Wie strahlt eine weltweit gerühmte Hochschule in einer mittelgroßen Stadt und einem für die dünn besiedelte Region reichen Kulturangebot aus? Was für einen Stellenwert hat die Hochschule für Musik Franz Liszt als Veranstalter und Pool für hochtalentierte Besetzungen in Thüringen und in Mitteldeutschland?
Die Idee zu dieser regionalen Präsenz-Topographie kam mir als Beobachter der Hochschule für Musik Franz Liszt, ihrer Netzwerke und ihrer Strahlkraft nicht erst zum 150-jährigen Jubiläum. Denn Studierende, die einzeln oder in Gruppe als Mitwirkende genannt werden, scheinen in den tourismusstrategischen Schwerpunkten des Bachlands Thüringen, des Kernlands der Reformation und der Weimarer Klassik sowie in vielen synergetisch nicht erfassten Nischen vielfältig präsent. In Großstädten sind Studierende oft in gesicherten Formaten aktiv. Die spezifische Struktur des Standorts Weimar bietet weitaus mehr als von einem treuen Stammpublikum begleitete Auftrittsmodule wie Mittagskonzerte, Klassenabende, Auswärtstermine, Musiktheaterproduktionen und Langzeitreihen an Außenorten.
Aber sogar die designierte Präsidentin Anne-Kathrin Lindig entmutigt mich auf meine Frage nach Nischen und Orten studentischer Musikaktivitäten: „Die Aufgabe einer Musikhochschule ist im künstlerischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Bereich die Ausbildung eines zukunftsfähigen Nachwuchses“, sagt sie und meint damit, dass die Hochschule ihre Lerninhalte an realistischen Kriterien absteckt, was ihre Absolvent*innen können müssen, brauchen und vermitteln sollen.
Dirigentenaktivitäten
Prof. Nicolás Pasquet freute sich in unserem Gespräch über die hohe Erfolgsquote seiner Studierenden im Fach Orchesterdirigieren, wenn diese es nach dem Weimarer Examen sofort in erste Positionen nach München, Schwerin und in international renommierte Positionen schaffen. Pasquet reagierte fast enttäuscht, als mich das in diesem Falle weniger interessierte – auch wenn mir die Auftritte des gerade 30-jährigen Felix Bender als Dirigent des „Ring des Nibelungen“ an der Oper Chemnitz zutiefst imponieren. Interessanter ist für meine Recherche Pasquets Alumnus Dominik Beykirch, der von der Hochschule hinüber ins Deutsche Nationaltheater Weimar wechselte und dort zum Beispiel mit Paul Dessaus „Lanzelot“ und „Aida“ einen überregional gefeierten Erfolg nach dem anderen setzt.
Am interessantesten wird es bei Friedrich Praetorius. Der Weimarer Hochschulstudent ist Musikalischer Leiter des Vereins Junge Mitteldeutsche Kammeroper e. V.. Dieser produzierte zum Beispiel Puccinis „Der Mantel“ als freie Produktion. Ein solches Beispiel grenzt die Positionierung und Frage nach der Präsenz von Weimarer Studierenden im aktiven Musikleben plausibel ein. Was würde ohne die Mitwirkung Studierender im Großraum Weimar nicht geschehen? Wo werden Studierende und Lehrende bei Veranstaltungen als Angehörige der Hochschule genannt, obwohl diese weder administrativ, planend oder helfend mitwirkt? An welchen Schnittstellen bereichern Alumni und Lehrende in eigenen Projekten oder als Gäste das Musikleben in Thüringen? Von solchen Projekten gibt es eine ganze Menge, die digital nicht auf den ersten Klick zu finden sind. Denn weder die Tourismus-Netzwerke noch die Festival- und Kirchenszene erfassen alle ambitionierten Nischenereignisse.
Sehr offen für meine Fragestellung zeigte sich Christoph Meixner, Leiter des Hochschularchivs und des Thüringischen Landesmusikarchivs. Die Dokumentation von Fundstellen der Musikkultur Thüringens und der Adjuvanten-Forschung ist eine seiner Kernaufgaben. Er hält meine Recherche für sinnvoll, findet aber ebenfalls keine klare Definitionsgrenze. Diese Schwierigkeit der Kategorisierung musikalischer Initiativen ist auch im Hochschulstandort Weimar und der Struktur seiner Region begründet. Die meisten deutschen Hochschulen für Musik und Theater befinden sich in Großstädten, die Hochschule Weimar aber in einer Stadt mit 61.000 Einwohnern. Nur die Hochschule Trossingen steht in einer noch kleineren Gemeinde (11.000 Einwohner), sogar Detmold ist mit 75.000 Einwohnern etwas größer als Weimar. Im Freistaat Sachsen gibt es zwei Musikhochschulen, im Freistaat Sachsen-Anhalt keine und in Weimar ist die einzige im Freistaat Thüringen. Von allen Bundesländern Deutschlands hat Thüringen aber die höchste Dichte an Kulturorchestern im Verhältnis zur Einwohnerzahl und eine beachtliche Anzahl subventionierter Musiktheater.
Die Flächenfestivals Thüringer Bachwochen und Liszt Biennale Thüringen kooperieren mit Veranstaltungen, in denen Weimarer Studierende mitwirken. Manchmal steuert die Hochschule auch eine eigene Veranstaltung zum Gesamtprogramm bei. Eine wichtige Schnittstelle zwischen Ausbildung und Praxis ist das Internationale Thüringer Opernstudio, welches die Hochschule als Aufbaustudium mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar, dem Theater Erfurt, dem Theater Nordhausen und dem Theater Altenburg Gera gestaltet. Für die Thüringer Musiktheater gewährleistet das höhere Flexibilität bei Planung und Besetzungen. Nachwuchskünstler kommen hier leichter und häufiger an größere Fachpartien als Mitglieder von Opernstudios, die von großen Bühnen als Sub-Einrichtungen geführt werden. Neben dem Opernstudio NRW ist das Thüringer Opernstudio derzeit eines der wenigen, das mit mehreren Theatern kooperiert.
Alte Musik und Oper
Ein im Raum vielschichtig vernetzter Weimarer Alumnus der Alten Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis ist der Cembalist und Dirigent Gerd Amelung. Seit einigen Jahren leitet er das Alte-Musik-Festival Güldener Herbst, das in Thüringer Städten wechselnde Schwerpunkte setzt. Amelung dirigiert im zur Klassik Stiftung Weimar gehörenden Liebhabertheater Schloss Kochberg Opern in historischer Inszenierung. Er erschließt Entdeckungen aus Thüringen in Weltersteinspielungen, zum Beispiel Kantaten aus der Notensammlung des Herzogs Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen mit dem Sopranisten Philipp Mathmann und der Capella Jenensis. Er dirigierte 2021 Monteverdis „Ulisse“ am Deutschen Nationaltheater. Fast noch wichtiger für seinen Kommunikationspool sind die umfassenden Aufgaben als Gast-Studienleiter. Amelung coachte die Studierenden der jüngsten Hochschul-Produktion „Così fan tutte“ und er studierte für die Thüringer Symphoniker die Wiederentdeckung von Luigi Cherubinis „Idalide“ in Saalfeld ein, ist aber auch begehrt für Spitzenproduktionen der Semperoper Dresden wie Rolando Villazóns Inszenierung von Rameaus „Platée“ und Glucks „Iphigenie auf Tauris“ in der Choreographie von Pina Bausch. Solche Netzwerke schaffen indirekt Möglichkeiten für Studierende über Standortgrenzen hinaus.
Musiker, Publikum und Forschende der Kulturstätten von „Deutschlands Grünem Herzen“ mit insgesamt 2,1 Millionen Einwohnern, wo Erfurt die einzige Stadt mit über 100.000 Einwohner ist, kennen sich untereinander, auch weil Musikveranstalter oft mehrere Thüringer Städte bespielen. Eine lokal, regional und international aktive Netzwerkerin ist zum Beispiel Myriam Eichberger. Seit 1995 wirkt sie als Professorin für Blockflöte. In Weimar ist sie auch als Bewohnerin der Klee-Villa am Horn bekannt – einem jener historisch wertvollen Orte in Privatbesitz, von denen es in der Klassikerstadt neben den öffentlich verwalteten Denkmälern viele gibt. Eichberger agiert als Intendantin der Bach Biennale Weimar, Vorsitzende des Vereins Bach in Weimar und sie engagiert sich für die „Bach Welt Weimar“. Eichberger lebt Musik, ihre persönlichen Repertoire-Schwerpunkte und Unterrichtsinhalte.
Ähnlich wie die Musikwissenschaftlerin Helen Geyer, ihre emeritierte Kollegin. Während Eichberger ihren Bach- & Blockflöte-Trust stabilisierte, schuf Geyer mit strategischer Zielstrebigkeit einen kleinen Kosmos zu Leben und Werk des italienischen Komponisten und Goethe-Zeitgenossen Luigi Cherubini (1760–1842), den man sonst kaum mit Thüringen assoziieren würde. Dessen Oper „Faniska“ sei häufig auf thüringischen Bühnen gespielt worden, liest man im Booklet der von Geyer wissenschaftlich betreuten CD „Musik in Thüringen zur Beethovenzeit“ des Reussischen Kammerorchesters. Studierende gestalteten unter Geyers Anleitung zum Beispiel eine Cherubini-Ausstellung am Theater Erfurt anlässlich der dortigen Produktion von dessen Oper „Médée“, Geyer machte sich stark für die Aufführung von Cherubinis „Idalide oder Die Jungfrau der Sonne“ in Saalfeld und sie regte das Philharmonische Orchester Altenburg Gera zu Cherubini-Konzerten an. Bei derart vielfältigen Vernetzungsschichten ist für Außenstehende auch der überschaubaren Klassikszene Thüringens nicht unterscheidbar, ob Impulsgebende wie Amelung, Eichberger und Geyer gerade in ihrem Aufgabenbereich als Lehrende, für ein wissenschaftliches Sonderprojekt, als Festival-Leitende oder aus persönlicher Leidenschaft die Fäden ziehen. Ist das denn überhaupt so wichtig?
In anderen Sparten läuft es ähnlich. Wenn der brasilianische Komponist Giordano Bruno do Nascimento – auch er studierte an der Hochschule – im Weimarer Jugendzentrum Mon Ami seit mehreren Jahren jeden Herbst eine eigene Oper zur Uraufführung bringt, hat das mit der Hochschule nichts zu tun, obwohl mitwirkende Studierende als Gruppe genannt werden und fast alle Beteiligten in der Hochschule oder deren nächstem Umfeld tätig sind. Do Nascimentos Aufführungen werden als freie Produktionen auf Basis von Förderanträgen realisiert. Dass für solche Projekte viel Energie, Überzeugungsarbeit und Zeit nötig sind, versteht sich. Für die Hochschule zahlen sich solche Außen- , Neben- und Profilaktivitäten als kostenlose Werbe- und Image-Erweiterung aus.
Ein Geschenk des Himmels
So auch eine Tafel-Ausstellung wie „Ein Geschenk des Himmels. Die Reformation und ihre Musik in Thüringen“ von Christoph Meixner in der Haupthalle des Weimarer Hauptbahnhofs. An den von der Thüringer Staatskanzlei und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen ermöglichten 34 Aufstellern kam niemand ohne einen Blick darauf vorbei. An welchem Bahnhof gäbe es sonst eine Ausstellung zu einem vergleichbaren Spezialthema aus den ureigensten wissenschaftlichen, künstlerischen und pädagogischen Aufgabengegenständen der Hochschule? Im Sommer des Reformationsjahres sahen täglich Tausende von nicht musikaffinen Einheimischen, Pendelnden und internationalen Gästen diese Ausstellung. Ein Mitarbeiter der Hochschule für Musik Franz Liszt setzte Berührungslinien zu den Tourismus-Blockbustern Bachland und Reformation. Derartige Vernetzungen zeigen nichtmaterielle Erfolge, die an anderen Orten in dieser Form und Struktur nicht möglich wären. Dieses Fluidum eines nicht-strategischen Netzwerks ist einmalig.