Seit Sommersemester dieses Jahrs kooperiert die HfM Detmold mit der Nationalen Musikakademie Odessa. Im Rahmen dieser Kooperation werden Projektmittel aus dem DAAD-Programm „Ukraine digital“ eingesetzt, um Musikstudierende in Odessa in Krisenzeiten zu unterstützen. Sie bekommen in einer Workshop-Reihe zum Thema Audio- und Videoproduktion Unterricht bei Studierenden des Tonmeisterinstituts. Ein Bericht über die Hintergründe des Projekts.
Stanislav Tsema (26) ist Countertenor und war erfolgreicher Gastsolist am Lemberger Nationaltheater. Er gewann Wettbewerbe und nahm am internationalen Festival LvivMozArt unter der Leitung von Oksana Lyniv in Lemberg teil. Studiert hat er an der Nationalen Musikakademie Odessa, der ältesten Musikhochschule in der Ukraine. Genauso wie sein Kommilitone Oleksii Volvak (23), der sich im letzten Semester seines Bachelorstudiums im Hauptfach Klavier befand, bevor der Krieg in der Ukraine ausbrach. Er hatte nach der Pandemie eigentlich wieder auf Auftritte gehofft, doch dazu kam es nicht.
Es ist Dienstag 16.00 Uhr. Tonmeisterstudent und Projektmitarbeiter Benedikt Jäger beginnt zusammen mit seinen beiden Kollegen Sascha Etezazi und Jasper Klein die Videokonferenz. Nacheinander öffnen sich die Kacheln. Zugeschaltet sind 60 Studierende der Nationalen Musikakademie Odessa, unter denen sich auch Stanislav Tsema und Oleksii Volvak befinden. Das Thema: Online-Lehre in Krisenzeiten. Eine kurze Begrüßung und die Vorstellung der Lerninhalte erfolgen. Zwischendurch entschuldigen sich einzelne ukrainische Studierende, weil die Verbindung immer wieder abbricht. Alle hören gebannt zu, wie Benedikt Jäger seine Kenntnisse im Bereich der Audio- und Videoproduktion an die ukrainischen Studierenden weitergibt. Die Lehreinheit ist Hauptbestandteil eines kürzlich bewilligten DAAD-Antrags im Förderprogramm „Online-Lehre im künstlerischen Unterricht unter Krisenbedingungen an Musikhochschulen.“ Das Ziel: Studierende der Partnerhochschule in Odessa dazu zu befähigen, ihr Studium angesichts der Situation trotzdem weiterzuführen und ihnen dafür die technischen Mittel und das notwendige Wissen zur Verfügung zu stellen.
Die Umsetzung erfolgt durch das Ressort Wissenschaft und Digitalisierung des Prorektors Prof. Dr. Aristotelis Hadjakos, der die Durchführung der Workshops in die Hände der drei erfahrenen Tonmeister legt. Heißt in der Praxis: „Wir versuchen den Studierenden beizubringen, wie sie Aufnahmen von ihrer Musik anfertigen und wie sie diese effektiv im Online-Unterricht einsetzen können“, so Hadjakos. Aus Mitteln des Antrages sind dafür hochwertige Mikrofone angeschafft worden, die den insgesamt 180 Studierenden in Odessa, die zusätzlich bis Jahresende mit einem monatlichen Onlinestipendium von 200 Euro bedacht sind, zur Verfügung gestellt werden. Angesichts der Kriegssituation in der Ukraine gibt es häufig keine Möglichkeiten, den künstlerischen Einzelunterricht durchzuführen oder Ensembleproben in der Hochschule stattfinden zu lassen.
„Wir möchten eine Infrastruktur zwischen Studierenden und Lehrenden in Odessa aufbauen, mit der das Studium über Distanzunterricht fortgesetzt werden kann“, ergänzt Benedikt Jäger. Um das Wissen in die Tat umzusetzen, soll die Lehreinheit mit einem Abschlussprojekt enden, in denen die Studierenden virtuelle Ensembles bilden, um damit ein Projekt zu verwirklichen. Denn: „Der Kurs bildet nicht nur ein Angebot, sondern ist fester Bestandteil des Studiums“, erläutert Prof. Dr. Iryna Cherniaieva. Sie ist Vizerektorin für Bildung und Internationale Beziehungen der Hochschule in Odessa, seit April 2022 auf Initiative von Hochschulrektor Prof. Dr. Thomas Grosse und – begünstigt durch Forschungsstipendien der Phoenix Contact Stiftung und der Volkswagenstiftung – als Gastwissenschaftlerin in Detmold tätig. Mit ihrer Forschungserfahrung zum Thema Fremdsprachenerwerb im Bereich der musikalischen Ausbildung unterstützt sie die Studienentwicklung an der Hochschule für Musik Detmold und nutzt zugleich jede Möglichkeit, den Kontakt zu ihrer Hochschule aufrechtzuerhalten.
Schon im Sommer arbeitete sie in enger Zusammenarbeit mit dem Rektorat an der Erstellung des DAAD-Antrages, organisierte E-Mail-Adressen und entwickelte Kriterien für den Bezug von Leistungsstipendien an die ukrainischen Studierenden. Neben dem Verbleib in der Ukraine und überdurchschnittlichen künstlerischen Leistungen, seien dafür auch soziale Kompetenzen ausschlaggebend. So spielen ukrainische Studierende regelmäßig in Spitälern für Verletzte, berichtet Cherniaieva. Gesangsstudent Oleksandr Filippov (26), der aus Saporischschja kommt, erzählt, wie er sich freiwillig in Theatern gemeldet hat, um Konzerte für Flüchtlinge und die Landesverteidigung zu geben und von seinen Konzerten im Zentrum für Militärmusik der Marine in der Ukraine, wo er Geld für die Armee sammelt und Konzerte für Soldatinnen und Soldaten gibt.
Cherniaieva spricht von der enormen Belastung, die ihre Studierenden in dieser Zeit durchmachen müssen. Wettbewerbe und Auftrittsmöglichkeiten seien quasi nicht vorhanden, das immerzu ausfallende Internet, da die Leitungen infolge der Luftangriffe beschädigt worden sind oder der Gang in den Luftschutzkeller angesichts des starken Raketenangriffs im Oktober sind für die Mitglieder ihrer Hochschule schon zum traurigen Alltag geworden. Aber sie ist auch voller Energie und Begeisterung und schätzt die Zusammenarbeit mit Detmold über allen Maßen. „Dank der finanziellen Unterstützung seitens des DAAD konnten wir neben unseren Studierenden auch unseren Lehrenden ein Seminar zum Thema Online-Teaching anbieten“, erzählt Cherniaieva. Und beim „Tag der Lehre“ im November soll es sogar einen digitalen Austausch über Erfahrungen zwischen Lehrenden aus Detmold und Odessa geben. Ein Funke Hoffnung in Zeiten des Krieges.
Im Sommer wurde die Zusammenarbeit beider Hochschulen über einen Kooperationsvertrag auf fünf Jahre beschlossen. Beide Parteien hoffen auf gemeinsame Austauschprogramme zwischen Studierenden und Lehrenden. Ebenso denkbar ist die Realisierung von Veranstaltungen, Konferenzen oder Publikationen.
Für den Moment bleibt der Austausch allerdings darauf beschränkt, was derzeit möglich ist. Dafür bilden die Seminare zwischen Tonmeistern und ukrainischen Studierenden einen unverzichtbaren Bestandteil. Oleksii Volvak hat schon viele Ideen für seine Abschlussprüfung, in der er das Erlernte gerne in der Aufnahme eines seiner Kammermusikensembles anwenden möchte. Über die wertvollen Anregungen freut sich auch Countertenor Stanislav Tsema: „Der Unterricht hilft, genau zu verstehen, wie man mit einem Aufnahmegerät arbeitet und gibt darüber hinaus die Möglichkeit, Alternativen zu dem in Betracht zu ziehen, was bisher eine Rolle spielte“, so der Sänger. Er plant die Aufnahmen einer Romanze von Ernest Chausson mit Klavier und Violoncello. Denn dieser Komponist sei zumindest für Frankreich ein Hoffnungsträger gewesen.