Sehr beweglich ist er, der Oktopus. Und sehr intelligent. Als die Komponistin und Dirigentin Konstantia Gourzi vor 13 Jahren an der Münchner Musikhochschule ein Ensemble für Neue Musik gründete, benannte sie es nach diesem geheimnisvollen Weichtier. „Wenn man dem Oktopus seinen Raum gibt, dann kann er wachsen, groß werden und sich in seiner ganzen Schönheit zeigen. Das war mein Wunsch: dass die Neue Musik selbstverständlich wird und wir ihre ganze Schönheit entdecken.“
Das ensemble oktopus ist ein so genanntes Ausbildungsorchester der Hochschule für Musik und Theater München, das sich ganz auf das Repertoire des 20. und 21. Jahrhunderts konzentriert. Es gehört zu einer Reihe hochkarätiger Hochschulensembles in Deutschland. So gibt es auch in Köln, Dresden, Karlsruhe oder an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin ähnliche Ausbildungsensembles für Neue Musik. Das war nicht immer so. Anfang des neuen Jahrtausends hatten viele Städte Aufholbedarf im Bereich Ensemblepraxis Neue Musik. Auch München. Hier gab es außerhalb der Hochschule natürlich die etablierten Institutionen wie „musica viva“, „ADEvantgarde“ oder die Münchner Biennale, die freien Ensembles und nicht zu vergessen den Bayerischen Rundfunk. In der Ausbildung aber, innerhalb der Hochschule, spielte die Ensemblepraxis Neue Musik eine bescheidene Rolle. Konstantia Gourzi, Professorin für „Ensembleleitung Neue Musik“, gründete daher das ensemble oktopus, das heute fester Bestandteil des Hochschulalltags ist. Hier mitzuspielen, gehört zu den Pflichtveranstaltungen der Studentinnen und Studenten (wie übrigens auch die Teilnahme im Hochschulorchester).
Im ensemble oktopus sammeln sie Erfahrungen, lernen Repertoire und die internationale Neue Musik-Szene kennen und spielen Konzerte innerhalb und außerhalb der Hochschule. Als Ergebnis liegen hochgelobte CD-Produktionen vor, so etwa der vom ensemble oktopus eingespielte Soundtrack zum Film „Stille Sehnsucht – Warchild“ (2005 für den Deutschen Filmpreis in der Kategorie Musik nominiert). In der hochschuleigenen CD-Reihe erschienen bisher mehrere Einspielungen mit Werken von Iannis Xenakis oder Wilhelm Killmayer. Zudem zeichnet der Bayerische Rundfunk Konzerte des Ensembles auf.
Brücke ins Musikleben
Für die Studierenden schlägt das ensemble oktopus mit seinen vielseitigen Projekten wie den eigenen Konzertreihen (u.a. Konzerte mit Solisten, Neue Musik und Improvisation oder Something New), den CD-Produktionen, Radioaufnahmen, Uraufführungen, der Mitwirkung an Festivals wie etwa der Münchener Biennale oder der Theaterakademie August Everding die Brücke zwischen Hochschule und professionellem Musikerleben.
Renommierte Komponistinnen und Komponisten werden regelmäßig eingeladen, um mit dem Ensemble Werke zu erarbeiten, um Fragen, Chancen und Probleme heutigen Komponierens zu diskutieren und den jungen Instrumentalisten die Möglichkeit zu geben, das heutige Musikleben hautnah zu erleben. Junge Dirigentinnen und Dirigenten kommen zu Workshops des Ensembles und erarbeiten Werke unter anderem auch von Kompositionsstudenten. Diese wiederum bekommen immer wieder Kompositionsaufträge vom Ensemble, die innerhalb aber auch außerhalb der Hochschule präsentiert werden.
Die Studierenden goutieren das: „Die Intensität, die technische, die emotionale Fähigkeit und die Offenheit der jungen Musiker ist so stark“, sagt Gourzi, „dass jedes Konzert ein prägendes Erlebnis ist und zeigt, wie befreiend Neue Musik sein kann, wenn man mit Selbstverständlichkeit herangeht. Besonders schön ist auch, wenn die jungen Musiker die Hochschule absolviert haben und später Mails aus ihren Ländern oder von ihren neuen Stellen schreiben, in denen sie davon erzählen, wie wichtig für ihre Laufbahn das Spielen im Ensemble gewesen ist und wie weit es ihre Ohren geöffnet hat.“
Der Horizont öffnet sich
Die hohe Professionalität des Ensembles ist mit studentischen Aktivitäten, wie sie noch vor 20 Jahren eher die Regel als die Ausnahme waren, nicht mehr zu vergleichen. Mit ihr hat sich das ensemble oktopus heute als feste Größe im Münchner Kulturleben etabliert. Längst können nicht mehr alle Anfragen von Veranstaltern außerhalb der Hochschule erfüllt werden. Einer der interessantesten und wichtigsten Aspekte eines solchen Hochschulensembles ist aber sicherlich, dass die jungen Musiker einen frühen und unkomplizierten Zugang zu Musik der Moderne bekommen, an komplexen Werken wachsen und Anregungen für die berufliche Laufbahn bekommen. Der musikalische Horizont öffnet sich, sie haben die Chance, wirklich am Puls der Zeit zu sein. Denn natürlich werden von Boulez bis Stockhausen die Klassiker der Moderne erarbeitet, aber auch die neuesten Spuren verfolgt: Zwischen Musiktheater, Multimedia und neuem Konzeptualismus ist die Szene der Neuen Musik heute so vielfältig wie nie. Auch andere Ursprünge und Prägungen jenseits des deutschen oder europäischen Zirkels geraten ins Blickfeld.
Mündige, kompetente, versierte und begeisterungsfähige Teilhaber an der lebendigen, pulsierenden Szene der Neuen Musik werden auch dafür sorgen, die Glut weiterzutragen. Natürlich geht es nicht darum, mit einem Ensemble wie oktopus Spezialisten für Neue Musik heranzuziehen. Aber es geht darum, der Neuen Musik ihre dringend gebotene Selbstverständlichkeit zu geben und den Horizont zu weiten – in den Köpfen der Musiker wie des Publikums.