Musikhochschulen gehören zu den exklusivsten und teuersten Berufsausbildungsinstituten. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis, die Spezialisierung, die schiere Zahl von Dozenten und Professuren sind geradezu paradiesisch, so dass es sich empfiehlt, es nicht weiterzuerzählen. Diese Spezialisierung beweist, wie hoch die Kunst Musik steht und welche kulturelle Verfeinerung sie der Menschheit anbietet. Zum Glück stellt niemand das ernsthaft in Frage, vielmehr wird dieses Niveau in aufsteigenden Ländern als Vorbild genommen, nicht zuletzt in China, das die westliche Musik zu lieben beginnt.
Freilich widmet sich der überwiegende Korpus einer Musikhochschule der Musik der Vergangenheit. Der Anteil der Gegenwart ist gering; er bezieht sich auf die populäre Musik, den Jazz und die neue Musik. Ansonsten bilden das Repertoire und die Gegenstände in Musikgeschichte und Musiktheorie Werke und Musikpraktiken, die bereits einen geschichtlichen Abstand erlangt haben. Diese Gegenwartsferne ist, von außen betrachtet, so befremdlich, dass es sich gleichsweise empfiehlt, es nicht weiterzuerzählen – Kulturpolitiker, auf Gegenwart und Zukunft versessen, könnten Zweifel an diesem teuren Treiben artikulieren. Und das wollen wir ja nicht.
Gleichwohl kann keine demokratische Zivilgesellschaft, keine selbstbewusste Kulturnation es sich leisten, Fragen – welcher Art auch immer – auszuschließen. In diesem Geist diskutiere ich den Gegenwartsbezug unter dem Aspekt der Kompositionsausbildung. Musikhochschulen sind nämlich fast gänzlich reproduzierende Anstalten. An einer Kunsthochschule ist das umgekehrt. Dort versteht man auch kaum, warum die Musikhochschule buchstäblich in der Vergangenheit lebt und dort die Schaffung von Neuem so selten ist. Das Gewicht des Geschichtlichen ist indes berechtigt und soll auch nicht in Frage gestellt werden. Doch es geht um die richtige Balance.
Zerstörung und Selbstzerstörung des Faches
Es gab Zeiten, da waren die Professuren für Komposition und Dirigieren die Aushängeschilder einer Hochschule. Andere Berühmtheiten und Studentenmagnete waren willkommen, doch diese beiden Fächer standen für Kreativität, ästhetische Ausrichtung, fürs Große und Ganze. Zumindest was die Komposition anbelangt, ist dem nicht mehr so. Es haben eine Zerstörung und Selbstzerstörung des Faches schon seit einiger Zeit eingesetzt, die nun soweit fortgeschritten sind, dass wir entschieden gegensteuern und die bereits vorhandenen Produktivkräfte konsequent nutzen müssen. Es ist die Stunde des öffentlichen Bekenntnisses für die Freiheit der Kreativität.
Zur Erinnerung: Wichtige Professuren wurden nach der Demission demontiert, so in Hamburg nach Ligeti, in Frankfurt nach Zender, die Lachenmannstelle wurde auf 60 Prozent reduziert, die Spahlingerstelle, immerhin die Leitung des renommierten Instituts für Neue Musik in Freiburg, in zwei halbe gesplittet. Erst jetzt besinnt man sich dort eines Besseren und kehrt wieder zu einer herausragenden, eben nicht halbierten Persönlichkeit zurück. Stellen wurden gestrichen, umgewandelt in Konservatives oder Hippes, je nachdem. Aus zwei Stellen wurden zwei halbe Stellen. Und immer wieder wird erwartet, dass der Stelleninhaber Frondienste im Sinne der Allgemeinheit anbietet. Ganze W3-Professuren nur für Komposition, ohne Wenn und Aber, als echte künstlerische Stellen „ohne Hinterabsicht“ und ohne Einschränkung, es gibt deren nicht mehr viele. Damit ist die Autonomie dieses Faches hochgradig gefährdet.
Hinter dieser Entwicklung liegt Absicht. Allerdings keine einsinnige. Da sind diejenigen, welche die zeitgenössische Musik einfach nicht mögen und klein halten möchten. Konservativität, Desintesse, ja auch Banausie, gehen eine merkwürdige Alliance ein. Da sind diejenigen, die den Begriff des Komponisten, des richtigen, ja des großen, dekonstruiert haben und in ihm (oder ihr) nichts Besonderes sehen. Da sind die Kollegen, die einfach nicht wissen, wie neue Musik funktioniert: wie sie klingt, wie sie zu lehren ist, und deswegen gut damit leben, wenn sie eine Nische in der Hochschule bleibt.
Und dann gibt es etwas, was eigentlich als überwunden zu gelten hätte, wenn dem nicht die Erfahrung widerspräche: die Erbfeindschaft zwischen Theorielehrern und Komponisten. Diese beiden Gruppen bilden zumeist die engsten Kollegen. Sie sollten sich vertragen, einander zuarbeiten, ergänzen. Hier die Gegenwart, die Kreativität, das freie Spiel der Fantasie, die Individualität der persönlichen Sprache, dort die lange Tradition, das Handwerk, die Strenge des Metiers, die Theorie eben. Doch sie vertragen sich schlechter als man meint. Wenn Neider am Werk sind. Der Inhaber, die Inhaberin einer richtigen Kompositionsprofessur hat es nämlich verhältnismäßig gut: Es ist eine künstlerische Klasse, kein pädagogischer oder propädeutischer Gruppenunterricht, freie Wahl der Studierenden, meist internationale Attraktivität, flexiblere Arbeitszeiten, höhere Reputation, bessere Bezahlung. Und vor allem – das ist das Wichtigste – eine erfüllte Tätigkeit, die auch über Jahrzehnte nicht langweilig wird. Theorie-lehrer sind aber häufig solche, die Komponisten werden wollten und es – im veritablen Sinne – nicht wurden. Eine solch bittere Erkenntnis hat schon so manchen in eine Lebenskrise und im Berufsalltag zu Deformationen geführt.
Strukturelle Gegner- und Feindschaften
In der Regel wurden die Kompositionsstellen von „ganz oben“, den Hochschulleitungen abgebaut; es sind aber auch Fälle bekannt, da die Theoriekollegen am Ast der Kompositionsstellen sägen, aus Neid, aus Eigeninteresse, aus Missgunst. Diese Feindschaft ist genetisch und dürfte sich wohl auch nicht in absehbarer Zeit ändern. Wer wollte nicht alles berühmt werden, Komponist oder Sänger, Dirigent oder Solist, und ist es nicht geworden und erträgt kaum die Anwesenheit derer, die es geschafft haben? Frustriert wird auf Dauer nur der nicht, der kreativ ist – musikalisch, künstlerisch, wissenschaftlich oder als Vermittler im In- und Ausland. Nicht allen gelingt das.
Weil diese Gegner- und Feindschaften strukturell sind, appelliere ich an alle „höheren“ Instanzen der Hochschulen, die Rektorate, Dekanate, die Hochschulräte und wer sonst Macht und Einfluss besitzt: Investieren Sie in die Zukunft, in die Musik des 21. Jahrhunderts, setzen Sie Schwerpunkte nicht wie selbstverständlich im 19., sondern jetzt im 20. Jahrhundert. Integrieren Sie die fantastischen Musiker der neuen Musik, die nicht nur hierzulande, sondern inzwischen weltweit ungemein hohes Niveau erlangen, qualitativ, aber auch quantitativ. Holen Sie sie an die Hochschulen, mit Sonderprojekten, mit Lehraufträgen, mit Professuren. Jede Hochschule sollte 10 Prozent aller wichtigen Professuren mit Spezialisten für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts besetzen. Wir bilden schließlich Musiker aus, die bis 2060 und länger beruflich tätig sein werden. Diese müssen entsprechend ausgebildet werden, damit sie nachts von Ives, Messiaen, Nono, Bartók und Kagel träumen, zu Hause Feldman hören, Ferneyhough üben, auf das Klavier eine Büste von Lachenmann stellen, Pilzesuchen mit Cageperformances verbinden und morgens unter der Dusche Vierteltonleitern singen.
Es gibt Zentren, Cluster für die Alte Musik, ja sogar eine ganze Hochschule (Schola Cantorum Basiliensis). Was wäre es – ein Zentrum für Musik der Moderne, der nachtonalen Zeit, mit sagen wir: 25 Stellen, künstlerischen, aufführungspraktischen, propädeutischen, wissenschaftlichen, mit einem Philosophen für Ästhetik und Interdisziplinarität; mit einem erklecklichen Budget? Natürlich als integrativer Teil einer Hochschule, nicht als Exklave. Diese Musik bleibt Teil einer Tradition, ohne die auch sie unverständlich bliebe und rasch dilettantisch würde. Es geht um nichts Geringeres als die Einheit der Musik als Kunstform in der gesamten Breite des Repertoires mit besonderer Berücksichtigung der Gegenwart und der Zukunft.
Informelle Öffnung zu allem anderen
Jede Musikhochschule sollte ein Institut für Gegenwartsmusik besitzen im doppelten Sinne: einerseits von strenger Autonomie des Komponierens sowohl wie des Aufführens der Musik der Moderne, andererseits – das ist entscheidend – einer informellen Öffnung zu allem anderen: den anderen Musikstilen, der Kunst der Gegenwart, den intellektuellen Diskursen und einer wachen, internationalisierten politischen Atmosphäre. Dort hätten auch Doppel- oder Mehrfachbegabungen eine Chance. Leute, die eine „Professur plus“ bekommen, mithin eine mit weiterer Qualifikation, zum Beispiel „Komposition und Musiktheorie mit Schwerpunkt Musik der Moderne“ oder „Musikästhetik und Kulturtheorie“ oder „Ensembleleitung und Instrumentenforschung“. Dort wäre Platz für die Ausnahmen, mithin solche, auf die es immer schon ankam. Die Einheit der Kunstform Musik ist ohne die Gegenwart, die Zukunftsfähigkeit und die profunde Kenntnis der letzten hundert Jahre nicht möglich.