Seit diesem Sommersemester ist Dr. Anna-Maria Addicks auf die neu geschaffene Professur für Musikergesundheit an der HfM Detmold berufen worden. Neben ihrer Aufgabe als Fachärztin an der Klinik für Neurologie und Neurogeriatrie am Klinikum Lippe widmet sie sich mit großer Leidenschaft den gesundheitlichen Problemen von Musikstudierenden. Ein strukturiertes Warm-Up, um einseitige Belastungen auszugleichen, mentales Training als Bewältigungsstrategie für Lampenfieber – all das sind nur Einblicke in einen ganzheitlichen Behandlungsansatz, mit dem Addicks in ihrer Sprechstunde nach Lösungen sucht. Das Ziel ist, das körperliche Wohlbefinden der Studierenden dauerhaft zu steigern, denn nur dann können sie ihren Beruf mit Freude ein Leben lang ausüben. Im Gespräch verrät sie uns, was für sie das Ganze so besonders macht.
Von der Kunst des Wohlbefindens
Friedrich v. Plettenberg: Frau Prof. Dr. Addicks, spielen Sie selbst ein Instrument?
Anna-Maria Addicks: Leider nein, ich habe lange Querflöte gespielt, bis zum Abitur, bin aber nicht in einem musikalischen Elternhaus groß geworden. Für meine Tätigkeit an der Hochschule hat es aber auch Vorteile, Musik nicht professionell auszuüben. Ich sehe von außen manches klarer als Musiker*innen, die die Sozialisation einer Musikhochschule oder eines Orchesters durchlaufen. Natürlich kann man viele Beschwerden sehr viel intuitiver nachvollziehen, wenn man selber Musik professionell ausübt. Am Ende ist aber jedes Musizieren eine Folge von definierbaren Bewegungsabläufen.
Plettenberg: Ist Musikermedizin eine eigenständige Disziplin?
Addicks: Es gibt keine ärztliche Weiterbildung zur Musikermedizinerin. Man kann ärztliches Personal dafür aus allen möglichen Fachgebieten rekrutieren: Internisten, Allgemeinmedizinerinnen und Handchirurgen. Neurologinnen bieten sich dafür besonders an, weil wir uns mit Nerven, deren Schäden und Schmerzen beschäftigen. Der Bewegungsapparat hängt auch im neurologischen Alltag immer damit zusammen und durch ein Pflichtjahr Psychiatrie in unserer Facharztweiterbildung haben wir Erfahrung mit Ängsten, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen.
Plettenberg: Musikstudierende sind ja ein besonderes Klientel, was sind die Hauptproblemfelder, mit denen Sie in Ihrer Arbeit zu tun haben?
Addicks: Es macht sehr viel Freude mit Musikstudierenden zusammenzuarbeiten. Sie sind diszipliniert und sensibel, was ihre eigene Körperlichkeit angeht. Sie können sehr gut Auskunft über ihre Beschwerden geben und halten sich an Verhaltensempfehlungen. Hauptproblemfelder sind Schmerzen sowie die Störung des Bewegungsapparates. Vor allen Dingen im Bereich des Armes, der Hand und der Wirbelsäule. Aktuelle Zahlen belegen, dass 25 Prozent der Studierenden, die mit dem Studium anfangen, schon entsprechende Beschwerden haben oder in der Vergangenheit vor Aufnahme des Studiums gehabt haben. Und das zweite große Thema in meiner Sprechstunde sind psychische Beschwerden wie Depressionen. Auch somatoforme Störungen – zum Beispiel in Form von Schmerzen, die eher körperlicher Ausdruck psychischer Probleme als körperlichen Ursprungs sind. Ebenso gibt es Mischformen zwischen beidem. Ängste sind ein besonders großes Thema. Lampenfieber ist zwar etwas Gutes, aber irgendwann hört es auf positiv zu sein.
Plettenberg: Was sind erste Bewältigungsstrategien?
Addicks: Klassische Ansätze aus der Verhaltenstherapie sind hilfreich. Es gibt Desensibilisierungsstrategien. Man tritt bewusst zurück, um sich auf gar keinen Fall einer Situation auszusetzen, die aufgrund einer absehbar starken Angstsituation zum Scheitern verurteilt ist. Dann verfestigt sich die Angst. Helfen kann es zum Beispiel, sich den Auftritt vorerst mental vorzustellen. Der nächste Schritt kann sein, sich im geschützten Raum, also zuhause, einer Auftrittssituation auszusetzen – natürlich ohne Publikum! Und das in Konzertkleidung und Sitzposition wie im echten Moment. Als nächstes schickt man ein Video an Freundinnen, Freunde und Bekannte. Dann kann im privaten Rahmen ein Auftritt stattfinden, dem aber nur die engsten Vertrauten beiwohnen. Und so tastet man sich sukzessive an die eigentliche Situation im Konzert heran.
Plettenberg: Wann sollte man damit beginnen?
Addicks: Sobald man merkt, dass das Lampenfieber unangenehm stark wird, sollte man schon was tun. Darüber kläre ich in meiner verpflichtenden Grundlagenvorlesung schon in den frühen Semestern auf. Oft helfen schon ganz kleine Maßnahmen, um zu verhindern, dass aus gutem Lampenfieber schlechte Auftrittsangst wird. Ganz banal: Vorher etwas essen, Atem- oder Entspannungsübungen machen – das sind beides Maßnahmen, mit denen man den Adrenalinanstieg im Blut, der unter anderem dafür sorgt, dass man zittert und schwitzt, senken kann. Und: Wer regelmäßig Sport macht, hat eine gemäßigtere Angstreaktion, weil der Körper auf das Adrenalin nicht so stark reagiert.
Plettenberg: Wie beraten und behandeln Sie die Studierenden?
Addicks: Es gibt eine musikermedizinische Sprechstunde, die jede*r Studierende in Anspruch nehmen kann. Wenn es sich um neurologische Probleme handelt, kann ich selbst untersuchen und behandeln. Wenn Studierende Probleme mit dem Bewegungsapparat haben, können wir das oft mit unserer Physiotherapeutin aus dem Team auffangen. Ich berate häufig auch ergonomisch. Jemandem, der Gitarre spielt und Rückenschmerzen hat, könnte man statt der Fuß- eine Kniestütze empfehlen. Dann hat man nicht mehr das Problem mit den Beinen, die so unterschiedlich hoch sind und zu einer einseitigen Belastung der Wirbelsäule führen. Solche Eingriffe in das Instrumentalspiel haben aber natürlich immer Empfehlungscharakter und sind abhängig vom Willen des Studierenden und der Einschätzung des Hauptfachlehrenden.
Plettenberg: Welches musikermedizinische Rundumpaket würden Sie einem Studierenden im ersten Semester an die Hand geben?
Addicks: Je nach Instrument ein strukturiertes und regelmäßiges Warm-Up und Cool Down und muskuläre Ausgleichsübungen. Jemand der Geige spielt, hat eine ganz bestimmte Haltung des linken Arms, die nur eingeschränkt variiert werden kann. Der Bizeps und die Muskeln, die die Hand nach außen drehen, sind die ganze Zeit angespannt. Muskeln, die viel benutzt werden, neigen dazu, sich zu verkürzen. Muskeln, die weniger benutzt werden, können dann im Vergleich dazu zu schwach werden. Das führt dann zu einer unausgewogenen Haltung auch jenseits des Musizierens, die sogar zu Arthrose oder anderen Langzeitfolgen führen kann. Regelmäßige Übungen wie Dehnen der beanspruchten und gezielte Stärkung der weniger aktiven Muskulatur wirken solchen Folgen der einseitigen Belastungen entgegen.
Plettenberg: Wie erklären Sie sich, dass Musikergesundheit im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden ist?
Addicks: Das ist in etwa so wie im Fußball. Wenn man sich heute anschaut, wie die Leute vor 50 Jahren Fußball gespielt haben, war ja vieles langsamer im Vergleich. Die technischen Anforderungen sind enorm gestiegen. Wir haben zudem eine ubiquitäre Verfügbarkeit von hochqualitativen Aufnahmen. Jeder muss sich nicht nur daran messen lassen, was seine Kommiliton*innen beherrschen, sondern auch, wie es auf YouTube zu hören ist. Der Konkurrenz- und Leistungsdruck ist in den letzten Jahren gestiegen. Auch darauf gehen wir in Detmold ein und geben den Studierenden Rüstzeug mit auf den Weg, wie sie dem entgegenwirken können.
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