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Von der Forschungswerkstatt ins Klassenzimmer

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Verknüpfung von Praxis und Wissenschaft für zukunftsfähigen Musikunterricht
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Allzu oft wurde nach dem universitären Lehramtsstudium die Schulrealität jäh als unvermittelter Praxisschock erlebt. An der Musikhochschule Lübeck (MHL) finden diese sonst getrennten Sphären jetzt zueinander. Akademische Diskurse sollen zur Verbesserung der Qualität in die Planung des Musikunterrichts wirken und vice versa Impulse durch Erfahrungen aus der Schulpraxis in musikpädagogische Forschung aufgenommen werden.

Praxis erfahren und begleiten

Nachdem man in den föderalen Kulturministerien ernsthaft darauf reagierte, dass Lehramtskandidaten und Referendare wegen unzureichender Vorbereitung auf ihre Praxis massiv unzufrieden waren, konvergieren seit der Jahrtausendwende allmählich wissenschaftliche Empfehlungen zu stäkerer Praxis­orientierung der Ausbildung sowie Modifikationen der Curricula an Hochschulen. Damit Begegnungen mit der Schulwirklichkeit für die Studierenden nicht nur interessante Erlebnisse bleiben, sondern zu reflektierten Erfahrungen werden, strebt man an der MHL systematisch geplante und begleitete Übergänge vom Studium zum Berufsalltag an: neben mehreren Blockpraktika und schulpraktischen Seminaren werden dafür auch Forschungswerkstätten in die Studiengänge „Musik vermitteln“ integriert. „Die Forschung zeigt, dass Lehrkompetenz insbesondere durch eine professionelle Begleitung und Reflexion der pädagogischen Praxis entwickelt werden kann - das wollen wir mit unseren Seminaren und nicht zuletzt der Forschungswerkstatt leisten“, erklärt der Musikpädagoge Prof. Dr. Jens Knigge das MHL-Konzept.

Professionelle Lehrkräfte als „Reflective Practitioner“

Bei solchen Ambitionen ist Interdisziplinarität von Vorteil. Dabei übernimmt Prof. Dr. Gaja von Sychowski den Part, Praxisbetreuung und theoretisches Fundament zu vereinbaren und formuliert als Prinzip für die MHL: „Wir verstehen die  Erziehungswissenschaften als radikal dekonstruktivistisch und radikal plural. Das heißt, wir verfolgen die Leitidee, vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und die Fragen weiter offen zu halten, sodass Vielfalt denkbar und lebbar wird. Dies betrifft erziehungswissenschaftliches Denken ebenso wie die Arbeit an pädagogischer und musikalischer Professionalität.“ In diesem Kontext soll die MHL-Ausbildung einen Habitus fördern, der als „reflective practitioner“ bezeichnet wird, also ein forschender Persönlichkeitstypus mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Dieser soll sich während des Studiums und darüber hinaus entwickeln und festigen. Hilfreich können dabei Konzepte wie Teamteaching und kollegiale Hospitationen sein. „Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen ist aus wissenschaftlicher Sicht höchst sinnvoll und auch von bildungspolitischer Seite zunehmend erwünscht. Denn im komplexen Unterrichtsgeschehen ist es für Lehrende oft gar nicht möglich, ausreichend differenziert sowohl das eigene als auch das Verhalten der Lernenden zu beobachten oder gar zu evaluieren“, meint Jens Knigge.

Wie sich Theorie und Praxis in diesem Sinne komplementär verschränken können, erzählt Sophia Friedmann. Sie ist Studentin im Master of Education mit dem Ziel Gymnasiallehrerin und hat eine Unterrichtseinheit zum Thema  „Nacht und Tag“ am Katharineum zu Lübeck entwickelt: „Unser Praktikum verteilte sich auf einen semesterbegleitenden Praxistag und ein anschließendes sechswöchiges Blockpraktikum. Während des Praxistages hatten wir, vier Studierende eines Semesters, ein Vierteljahr lang einmal pro Woche zwei Stunden in einer 9. Klasse. Hier haben wir für eine Sequenz den Song ‚Out Of The Dark (Into The Light)‘  des österreichischen Popsängers Falco (1957–1998) ausgesucht. Sein Sujet ‚Leben, Tod und Vergänglichkeit‘ haben wir in Verbindung zu ‚Nacht und Tag‘ gebracht sowie Choreographien zum Refrain und zu den Liedstrophen erarbeitet. Unsere Lernziele waren, argumentierend Musik beschreiben und beurteilen zu können sowie die Resultate solcher Gespräche in Tanzmuster zu übersetzen. Der forschende Habitus hat uns dabei geholfen, unsere Tätigkeit aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und so manches deutlicher zu erkennen. Weil wir unsere Handlungsfähigkeit zu begründen lernten, fühlten wir uns entlastet.“

Im Tandem mit einer Kommilitonin hat Sophia Friedmann die genannte Unterrichtseinheit vorbereitet. Professionell unterstützt wurden sie dabei von Sabine Hoene, Studienleiterin am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH), Kooperationspartner der MHL, sowie von Gaja von Sychowski. Im Begleitseminar wurden die zum Thema „Nacht und Tag“ gesammelten didaktischen Ideen mit dem Curriculum abgeglichen und die Kohärenz der Unterrichtsschritte diskutiert. Dadurch, dass Studierende aus demselben Semes­ter hospitierten, gab es anschließend kollegiales Feedback zum Lehrer- und Schülerverhalten, zum Stundenraster sowie dazu, was gelungen war und was zu verbessern wäre. Außerdem wurde die Klasse am Ende der Unterrichtseinheit befragt, sodass auch diese Rückmeldung „uns für eine kritische Selbsteinschätzung genützt hat“, sagt Sophia Friedmann.

„Darüber hinaus“, erläutert Sabine Hoene, „arbeiten wir eng mit dem Fachlehrer der Klasse zusammen. Er ist nicht nur während des Unterrichts anwesend, für den er weiterhin verantwortlich bleibt, sondern er kommt auch zu Beginn und am Ende des Semesters ins Seminar. Dann informiert er die Studierenden über die Lernvoraussetzungen der Klasse, spricht das Unterrichtsthema ab und gibt den Studierenden Rückmeldungen aus seiner Sicht. So findet ein differenzierter, äußerst fruchtbarer Austausch statt, der verschiedene Perspektiven auf Unterricht einerseits und musikdidaktische sowie erziehungswissenschaftliche Konzepte andererseits einbezieht. Dieser mehrperspektivische Blick bei einer gemeinsamen Zielsetzung ermöglicht eine in die Tiefe gehende Reflexion mit intensivem Bezug zur Praxis.“

Forschendes Lernen am Beispiel „Trainingsraum“

Forschendes Lernen bedeutet, mit wissenschaftlichen Methoden zu arbeiten und damit die eigene pädagogische Arbeit zu reflektieren. Ein entsprechendes Projekt aus der Forschungswerkstatt war eine Studie zum Interventionskonzept „Trainingsraum“. Es sieht vor, mit klaren Regeln und klaren Konsequenzen auf Unterrichtsstörungen zu reagieren. Schülerinnen und Schüler sollen durch Frageprozesse verantwortliches Denken und Entscheidungsoptionen für ihr Verhalten angeboten und bewusst gemacht werden. Ein Ziel in diesem Kontext ist, Lernende zur Selbstbeobachtung und Selbststeuerung zu motivieren. An der Grund- und Gemeinschaftsschule Pönitz (Ostholstein) hat eine Gruppe MHL-Studierender die Funktion des Trainingsraums durch ein großes Repertoire sozialwissenschaftlicher Instrumentarien wie teilnehmende Beobachtung, Lehrer- und Schüler-Interviews sowie Fragebögen genau untersucht. Die Materialien wurden textanalytisch und statistisch ausgewertet, um herauszufinden, ob die Lehrkräfte, aber auch die Lernenden den Trainingsraum für sinnvoll halten oder nicht.

„Das ist die Forschungsebene, die uns zur Betrachtung pädagogischer Phänomene vorschwebt. Die Studierenden sollen so – wissenschaftlich gestützt – zu einer fundierten Einschätzung der Wirkung und Sinnhaftigkeit eines pädagogischen Konzepts kommen. Außerdem werden wir unsere Resultate in einem Bericht zusammenfassen und der Schule zukommen lassen. Forschung ist für uns somit nicht akademischer Selbstzweck, sondern vielmehr ein professionell organisierter interaktiver Prozess zwischen MHL und Schule, von dem im bes­ten Fall alle profitieren“, hofft Jens Knigge.

Noch ist die gleichermaßen forschungs- wie praxis­orientierte musikpädagogische Ausbildung an der MHL im Entwicklungsstadium. Optimistisch wagt Sabine Hoene jedoch die Prognose, dass dieses System der Praktika mit dem progressiven Aufbau und dem vielfältigen Ineinandergreifen von praktischer Anwendung und wissenschaftlicher Reflexion zu einem sehr effektiven Konzept der Berufsvorbereitung werden kann.  
 

Mehrperspektivischer Blick durch Kooperation: Sabine Hoene

Die Ausbildung zur Lehrkraft an der MHL ist für Sabine Hoene nicht eindimensional, sondern durch Kooperation etwa mit der Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Gaja von Sychowski mehrperspektivisch geprägt. Nicht nur institutionell und personell bei der Betreuung von Studierenden in den Praxisphasen, sondern auch mit Blick aufs Teamteaching und das Netzwerk mit Mentoren an den jeweiligen Schulen. Sabine Hoene hat an der MHL studiert, dort das Erste Staatsexamen für Schulmusik abgelegt sowie das Diplom für Musikerziehung erworben. Nach dem Referendariat unterrichtete sie Musik am Katharineum zu Lübeck (Gymnasium). Seit 1996 ist sie als hauptamtliche Studienleiterin für die Referendarausbildung (Laufbahn Gymnasium) und die Fortbildung von Lehrkräften im Fach Musik am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) zuständig. Seit 2006 ist sie zudem Landesfachberaterin für das Fach Musik. Ihre Arbeitsfelder sind neben der Referendariatsausbildung: Vertretung des Faches auf Landesebene, Verbindung zum Bildungsministerium und zu Verbänden, Arbeit an der Entwicklung der Lehrpläne und der Fachanforderungen für die Abiturprüfung, Koordination der Fortbildung im Fach Musik, Organisation und Leitung von Landesfachtagungen, Gestaltung von Arbeitstagungen des Fachteams sowie Erarbeitung und Herausgabe von Veröffentlichungen, u.a. „Umgang mit Heterogenität im Musikunterricht“ (IQSH 2012). Sie ist auf Landes­ebene Vorstandsmitglied im Bundesverband Musikunterricht (BMU). Seit 1999 bietet Sabine Hoene auch Veranstaltungen unterschiedlicher Formate an der MHL an. Sie ist dort vor allem für Organisation und Betreuung der Schulpraktika zuständig.

Für interdisziplinäre Musikpädagogik: Prof. Dr. Jens Knigge

Zum professionellen Profil der Musikpädagogik gehört für Prof. Dr. Jens Knigge empirische Forschung und Interdisziplinarität. Er studierte zunächst Schul- und Kirchenmusik in Weimar und Stuttgart. Nach dem Erhalt des Staatsexamens sowie des Kirchenmusik-Diploms absolvierte er ein künstlerisches Aufbaustudium in der Orgelklasse von Bernhard Haas. Weitere Studienaufenthalte führten ihn an die Universität Oslo und die Musikhochschule Stockholm. Jens Knigge arbeitete viele Jahre als Musikpädagoge, Kirchenmusiker und Chordirigent. Ab 2007 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen, darüber hinaus von 2008 bis 2009 Koordinator des BMBF-Forschungsprogramms zu „Jedem Kind ein Instrument“(JeKi) an der Universität Bielefeld. 2010 erfolgte die Promotion mit einer empirisch-musikpädagogischen Arbeit, die mit dem Sigrid-Abel-Struth-Preis prämiert wurde. Jens Knigge lehrte und forschte von 2010 bis 2013 als Juniorprofessor für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, ab 2013/14 als Professor für Musikdidaktik/Künstlerische Praxis an der Universität Erfurt. Neben der Leitung des Fachgebiets Musik hatte er dort das Amt des Studiendirektors der „Erfurt School of Education“ inne. 2016 erfolgte schließlich die Berufung auf die Professur für Musikpädagogik an die MHL. Er war bis 2016 Vorsitzender des Arbeitskreises für Musikpädagogische Forschung (AMPF). Aktuell ist er Projektleiter mehrerer Forschungsprojekte (gefördert durch das BMBF und das Land Thüringen) sowie Herausgeber der Zeitschrift „Beiträge empirischer Musikpädagogik“ (b:em). Die Modellierung musikbezogener Kompetenzen steht im Zentrum seiner Forschung.

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