Wie entsteht Kunst? Wann passiert es, dass aus Skizzen, Entwürfen, dem Ausprobieren, Verwerfen und neuem Versuchen etwas Gültiges wird?
Das ist eine Kinderfrage. Aber sie zielt doch in das Zentrum unseres täglichen Tuns an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Die Antwort ist denn auch verblüffend einfach: wenn das Publikum dazu kommt, wenn ein Anderer als der Künstler zum Zuhörer oder zur Zuschauerin wird. Denn unerhörte und ungesehene Kunst gibt es bei Musik, Theater und Tanz nicht. Die performativen Künste entstehen durch Kommunikation, werden erst auf der Bühne geboren, in diesem besonderen Augenblick, wenn die Lichter im Saal verlöschen, der Vorhang sich öffnet, der erste Ton erklingt, das erste Worte gesprochen, die erste Bewegung ausgeführt, der erste Schritt getan wird – vor den Augen und Ohren des Publikums.
Im Theater sagt man manchmal: Heute war das Publikum „indisponiert“. Das klingt nach Entschuldigung, berührt aber einen Kernpunkt. Der Künstler auf der Bühne sendet ein Bild, einen Ton, eine Bewegung in den Saal – und greift intuitiv, auch wenn er sich diesen Moment genau zurechtgelegt, hundertmal probiert und erprobt hat, die Reaktion auf, die ihm entgegenkommt, und verändert sein Spiel.
Wie einst im Puppentheater unserer Kindertage, als der Kasperl oder Hans Wurst oder Harlekin, wie diese lustige und skurrile, wegen ihres Anarchismus und ihrer Gewitztheit von allen so geliebte Figur auch immer heißen mag, ins Publikum rief: „Seid Ihr alle da?“ Und wir mit Begeisterung zurückriefen: „Ja.“ Und er, sich taub und begriffsstutzig stellend, lauter wiederholte: „Seid Ihr alle da?“ Und wir immer ohrenbetäubender brüllten – und damit eben jene Kommunikation herstellten, die uns anschließend in die Abenteuer, Schrecken und Freuden, in die fremden Welten der Bühne führte, die doch immer unsere eigene Welt ist.
Als Regisseur habe ich viele Inszenierungen im Musiktheater und auch im Schauspiel erarbeitet. Ich wusste immer: Probe ist wichtig, um sich im geschützten Raum auszuprobieren, mit mir, dem Regisseur als erstem und kritischem Zuschauer, der der Sängerin oder dem Schauspieler sein Tun spiegelt. Aber das Eigentliche passiert in der Aufführung, zusammen mit dem Publikum, im direkten und spontanen Gegenüber. Darum geht es im Theater, im Konzert, auf Bühne und Podium. Da entsteht die Kunst, für die wir brennen.
Das gilt ebenso für die Vermittlung dieser Künste, für die u.a. die Lehramtsstudiengänge ausbilden. Auch in der Schule, im Verhältnis Lehrer-Schüler, das auf den ersten Blick jenseits eines Kunstanspruchs zu rangieren scheint, gibt es jenen Theatermoment, hier die besondere Präsenz im Klassenraum, die den Schüler erst für die Inhalte begeistert, die ihm der Lehrende vermitteln will.
Wie viele Kunst- und Musikhochschulen ist auch die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main nicht allein Universität und Ausbildungseinrichtung, sondern mit über 500 öffentlichen Terminen einer der großen Kulturveranstalter im Rhein-Main-Gebiet.
Da gibt es viele kleine Veranstaltungen, Klassen-abende, Vorspiele, zu denen vielleicht nur wenige Zuschauer kommen. Es gibt große Konzerte, aufwändige Aufführungen in Schauspiel, Tanz und Oper. Es sind ganz unterschiedliche Formate, die dort präsentiert werden: von der klassischen Inszenierung bis hin zu experimentellen Performances, traditionelle Musikdarbietungen neben Gesprächskonzerten und die Vielfalt multimedialer Ereignisse. Eine Hochschule der performativen Künste produziert und veröffentlicht ständig.
Unsere Studierenden wählen wir in den Eignungsprüfungen aus vielen hundert Bewerbern aus. Da geht es um Talent, um Kompetenz, Virtuosität, eine eigene Sprache, den Willen, sich mitzuteilen. Ich habe in meiner früheren Tätigkeit als Professor an der Weimarer Musikhochschule viele solcher Prüfungen erlebt, die über die Zulassung zum Studium entscheiden. Mich hat dabei immer besonders dieser Moment der Kommunikation interessiert. Nimmt der Bewerber sein Gegenüber, hier die Prüfungskommission, wahr, reagiert er, bezieht er uns ein?
Diese Kommunikation will gelernt, ausprobiert, reflektiert und entwickelt werden. Deshalb haben sich alle Hochschulen in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Bereich professionalisiert; sie haben eigene Abteilungen eingerichtet, die Studierende und Lehrende dabei unterstützen, Veranstaltungen zu planen, zu bewerben, zu realisieren und zu dokumentieren.
Der technische Fortschritt in Audio und Video hat besonders die Möglichkeiten der Dokumentation radikal erweitert. Aufzeichnungen können ein doppelter Gewinn sein – zur Stärkung der medialen Präsenz der Hochschule in der Öffentlichkeit und als Basis für die Auswertung im Unterricht. An der Weimarer Musikhochschule baute ich mit der Tonabteilung einen YouTube-Kanal auf, der mit seinen Veröffentlichungen inzwischen regelmäßig fast 40.000 Abonnenten erreicht. Im künstlerischen Einzelunterricht wird das Instrument der Videoanalyse, das sich im Sport längst durchgesetzt hat, immer wichtiger. Auch wenn dieses Medium manchem zunächst sehr technisch, fremd, irgendwie unkünstlerisch erscheinen mag: Es vermag Eindrücke zu objektivieren, weil es Abstand herstellt.
Muss das alles sein, fragt mancher an unseren Hochschulen. Ja, es muss. Denn es geht um den Kern der Ausbildung in den performativen Künsten. Und diese ist ohne Bühne und Podium nicht zu denken, würde Trockenschwimmen gleichen.
Prof. Elmar Fulda, Präsident der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main