„Nach dem November 1989 stellte sich für mich, für uns zunächst einmal die Aufgabe, diese Hochschule in das Bewusstsein der Berliner hineinzutragen. Denn sie hatte sich abgeschottet. Es gab – bis auf die Repräsentationskonzerte im Schauspielhaus – eigentlich keine Konzerte, die nach meinem Dafürhalten auf ganz natürliche Weise sich hätten in das Berliner Konzertleben integrieren lassen.“ Mit diesen Worten skizzierte Annerose Schmidt, damalige Rektorin der Hochschule für Musik Hanns Eisler, 1990 die Situation in der unmittelbaren Nachwendezeit. Die international renommierte Pianistin war die erste Kandidatin, die durch eine demokratische Wahl zur Rektorin bestimmt wurde, und das mit überwältigender Mehrheit. Ihrem Amtsvorgänger Erhard Ragwitz war im November 1990 gekündigt worden.
Annerose Schmidt richtete den Blick nach vorn und visierte „eine geistige Erneuerung in jeder Hinsicht“ an, einen umfassenden Mentalitätswandel. Aus der Not, sich den Zwängen des (Arbeits-)Marktes anzupassen und Wettbewerbsdenken zu üben, machte sie eine Tugend: „Wir haben uns doch eigenmächtig selbst zum Musikland ernannt, in Wahrheit Kultur aber nur verwaltet. Wer sein Studium absolviert, seinen Arbeitsplatz vermittelt bekommen hatte, konnte daran wie ein Beamter bis zum Rentenalter festkleben. Es gab praktisch keine Konkurrenz, was für die Kunst letztendlich tödlich ist.“ Tatsächlich waren sowohl der Zugang zum Studium wie die Ausbildung selbst in der DDR stark reglementiert und mit einem hohen politischen Anpassungsdruck verbunden, zugleich aber bekam man ein Stipendium und bei Bedarf einen Wohnheimplatz. Der Arbeitsplatz nach Studienabschluss war mehr oder weniger garantiert. In der Wiedervereinigung sah Annerose Schmidt wertvolle Chancen: „Diese Hochschule hat den Studenten 12 Studiengänge anzubieten, aber unabhängig davon gibt es eine ungeheure Vielfalt der geistigen Anregungsmöglichkeiten, der geistigen Provokationen, die – glaube ich – Dimensionen eröffnen, die es vor dem November 1989 in diesem Lande nicht gegeben hat.“
Vor 1989: Blick zurück
Mitte 1950 berichtete „Neues Deutschland“ über die baldige Eröffnung eines Staatlichen Konservatoriums im Ostteil Berlins. Noch türmte sich allerorten der Schutt in der Wilhelmstraße 63. Für mehr als fünfzig Räume war kein Platz, auch ein Saal für Konzerte fehlte. 250 Studierende sollten aufgenommen werden. Nur 46 Student*innen erhielten im Oktober einen Studienplatz an der Hochschule selbst, die anderen verteilten sich auf drei propädeutische Einrichtungen. Unter ihnen als sozialistisches Vorzeigeprojekt eine bis 1962 existierende Arbeiter- und Bauernfakultät – die einzige ihrer Art, die der Musik gewidmet war. Sie sollte Kandidat*innen aus diesem Personenkreis innerhalb von drei Jahren für ein Hochschulstudium qualifizieren. Obgleich sie mit den vorgeschriebenen Quoten zu kämpfen hatte, erreichte sie das selbstgesteckte Ziel, den weniger Privilegierten Teilhabe zu ermöglichen.
Gründungsrektor Georg Knepler forderte damals, das Musikleben aus der Exklusivität „einiger weniger Opernhäuser und Konzertsäle“ herauszuholen und für „eine potentielle Musikhörerschaft, die nach Millionen zählt“, zu öffnen. Studiengänge für verschiedene Instrumente, Gesang, Komposition und Dirigieren, für Schulmusik, Musikpädagogik, Musikschriftsteller*innen und Tonmeister wurden eingerichtet. Neben handwerklichen Fähigkeiten sollten die Kandidat*innen eine gute Allgemeinbildung und „Verständnis für die Erfordernisse der neuen Zeit mitbringen“, sich also als sozialistische Staatsbürger bewähren. Die neue Hochschule im Osten trat explizit in Konkurrenz zu schon vorhandenen Institutionen im Westen der Stadt.
Zur „Förderung der kulturellen Entwicklung auf dem Lande“ spielten Hochschulangehörige damals bei Konzerten und Tanzfesten in den Dörfern. Das Sinfoniekonzert zum zehnjährigen Hochschuljubiläum fand im Kultursaal des VEB Berliner Glühlampenwerk statt und die Beteiligung der Hochschule an den Jugendweltfestspielen und deutsch-sowjetischen Freundschaftskonzerten erzielte mediale Beachtung.
Seit 1951 bildete die HfM Tonmeister aus, ein Alleinstellungsmerkmal in der DDR. Der Studiengang wurde erst 1992 im Rahmen der Neuprofilierung abgewickelt. Hohes Ansehen genoss ab 1953 die Abteilung Regie des Musiktheaters unter Leitung von Carl Riha, Regieassistent bei Walter Felsenstein. Die Orientierung an Felsensteins Regiekonzeption vor dem Hintergrund von Bertolt Brechts Theaterästhetik war prägend. Es wurde zur Tradition, alljährlich selten gespielte Bühnenwerke oder Zeitgenössisches zu präsentieren. Regisseur*innen wie Peter Konwitschny, Christine Mielitz und Vera Nemirova profitierten von diesem singulären Studienangebot.
Eine Interpretationskultur etablierte sich, die teilweise bis heute fortwirkt. Bei den Streichern war der Geiger Werner Scholz eine Schlüsselfigur. Seit 1951 zunächst als Assistent, ab 1961 mit eigener Professur formte er an der Hochschule ganze Streichergenerationen. „Das Schlimmste, was mir passieren könnte, wenn jemand nach drei Takten sagt: Aha, ein Scholz-Schüler. Meine Schüler sollen nicht etwas einfach übernehmen, sondern Eigenes erarbeiten und anbieten“, verlangte der Violinpädagoge 1988 und fand sich durch Antje Weithaas, seine berühmteste Schülerin und seit 2004 selbst Professorin an der HfM, darin bestätigt: „Bei ihm ist man gefordert, alles aus sich herauszuholen, lernt schnell, auf eigenen Füßen zu stehen, selbst mit Problemen fertig zu werden, Entscheidungen zu treffen.“
Eine andere Traditionslinie bildete die Phalanx bedeutender Komponisten. Mit Hanns Eisler als Vorbild reichte sie von Rudolf Wagner-Régeny, Georg Katzer, Siegfried Matthus bis hin zu Friedrich Schenker und vielen anderen. Aus Überzeugung und trotz der Bevormundung durch eine ideologisch repressive Kulturpolitik einte sie letztlich das Anliegen, sozial engagierte Musik zu komponieren.
Seit 1951 war ein gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium Pflichtfach an allen Hochschulen und Universitäten der DDR. „Grundlagen der marxistisch-leninistischen Ästhetik“ gehörten auch an der HfM zum Lehrstoff, seit 1955 gab es eine FDJ-Gruppe. Ex-Rektor Georg Knepler verlangte 1975 vom sozialistischen Musiker, dass er sich „nicht bloß für sein Instrument oder seinen Kehlkopf interessiert“. Als der Komponist Paul-Heinz Dittrich, der an der HfM Musiktheorie lehrte, 1976 fristlos entlassen wurde, hieß es, er sei ein „Querulant, der nicht auf dem Boden der marxistisch-leninistischen Kulturpolitik steht, kann also nicht Lehrer sein.“ Erst nach dem Mauerfall kehrte Dittrich als Kompositionsprofessor an die HfM zurück.
Im Osten existierte ein wohlorganisiertes System zur Nachwuchsförderung. Nach Eröffnung der Hochschule richtete man in Berlin für 14- bis 18-Jährige eine vierjährige Ausbildung an einer Fachgrundschule ein. 1965 entstand daraus die Berliner Spezialschule für Musik, die 1991 in das Musikgymnasium Carl Philipp Emanuel Bach transferiert wurde. Dort wurden musikalisch talentierte Kinder von Hochschulmitgliedern für ein Musikstudium qualifiziert. Ziel war eine fundierte, exzellente Ausbildung von Anfang an, ein Prinzip, das sich bewährte.
Es gab ein bestimmtes Aufnahmesoll für die Hochschulen, etwa um für die vielen Opernhäuser qualifizierte Gesangskräfte bereitzustellen. Die Gesangsprofessorin Renate Faltin erinnert sich, dass man sich um Student*innen darum auch im Fall von Krisen intensiv bemühte, statt sie bei Problemen einfach fallen zu lassen. Ein hoher Betreuungsgrad war im Osten Usus.
1959 übernahm Eberhard Rebling das Rektorenamt und initiierte 1964 die Umbenennung der Hochschule: Sie erhielt den Namen Hanns Eisler, zwei Jahre nach dessen Tod. Dies war explizit mit der Intention verbunden, einen zeitgenössischen Komponisten zu würdigen. Kontakte wurden vorwiegend ins sozialistische Ausland geknüpft. Zu den Sternstunden zählten Begegnungen mit Dmitri Schostakowitsch, Aram Chatschaturjan, Igor und David Oistrach, Swjatoslav Richter, Witold LutosÅ‚awski und Zoltán Kodály.
Heute kaum noch vorstellbar, aber 1960 kämpfte man um höhere Bewerberzahlen. Damals beriet die Hochschule eigens über Möglichkeiten, sich für ein Musikstudium im Abend- und Fernstudium zu qualifizieren. An öffentlich zugänglichen Staatsexamen nahm die Presse regen Anteil. Als Roman Trekel 1986 im Musikclub des Schauspielhauses mit dem Prädikat „Ausgezeichnet“ honoriert wurde, hieß es: „Erstaunlich, mit welch menschlicher Reife und Klangsinnlichkeit Trekel die Lieder in einer Mischung aus zarter Schwärmerei, Glücksemphase, Schwermut, Trauer und Todessehnsucht regelrecht ‚verkörperte‘.“ Zu den namhaften, an der „Hanns Eisler“ geschulten Sänger*innen zählten unter anderen Siegfried Lorenz und Jochen Kowalski.
Für das Vogler-Quartett wurde der Gewinn des renommierten Evian-Wettbewerbs 1986 in Frankreich (samt Pressepreis und Auszeichnung für die beste Interpretation eines zeitgenössischen Stücks) zur Initialzündung einer bis heute andauernden Streichquartettkarriere. Die Musiker, deren Mentor Eberhard Feltz nach wie vor Kammermusikensembles an der HfM betreut, konzertierten danach in ganz Europa, 1989 sogar in den USA. Im selben Jahr gewann die Pianistin Susanne Grützmann, Schülerin von Dieter Zechlin, den ARD-Wettbewerb in München.
Nicht zuletzt aus Gender-Perspektive hat sich die „Hanns Eisler“ viele Verdienste erworben, indem sie weibliche Lehrkräfte in traditionell von Männern dominierten Fächern verpflichtete. Als erste deutsche Hochschule vergab sie eine Kompositionsprofessur an eine Frau: 1969 avancierte Ruth Zechlin zur Professorin. Die „Ella Fitzgerald des Ostens“ Ruth Hohmann engagierte man 1976 als Gastdozentin für Jazz und Chanson. Sie blieb zwei Jahrzehnte. Diese Tradition setzte Maria Baptist nach dem Mauerfall auf ihre Weise fort. Mitte der 1980er Jahre berief man Barbara Sanderling als Professorin für Kontrabass. Auch Absolventinnen bewährten sich in Bereichen, wo Musikerinnen rar gesät sind: Kristiina Poska, die als erste Dirigentin 2013 den Deutschen Dirigentenpreis gewann, hatte zuvor ihr Studium bei Christian Ehwald an der HfM absolviert.
Nach 1989: Blick nach vorn
Nach der Wende stand die „Hanns Eisler“ mit ihren damals mehr als 1.000 Studierenden (inklusive der Außenstellen Schwerin und Rostock) zur Disposition. Zudem war die Existenz der Musikspezialschule in ihrer bisherigen Form gefährdet. In einem Offenen Brief taten sich die Westberliner Hochschule der Künste und die HfM zusammen und plädierten dafür, nicht allein finanzpolitische Erwägungen über den Fortbestand entscheiden zu lassen. Befürworter der HfM traten dafür ein, nach der Vereinigung beider Stadthälften genauso viel Nachwuchs heranzubilden wie zuvor für die getrennte Stadt.
Ende 1990 nahm die Zitterpartie um die Finanzierung ein positives Ende. Dazu trugen nicht nur die unbestritten hohe Qualität der Ausbildung an der HfM und das herausragende künstlerische Niveau ihrer Absolvent*innen bei. Auch der demonstrative Wille zum Strukturwandel dürfte eine positive Rolle gespielt haben. Bewusst setzte Annerose Schmidt auf eine reine Musikhochschule und sprach sich gegen eine Synthese der Künste aus. Heute ist die „Hanns Eisler“ die einzige unter allen 24 deutschen Musikhochschulen, die ganz und gar auf die künstlerische Ausbildung fokussiert ist. Diese singuläre Konzentration resultierte nicht zuletzt aus der damals erfolgten Verlagerung des Musiklehrerstudiums an die Hochschule der Künste.
Neue Studiengänge wurden etabliert, etwa die Ausbildung in elektronischen Tasteninstrumenten oder der Ergänzungsstudiengang Kulturmanagement, und man konnte sich in Filmmusik und Medienmusik spezialisieren. Altbewährtes blieb bestehen, darunter die Popularmusik, das heißt Jazz, Popmusik, Schlager und Chanson. Für diese Mischung aus Wandel und Kontinuität sowie eine Öffnung zur Internationalität stand auch die Berufungspolitik ein. 1992 beispielsweise wurden neben Michael Vogler, 1. Geiger an der Komischen Oper, auch Karl Leister, Soloklarinettist des Berliner Philharmonischen Orchesters, sowie der Pianist Alan Marks und die Sängerin Norma Sharp aus den USA auf Professuren berufen.
Zwischenzeitlich flammten Auseinandersetzungen um den Namen Hanns Eisler auf. Eines der Mitglieder der Evaluierungskommission, der Komponist Wolfgang Rihm, trat seinerzeit für eine Umbenennung ein, erklärte aber im Jahr 2000: „Ich gestehe offen, daß Hanns Eisler für mich ein Problemfall ist. Denn als Komponist ist er mir fremd.“ Er habe gehofft, die HfM werde in Arnold-Schönberg-Hochschule umbenannt. Dass das nicht geschehen sei, sei aber richtig. Und so fungiert Hanns Eisler weiterhin als Markenzeichen der Hochschule, steht als Komponist sinnbildhaft für die Verwerfungen und Widersprüche des 20. Jahrhunderts, für eine Musik im Zeichen der Moderne und des politischen Engagements.
2002 riefen der Kulturmanager Klaus Harnisch und Rektor Christhard Gössling das Kritische Orchester ins Leben: eine Dirigierwerkstatt, die jedes Jahr jungen Dirigent*innen aus aller Welt die Chance gibt, mit Mitgliedern aus deutschen Spitzenorchestern mehrere Tage zu proben, inklusive eines wohlwollend-kritischen Feedbacks.
Im Zuge einer Neustrukturierung kam es zudem zu mehreren geglückten Kooperationen der HfM mit der UdK, darunter neben dem Institut für Neue Musik „KLANGZEITORT“ als gemeinsamem Experimentier- und Reflexionsforum für zeitgenössische Musik auch das Kurt-Singer-Institut für Musikphysiologie und Musikergesundheit. Das geschah nicht von ungefähr, denn nach der Wende integrierte die HfM als erste Hochschule Physioprophylaxe obligatorisch in den Lehrplan.
Seit der Eröffnung des Neuen Marstalls am Schloßplatz nahe der Museumsinsel im April 2005 hat die Hochschule neben ihrem Gebäude am Gendarmenmarkt zwei attraktive Standorte, die als Konzertstätten im Berliner Musikleben fest etabliert sind. Mit der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge Ende 2009 hat sich die internationale Öffnung, die schon nach der Wende einsetzte, rasant beschleunigt. Heute beträgt der Anteil ausländischer Studierender aus dem EU-Raum und von weiter außerhalb etwa zwei Drittel. Dieser Kosmopolitismus spiegelt sich auch im internationalen Lehrpersonal wider.
Während der 40 DDR-Jahre und der drei Dekaden im wiedervereinten Deutschland hat die „Hanns Eisler“ mit ihren rund 550 Studierenden ein ganz und gar eigenständiges Profil entwickelt. Seit 2019 kann man Produktionsdramaturgie für Musiktheater studieren. Streicher-, Klavier- und Bläser-Kammermusik wurden durch Professuren gestärkt. Ein innovatives Vertrauensteam offeriert den Student*innen Unterstützung. Und ein exzellentes Lehrkollegium sowie hochprofessionelle, engagierte Studierende werden der hohen Reputation gerecht, die die HfM seit jeher genießt.
Feierlichkeiten zum 70. Jubiläum konnten wegen der Coronakrise nicht realisiert werden. Eine musikwissenschaftliche Vortragsreihe zum Musikschaffen in der DDR, die auch die Hochschulgeschichte im Visier hat, wird nachgeholt.
Prof. Dr. Ute Henseler, Professorin für Musikwissenschaften, HfM Hanns Eisler Berlin