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Theorieabbau im Dahlhaus-Massiv

Untertitel
Ein Berliner Symposium zu Wirkung und Aktualität des großen Musikwissenschaftlers
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Am 10. Juni dieses Jahres wäre der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus 80 Jahre alt geworden. Er, der vor 21 Jahren starb, gilt als zentrale Figur der deutschen Musikwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Schaffen, um präzise zu sein, seine Texte, sind erst kürzlich in einer elfbändigen Sammelausgabe mit zirka 7.000 Seiten erschienen. Er ist ein Klassiker nicht nur der Musikwissenschaft sondern der Wissensgeschichte der letzten Jahre geworden. Grund genug also, dieser aus aller musikwissenschaftlichen Mittelmäßigkeit herausragenden Person ein Symposium zu widmen, das in Berlin, organisiert von Peter Gülke, Hermann Danuser und Norbert Miller, doppelt symbolträchtig in unmittelbarer Nähe des Musikinstrumentenmuseums, im Curt-Sachs-Saal des Staatlichen Instituts für Musikwissenschaft unter dem Titel „Carl Dahlhaus und die Musikwissenschaft: Werk, Wirkung, Aktualität“ stattfand.

Versammelt hatten sich namhafte Protagonisten der aktuellen Musikwissenschaft, die zu großen Teilen noch unmittelbar als Schüler oder als Kollegen von Dahlhaus geprägt waren. Dahlhaus’ damaliger Kollege an der Freien Universität Berlin, Rudolf Stephan, sprach für viele Anwesende, wenn er meinte, dass die Überlegungen, die man gemeinsam hier anstelle, „Trauerflor“ trügen. Dahlhaus wurde situiert wie ein musikwissenschaftliches Massiv, das eigentlich alles in den Schatten stellt, was sich in dessen Nähe befindet. Solch ein Schatten legte sich denn auch über fast alle 30 Vorträge des Symposiums. Mit der Folge allerdings, dass, wer versuchte, aus dem Schatten zu treten, sehr schnell etwas einsam sich fühlen durfte. „Was hätte Dahlhaus dazu gesagt, wie hätte Dahlhaus das oder dieses eingeschätzt, wie wäre Dahlhaus mit den neuen Technologien der Reproduktion und Produktion umgegangen“, diese Fragen begleiteten unablässig spekulativ die Vorträge, die darunter vielfach zu ersticken drohten. Ehrfurcht schlug geradezu in Rednerfurcht um, so, als sei es so gut wie unmöglich, zu Dahlhaus etwas zu sagen, ohne dies mit Dahlhaus zu sagen. 

Gewiss, in manchen Vorträgen gelang es, eine Distanz zu wahren. Wenn beispielsweise Simone Mahrenholz und der Philosoph Christoph Hubig es wagten, einen Blick unter die methodologische Motorhaube zu werfen, um das musikwissenschaftliche Antriebs- und Arbeitssystem des Dahlhaus’schen Œuvres zu entschlüsseln: Hubig beispielsweise, wenn er „Dahlhaus’ Konzeption des Kunstwerks als Alternative zur Simmel-Cassirer-Kontroverse“ analysierte und somit die für Dahlhaus so zentrale Kategorie des „Werks“ als „intentionalen Gegenstand“ herausarbeitete, der „dialektisch“ zwischen Werkästhetik, Sozialgeschichte und Rezeptionsforschung zu „vermitteln“ sei. Dies sei ein wissenschaftstheoretisches Projekt, das bei Dahlhaus zwar angelegt ist, obgleich es nicht zu einer handfesten Methode sich konstituierte.

Dass in dieser Hinsicht Nachholbedarf besteht, davon zeugte auch die Diskussions- und Vortragsrunde „Zur Methode der Opernanalyse“. Dahlhaus habe zwar in entschiedender Deutlichkeit hervorgehoben, dass Oper mehr sei als nur der Text, wie er in Libretto und Musik vorliegt, dennoch bereitete es ihm offenbar Probleme, den Stellenwert der szenisch-gestischen Realisierung in seiner wissenschaftlich erfassbaren Bedeutung, das „Surplus der Performance oder den ‚Beziehungszauber‘ der Aufführung“ (Clemens Risi), zu ermessen. Auf eine ähnliche Problematik wies auch die Heidelberger Musikwissenschaftlerin und langjährige Assistentin Dahlhaus’, Silke Leopold in ihrem Beitrag zu Dahlhaus’ Betrachtungen zum Regietheater hin, wenn sie die „überraschende“ Zeitgebundenheit seiner Betrachtungen zum Thema konstatierte.

Einwände dieser Art wurden allerdings einigermaßen kokett mit Hinweisen abgebügelt, wie demjenigen des Literaturwissenschaftlers und Dahlhaus-Kollegen Norbert Miller, der meinte, dass für Dahlhaus der „Regisseur überflüssiger gewesen sei als der Beleuchter“. Das mag stimmen, so sehr wie Rudolf Stephan nicht müde wurde, zu betonen, Dahlhaus sei es in seiner musikwissenschaftlichen Arbeit im Grunde nur um „Tonkunst“ gegangen, also um das historische Erbe einer bürgerlich-europäischen Musikkultur, wie sie sich in den Meisterwerken manifestiere. Stephan und Miller wirkten mit solchen Einlassungen wie Gralshüter einer fast dogmatischen Dahlhaus-Interpretation. So schließt man das schriftstellerische Werk Dahlhaus’ in sich ab, ja, man verschließt es gegen eine Fortschreibung.

Um so wichtiger mussten auf dem Symposium die Beiträge erscheinen, die solcher wissenschaftsgeschichtlicher Eingipsung wenigstens ansatzweise widersprachen. Giselher Schuberts übrigens nicht weiter diskutierter Beitrag wies in die Richtung einer Beweglichmachung Dahlhaus’schen Denkens, wenn er die Linien dessen Neoklassizismus-Bewertung nachzeichnete, die anfangs von schroffer Ablehnung dieser Musik gekennzeichnet war und später in Akzeptanz überging, ohne dass Schubert allerdings die Motive dieser Wandlung bezeichnete und damit auf halber Strecke steckenblieb. Ähnlich verhält es sich mit den Hinweisen der amerikanischen Musikwissenschaftlerin Anne C. Shreffler, die die Beziehung zwischen Musik und Politik in der Folge der 68er-Situation nacherzählte.

Dahlhaus, der Fortschrittliche

So blieb es dem wohl jüngsten Vortragenden, Tobias Robert Klein, vorbehalten, Wege für eine moderne Dahlhaus-Analyse aufzuzeigen. Unter dem Titel „Dahlhaus der Fortschrittliche“ wies er an Textauszügen nach, was alles an musikologischem Sprengstoff in zahlreichen Aufsätzen noch liege. 

Am deutlichsten wurde dies in seiner Aufarbeitung von Dahlhaus’ Hinweisen zu Analysetechniken von „Unterhaltungsmusik“ (bei der die „soziologische Analyse aufschlussreicher“ sei) und „artifizieller Musik“ (bei der der „ästhetisch-kompositionstechnische“ Analyse der Vorrang gebühre), die er im Aufsatz „Der Versuch, einen faulen Frieden zu stören“ 1976 äußerte. So verwickele man sich nach Dahlhaus „bei der Trennung der Bereiche und Methoden insofern in einen Widerspruch, als die Ausschließung der ‚Trivialmusik‘ vom Verfahren der ästhetischen Analyse ein ästhetisches Urteil darstellt, das eigentlich durch eine ästhetische Analyse überhaupt erst gerechtfertigt werden müßte“.

Klein verwies auf genau solche musikwissenschaftliche Untersuchungen, die diese Fragestellung aufgenommen haben, wie bei dem Kanadier Adam Krims, den er stellvertretend anführt mit seiner Schrift „Rap Music and the Poetics of Identity“. Daran anschließen ließ Klein die Frage, wie heute Musikgeschichtsschreibung überhaupt möglich sei, die sich in dieser Form im Zuge allgemeinerer Vernetzung und Durchdringung von (Musik-)Kulturen im Zeichen eines zunehmenden Globalisierungsdrucks geradezu aufdrängt. Dahlhaus’ Projekt der „einen Weltgeschichte“ wurde zwar 1984 schon formuliert („Nationale und Übernationale Geschichtsschreibung“), blieb bis heute jedoch uneingelöst. Die Forderung Kleins, dass Gegenwartsforschung „sich auch vom musikalischen Standpunkt weniger denn je auf die europäischen Traditionen beschränken“ lasse, hat die Ohren und die Herzen der Symposiumsteilnehmer nur in kleinen Dosen erreicht.

Und das gehört zu den Momenten, an denen sich zeigt, dass das Werk von Dahlhaus auf diesem Symposium nur wenig in seiner Aktualität begriffen worden ist. Ebenso symptomatisch zeigt sich das Defizit der Veranstaltung in der Frage, nicht nur, wer dort zugegen war, sondern vielmehr, wer fehlte. Nämlich die Vertreter der dahlhausverwandten, aber doch abgewandten Seite wie Hanns Werner Heister oder Hartmut Fladt, Vertreter der ehemals um Eggebrecht konstituierten Sozialgeschichts- und Terminologieforscher oder der Systematiker Hamburger Provenienz aus dem wissenschaftlichen Fahrwasser Hans-Peter Reineckes. So gewann das Symposium den Charakter eines ungestörten Klassentreffen.

Gefahr der Versteinerung

Das Symposium zum 80. Geburtstag von Carl Dahlhaus hinterlässt mithin einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite scheint man wie gefangen von der Macht seiner Schriften, die sich nicht zuletzt in den Buchblöcken der Gesammelten Schriften zugleich sedimentiert wie auch kanonartig fixiert haben – und über deren Textauslassungen eigens nachzudenken wäre –, zum anderen scheint die Bewältigung des denkerischen und schriftstellerischen Textmassivs noch am Anfang. In die aufschließend-dynamische aktualisierend-progressive Kritik scheint die deutsche Musikwissenschaft einstweilen nicht den Übergang gefunden zu haben.

Die Gefahr, dass es in der Dahlhaus-Rezeption zu einer wissenschaftlichen Versteinerung kommen könnte, der eine unleidliche Verwitterung folgte, dürfte damit keineswegs als gebannt gelten. Wenn man die Schriften von Dahlhaus mit seinen eigenen Mitteln als Gegenstand einer Problemgeschichte der Musikwissenschaft begreifen würde, wäre wenigstens das Wenigste, aber auch das Mindeste erreicht.

In dieser Richtung aber operiert in weiten Teilen das Heft 47 der Zeitschrift „Musik & Ästhetik“, das den Titel „Carl Dahlhaus. Gegenwart und Historizität“ trägt. Ganz entschieden fachliche Kritik kommt von Ulrich Tadday, der, genau genommen, den Dahlhaus-Analysen zur „Absoluten Musik“ den Quellenboden wegreißt. Noch tiefer schürft allerdings Richard Klein im Beitrag „Carl Dahlhaus im Konflikt mit Richard Wagner.“ Da werden plausible Einsichten bei Dahlhaus zu unplausiblen Schlüssen geführt. Zahlreiche andere methodische Probleme der Durchführung von Gedanken analysiert Klein ebenfalls.

Unstrittig bleibt die schon musikhistorische Tatsache der Feststellung, auf welches Niveau Dahlhaus Musikwissenschaft erstmals gehoben hatte. Man muss bedauern, dass er nie wirklich einen ergänzenden Kontrahenten zur Seite hatte. Auf der anderen Seite stand Dahlhaus offenbar genug Material zur Verfügung, um zwischen sich und die anderen Wälle von Missverständnissen aufzubauen.

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