene halten sich daran fest.“