Die Gitarre ist ein hochattraktives Instrument für Musikschulen. Die Hochschulabsolventen dieses Fachs haben aktuell die besten Berufsaussichten der gesamten Abschlussjahrgänge. In der Hochschuldebatte 2014 in Baden-Württemberg nahm die Gitarre auch deshalb eine Schlüsselrolle in der Diskussion um die gesellschaftliche und berufspraktische Relevanz des Musikhochschulstudiums ein. Kein Wunder, verfügt dieses Instrument in Gestalt von historisch unterschiedlichsten klassischen, elektrischen, experimentellen und Midi-Ausprägungen über eine unvergleichliche Vielfalt und bespielt eine klangliche und stilistische Breite wie kein anderes Instrument. Und trotzdem: In Musikhochschulen muss sie in besonderer Weise nach Sichtbarkeit und Profil streben, als Instrument, welches nicht in die großen Orchesterstrukturen eingebunden oder durch eine vielköpfige Gruppe in Kollegium und Fachgruppen repräsentiert ist. Diese Ungebundenheit innerhalb der Hochschule lädt zu couragierter Suche nach Neuland ein, ja verpflichtet geradezu: die Gitarre als Entdeckerin, Innovatorin und Best-Practice-Generatorin für die gesamte Hochschule.
An der Trossinger Hochschule ist die Gitarre in unterschiedlichen Bereichen präsent. Neben dem klassischen Hauptfach mit Solorepertoire, Kammermusik und zeitgenössischer Musik ist die Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Jazz und Popularmusik besonders intensiv, ebenso mit der Alten Musik und dem neuen Landeszentrum MUSIK–DESIGN–PERFORMANCE. So können sich die Studierenden mit der elektrischen Gitarre in Improvisation und dem Spiel in Band, Combo und Bigband einarbeiten und ausleben. Mit der Lautenklasse von Prof. Rolf Lislevand kann der Bereich historischer Gitarren- und Lauteninstrumente mit dazugehörigen Spieltechniken und Repertoires, historischer Aufführungspraxis und stilgebundener Improvisation erforscht werden. Im neuen Landeszentrum wird die Möglichkeit zur Arbeit im Studio mit digitalen Werkzeugen, digitalem work-flow, Komposition, freier Improvisation und experimentellen wie interdisziplinären Projekten genutzt.
Landeszentrum und Ensemble
Gerade im Landeszentrum MUSIK–DESIGN–PERFORMANCE nimmt das Hochschulensemble Open Source Guitars (OSG) eine exponierte, profilbildende Rolle ein. Es basiert auf einem erweiterten Konzept von Hochschullehre hin zu einer praxisorientierten Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden im künstlerischen Kontext und bewegt sich im Schnittfeld von traditioneller Performance und Digitalisierung. OSG arbeitet dabei mit Partnern wie GMEM Marseille, IRCAM Paris und ZKM Karlsruhe zusammen. Die Klangsprache des Ensembles basiert auf der Erweiterung des instrumentalen Konzeptes Gitarre um verschiedenste akustische, elektrische, experimentelle und präparierte Gitarreninstrumente. Dabei fühlt sich OSG stilistisch ungebunden und bewegt sich je nach künstlerischer Absicht in ganz unterschiedlicher Ästhetik, zum Beispiel gitarristisch-traditionell, experimentell oder „Noise“. Das vor zehn Jahren gegründete Ensemble hat künstlerisch wie hochschuldidaktisch wichtige Impulse bei der Konzeption des neuen Trossinger Landeszentrums gegeben. Insbesondere unter dem Aspekt Performance dient es als Beispiel für Best-Practice und als Modell für eine neue Form der Ensemblearbeit.
Bei ihrer Arbeit stehen den Studierenden die Expertise und das jeweilige Spezialwissen der begleitenden Lehrkräfte sowie die institutionelle Unterstützung der Musikhochschule zur Verfügung. Zusätzlich findet ein reger Austausch mit anderen Fachbereichen und Künstlern weiterer Disziplinen statt. Über ihre künstlerische Arbeit hinaus werden die Studierenden mit den vielfältigen organisatorischen und marketingorientierten Anforderungen eines Freelance-Ensembles konfrontiert.
Eine solche Arbeit im Kollektiv mit hoher individueller Eigenverantwortung hinterfragt und modifiziert zwangsläufig das herkömmliche Rollenverständnis von Lehrenden und Studierenden. Es erweitert das traditionelle Meister-Schüler-Prinzip der künstlerischen Vermittlung an Musikhochschulen und fördert in besonderer Weise die Fähigkeit der studentischen Ensemblemitglieder zu konstruktivem Austausch in der Entwicklung von Kriterien und Leitlinien für künstlerische Prozesse, für gemeinsame Ziele und für Strategien. Gleichzeitig, und eben gerade in dieser Situation, ist die Rolle der Lehrperson insgesamt als künstlerisches Vorbild, kompetenter Lehrer, sensibler und integrativer Mentor, Richtungsweiser, Widerpart, Instruktor, Coach, Innovator etc. so wichtig wie eh und je.
Differenzielles Lernen und Makroebene
Ein Projekt wie OSG lebt in seiner Essenz von Vielfalt, Verbreiterung und Erweiterung von Handlungsräumen. Es ergeben sich damit auffällige Parallelen und gemeinsame Bezugspunkte mit dem Theoriemodell des „Differenziellen Lernens“. Der Musikpädagoge Martin Widmaier hat drei Kernaussagen zum Differenziellen Lernen zusammengefasst:
• Lernen ereignet sich an Unterschieden
• Sinnvolles Verstärken des in allen Phasen des Lernprozesses ohnehin auftretenden Rauschens wirkt leistungssteigernd
• Im Abtasten seines Randbereichs erschließt sich der ganze jeweilige Lösungsraum
(nach Widmaier: Zur Systemdynamik des Übens. Schott 2016, S. 20)
Ein nicht-hierarchisch organisiertes Ensemble, das interdisziplinär denkt und arbeitet und das die weitgefächerten Kompetenzen seiner Mitglieder umfassend nutzen will, erweitert zwangsläufig seine Arbeitsweisen und entwickelt eigene Entscheidungsprozesse. Dabei entsteht besondere Dynamik, ein verstärktes „differenzielles Rauschen“. Dies kann führen zur
• Neuorientierung bezüglich des anvisierten künstlerischen Zielraumes
• Neudefinition von Lehr- und Lernzielen
• Erschließung neuer Handlungsräume
• Neuentwicklung von Arbeitsweisen und Strategien
• Umorientierung bezüglich des Selbstverständnisses des Ensembles und seiner Mitglieder
• Insgesamt Entwicklung einer neuen Ensemblekultur
Dem Aspekt der Kommunikation kommt in solchen neuen Ensembleformen besondere Bedeutung zu. Eine erfolgreiche Arbeit setzt konstruktive und integrative Entscheidungsfindung voraus. Die Qualität der Kommunikation und Interaktion beeinflusst wesentlich die Qualität der Prozesse und Ergebnisse.
Lernräume, Freiräume
Widmaier beschreibt Differenzielles Lernen als einen Paradigmenwechsel. In der methodischen Arbeit am musikalischen Bühnenvortrag wäre das der Wechsel zu einem freien Erkunden von Handlungsräumen in ihren Randbereichen anstatt der Strategie, mittels repetierendem selektiven Aussortierens eine ideale, wiederholbare künstlerische Leistung einzuprogrammieren. Die traditionelle Aufführungspraxis des Solokonzertes inszeniert Letzteres exemplarisch: Auf der großen Bühne den festgelegten, unverrückbaren Punkt, wo der ideale Vortrag anvisiert wird – in zahllosen Wiederholungen und Proben einstudiert. Die in diesem Prozess aussortierten Wiederholungen sind jedoch immer noch präsent, umgeben die Insel des Gelingens als Meer potenziellen Scheiterns, sind gerade dadurch elementarer Bestandteil der Inszenierung des Konzerts als riskantem, vom Publikum bewunderten Drahtseilakt.
Wie aber, wenn der Gang auf die Bühne nicht das Beschreiten eines engen Pfades zu diesem Punkt, sondern das Betreten eines Raums bedeutet, eines Raums, der zuvor als breite Erschließung unterschiedlichster Felder mit verschiedensten Möglichkeiten von Handlung erforscht worden ist? Wenn die Bühne der vertraute Raum für ein persönliches Portfolio von unterschiedlichsten Rollen und Selbstverständnissen ist, das als souveräne Gesamtkompetenz in jedem einzelnen Vortrag, in jeder Selbstinszenierung, an jedem geographischen Punkt dieser Bühne mitschwingt?
Leitgedanke des Ensembles Open Source Guitars, exemplarisch für den gesamten Fachbereich Gitarre in Trossingen, ist die Absicht, die ausgedehnte Erforschung von Räumen zu ermöglichen – von Lernräumen, Bühnenräumen, Digitalen Räumen und individuellen Freiräumen.
Termine
Die nächsten Konzerte des Ensembles Open-Source-Guitars:
• Mittwoch, 02. Mai 2018, 20.00 Uhr
Staatstheater Karlsruhe
• Freitag, 04. Mai 2018, 19.00 Uhr
Kinemathek Karlsruhe
Vertonung des historischen Stummfilmes „Das neue Babylon“ durch die Open-Source-Guitars nach Motiven der Filmmusik von Dmitri Schostakowitsch
• Samstag, 19. Mai 2018, 17.00 Uhr
Städtische Galerie Villingen-Schwenningen
Sarah Nemtsov, aus: Orbits – phaethon. asteroid (UA der Auftragskomposition) für 4 mikrotonal verstimmte tabletop E-Gitarren und E-Bass mit Effekten und Objekten anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Giorgio Morandi – Licht und Farbe”
• 20/21. Oktober 2018
Museum Art.Plus, Donaueschingen
• 22. Oktober 2018
Kesselhaus Trossingen
Sarah Nemtsov, Orbits, und Benjamin Dupé, n.n. für sechs akustische Gitarren und Live-Elektronik (UA). Konzerte im Rahmen der Donaueschinger Musiktage
• 05./06. Dezember 2018
Nouveau Théâtre de Montreuil, Frankreich
Benjamin Dupé, n.n., und Henry Fourès, Six White Dots für Jongleur mit interaktiven Sensorbällen, sechs E-Gitarren, Soundtrack und Licht. Jongleur: Jérôme Thomas.
Weitere Informationen: www.mh-trossingen.de/osg