Die berühmte Akkordeonistin Elsbeth Moser, Professorin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien setzte ihrem Instrument mit dem „Akkordeonfest Hannover“ ein Denkmal und zeigte gleichzeitig Perspektive auf. Vom 23. bis 27. November 2016 wurde an der Hochschule und in den großen Kulturinstitutionen Hannovers die weite Spannbreite der Akkordeonmusik aufgetan. Es wurde von Tango über Orchester bis Jazz und Neue Musik geboten, inklusive dreizehn Uraufführungen.
„Ich wollte etwas Bleibendes schaffen“, sagte Elsbeth Moser in ihrer Eröffnungsrede zum Akkordeonfest Hannover. Vier Jahre Vorbereitung waren dem vorangegangen und das merkte man in jedem Detail. Vom großen Gedanken und Motto „Wurzeln“, das über allem stand und immer wiederzufinden war, bis in jeden einzelnen Programmpunkt, war dieses Fest perfekt durchdacht.
Die Eröffnung fand im fast voll besetzten Großen Sendesaal des NDR Landesfunkhauses Niedersachsen mit der NDR Radiophilharmonie statt. Das Thema des Abends war „Tango“. Der Argentinier Astor Piazolla begründete in den 1960ern den Tango Nuevo, eine avantgardistische Weiterentwicklung des Tango Argentino. Sein Konzert für Bandoneon, Perkussion und Streichorchester „Aconcagua“ stand im Mittelpunkt der ersten Hälfte des Abends. Tango ist aber auch die Musik für kleine Ensembles. Und so traten in der zweiten Hälfte das Camorra Tango Ensemble und das Ensemble „Tango sin palabras“ auf. Gespielt wurde das musikalische Spektrum des Tangos. Umrahmt und durchzogen wurde das ganze Programm von kleinen Orchestereinlagen mit Enrique Ugarte an Akkordeon, auf dem Dirigentenpult und als Entertainer des Publikums. Es war ein gutgelaunter Auftakt, dessen Stimmung und Inspiration sich am zweiten Tag fortsetzte. Für „Neuland 1“ war Elsbeth Moser an die sechs Komponistinnen und Komponisten Ling Wang, Il-Ryun Chung, Randall Meyers, Márton Illés, Lera Auerbach und Anatolijus Šenderovas herangetreten. Der Kompositionsauftrag lautete natürlich „Wurzeln“. Im Ergebnis wurde nach den Ursprüngen des Akkordeons in der östlichen Welt gesucht, die eigenen biografischen Wurzeln in Musik hörbar gemacht und neue Wurzeln für die Zukunft des Akkordeons geschlagen. „Neuland 2“, am Tag darauf, war ähnlich konzipiert, doch in Gänze von Studierenden Mosers geplant und umgesetzt. Komponistinnen und Komponisten des Abends waren Nan Liang, Giorgos Koumendaki, Sarah Nemtsov, Giorgos Kyriakakis, Alexander Sedlar und Marcus Aydintan.
Und auch der nächste Tag hielt eine Uraufführung eines szenischen Konzerts parat: „Der ewige Atem – Ein musiktheatralisches Projekt für vier Akkordeongruppen, Senioren und Zuspielbänder“ von Harald Weiss. Aufgeführt wurde es im Sprengel Museum. Die vierte Wand war an diesem Abend eine gläserne Außenwand des Museums. Die Senioren-Schauspieler/-innen standen draußen, das Publikum saß drinnen. Die Akkordeonensembles, bestehend aus jugendlichen Laienmusiker/-innen, saß eine Ebene höher über den Köpfen des Publikums. Man sah gespenstisch anmutende Szenen. Verzerrte Gesichter, die der Scheibe mal näher und ferner kamen. Sirenengeheul. Immer wieder auch Ruhe. Die Musik war bedrückend, ununterbrochen und unerbittlich. Spätestens mit „Der ewige Atem“ war auch die Vielfalt in Format, Raum und Ausführung zur Vollkommenheit gebracht. Ausklang fand der Abend im Konzert mit dem Jazz-Musiker Richard Galliano und seinem New Musette Quartet im Pavillon Hannover.
„Es gibt Komponisten, die ihre Werke sehr bewusst ‚bauen‘, ich zähle mich dagegen zu denen, die ihre Werke eher ‚züchten‘. Und darum bildet die gesamte von mir aufgenommene Welt gleichsam die Wurzeln eines Baumes und das daraus gewachsene Werk seine Zweige und Blätter. Man kann sie zwar als neu bezeichnen, aber es sind eben dennoch Blätter, und unter diesem Gesichtspunkt sind sie immer traditionell, alt.“
Diese Sätze stammen von Sofia Gubaidulina, deren Werk den zweiten roten Faden des Festes bildete. Ihr, die schon seit Jahrzehnten für die osteuropäische Version des Knopfakkordeons – den Bajan – komponiert, war auch der Höhepunkt des Festes zugedacht: die Uraufführung eines neuen Werkes im Abschlusskonzert. Nur leider konnte die bereits 85-jährige Gubaidulina aus gesundheitlichen Gründen das Werk nicht fertigstellen. Die Uraufführung ist nun für die nächste Spielzeit angesetzt. Stattdessen wurde Gubaidulinas „Siebe Worte“ (1982) von Elsbeth Moser, Akkordeon, Nicolas Altstaedt, Cello, und der NDR Radiophilharmonie aufgeführt. Dass Moser sich erst richtig wohl auf einer Bühne mit ihrem Akkordeon in der Hand fühlt, durfte man immer wieder in diesen Tagen bewundern. Doch an diesem Abend bewies sie ihr Können sondergleichen. Danach kam es zum einzigen Ärgernis: Als allerletztes Stück stand Beethovens siebte Sinfonie auf dem Programm. Die Erklärung der Veranstaltenden, diese verhalte sich als ein Gegengewicht zu Gubaidulina und passe wunderbar, überzeugt auch nach Abwägung sämtlicher musikalischer, kommerzieller und organisatorischer Argumente nicht. Dieses Stück wirkte beliebig und deplatziert.
Der Titel ‚Fest‘ statt ‚Festival‘, wie wohl die meisten Veranstaltungen ähnlicher Art heißen, versprach nicht zu viel. Dass unter der stets voll von Energie und Freude strahlenden Elsbeth Moser ein so vielfältiges Programm von hoher musikalischer Qualität entstanden ist, ist nicht verwunderlich, doch nicht weniger bewundernswert. Das Akkordeonfest Hannover war trotz Schwäche auf der Zielgerade ein wahres Fest, das dem Akkordeon sicherlich und hoffentlich lange nachwirken wird.