Wer zu Beginn des dritten Jahrtausends die Absicht hat, ein Musikstudium aufzunehmen, ist entweder besessen oder naiv. Denn nichts ist mehr so wie früher, auch das Musikstudium nicht. Die Welt hat sich in den letzten Jahren rasant verändert, das Musikleben in Deutschland ist ungemütlich, ja geradezu stürmisch geworden und die Zukunftsperspektiven mit Blick auf den Arbeitsmarkt „Musik“ sind alles andere als überschaubar. Nur eines hat sich nicht verändert: Wer vom Honig der Musikbesessenheit geleckt hat, der wird auch eines Tages in genau diesem Metier arbeiten, vorausgesetzt er hat zu Beginn seines Studiums das notwendige Maß an Naivität nicht verloren.
Die 23 deutschen Musikhochschulen sind ein eigenartiges Gebilde: viel zu kleine Einheiten, eine viel zu geringe Anzahl und im Vergleich zu großen Universitäten und Fachhochschulen zu exotisch, um im Reigen der mediensüchtigen Welt überhaupt eine Rolle zu spielen. Aber sie sind selbstbewusst, nicht zuletzt, weil sie von den deutschen Universitäten schon immer um zwei Dinge beneidet wurden, welche in der heutigen bildungspolitischen Diskussion eine wichtige und profilbildende Rolle spielen: der vielerorts zu beobachtende hohe Ausländeranteil (bei mancher Musikhochschule liegt er inzwischen bei etwa 40 Prozent) sowie das strenge Auswahlverfahren in Form von Eignungsprüfungen, was zur Folge hat, dass sich die Hochschulen ihre Studenten aussuchen und nicht umgekehrt.
Dabei haben die Musikhochschulen selber in den vergangenen Jahren etliche Anstrengungen unternommen, ihr tradiertes Leitbild von eher konservativen Ausbildungsstätten hochbegabter Zöglinge zu ändern und den sich ändernden Berufsfeldern und Arbeitsbedingungen anzupassen. Spätestens Mitte der 90er-Jahre hat die Rektorenkonferenz der nach der deutschen Einheit auf 23 Ausbildungsstätten angewachsenen Musikhochschulen verstanden, dass Weichenstellungen in der Ausbildung eher nicht kurzatmig agierenden Kulturpolitikern überlassen, sondern besser aus der Mitte der Verantwortlichen heraus gesteuert werden sollten. Nach dem altersbedingten Ausscheiden vieler Rektoren jener Generation, die sich nach dem Krieg um den Aufbau, den Ausbau und den Fortbestand ihrer Hochschulen wesentliche Verdienste erworben hatten, ging es der zweiten Generation der Rektoren nunmehr darum, mit vorsichtigen Anpassungen und unter Wahrung des bekannt hohen Ausbildungsstandards dem Musikstudium in Deutschland eine klare, aktualisierte und zukunftsweisende Profilierung zu geben.
Ergebnis der über mehrere Jahre geführten Diskussionen war ein im Jahre 1999 vorgelegtes Thesenpapier, welches auch in der übrigen hochschulpolitischen Landschaft mit Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Alle Bemühungen und Profilierungsversuche der Musikhochschulen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Verlauf letzten Jahrzehnte der so genannten „Klassiksektor“ in der allgemeinen Konsumakzeptanz der Bevölkerung einen wohl einmaligen Niedergang hat hinnehmen müssen. Machen wir uns doch nichts vor: die für die Hinführung zur Musik so wichtigen Leitfiguren der heutigen Schülergeneration sind schon lange nicht mehr die Musiklehrer an den Schulen oder die Kantoren und Organisten an den Kirchen.
Längst ist dieses Feld von MTV-Moderatoren besetzt worden, welche die jeweils aktuellen Popsongs zielgerichtet vermarkten und den Zeitgeist verstärken, dass Komponenten wie Tonmischung und Beleuchtung, Choreographie und Kleidung, Kameraführung und Videoclips beim Vortrag eines Poptitels eine weitaus größere Rolle spielen als die Musik selber. Und wenn eine schillernde Figur wie Dieter Bohlen einmal wöchentlich vor einem Millionenpublikum vormachen darf und kann, wie so genannte „Stars“ aufgebaut oder vernichtet werden, dann dienen diese an mittelalterliche Schauprozesse erinnernden Fernsehsendungen letztlich nur ihm selber. Den Beweis liefern seine ebenso überflüssigen wie unerträglichen, in Buchform gepressten „Memoiren“, welche lediglich Zeugnisse seiner Ich-bezogenen Marketingstrategie sind. Dabei wird die Kurzlebigkeit von hochgepuschten „Stars“ und ihren Songs immer mehr zum menschlichen Problem. Wer nicht wenigstens einmal an einen Anfangserfolg anknüpfen kann, wird gnadenlos vom Markt gefegt und durch neue Könige der Szene ersetzt.
Dieser Effekt der Halbwertzeit führt denn auch dazu, dass seit Jahrzehnten eine Branche die GEMA-Hitlisten der am meisten gespielten und am häufigsten verkauften Titel anführt, welche bezeichnenderweise an den Musikhochschulen so gut wie keine – nein: keine! – Rolle spielt: Gemeint ist jene Volksmusikszene, die mit alpenländischem Touch seit geraumer Zeit beneidenswert erfolgreich agiert und vielleicht deshalb eine kontinuierlich hohe Akzeptanz hat, weil der Kern dieser Musik im Wesentlichen erkennbar bleibt (selbst wenn er sich auf drei Akkorde beschränkt), die Marketingstrategien eher unspektakulär sind und – vor allem – die vor sich hin alternde deutsche Bevölkerung in ihrer stetig anwachsenden Mehrheit bedient wird. Wie ist es anders zu verstehen, dass sich Lieder wie „Sierra madre sul mar“ oder „Der Anton aus Tirol“ seit Jahren hartnäckig an der Spitze aller verkauften Titel halten und dabei sogar Evergreens wie „Yesterday“ oder „Strangers in the night“ auf die Plätze verweisen?
In dieser realen Welt des Musikkonsums spielen Schlüsselwerke der Musikliteratur wie die Bach´schen Passionen, Mozarts Opern, Beethovens Sinfonien oder Schuberts Lieder eine immer geringere Rolle – allen Anstrengungen von Klassiksendungen im Fernsehen, diversen Festivals und Forderungen des Deutschen Musikrats wie auch des Bundespräsidenten nach mehr Musikunterricht zum Trotz.
Wie anders ist es zu verstehen, dass der Klassik-CD-Markt so gut wie zusammengebrochen ist? Dass das Durchschnittsalter von Konzert- und Theaterbesuchern bedenkliche Höhen angenommen hat?
Umso wichtiger erscheint mir aber, dass gerade deshalb die Aufnahme eines Musikstudiums im Sinne antizyklischer Spiralwirkungen durchaus sinnvoll sein kann. Es wäre nicht das erste Mal in der Kunst- und Konsumgeschichte, dass unter dem Aspekt dialektischer Selbststeuerung Inhalte und Geschmacksrichtungen völlig ins Gegenteil gekehrt werden können. Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass gregorianische Melodien „in“ sind und dass nach Kochrezepten einer Hildegard von Bingen gespeist wird? Wer kann ernsthaft ausschließen, dass Mozarts „Jupiter-Sinfonie“ eines Tages „Kult“ wird? Dass man Mendelssohns „Elias“ in Massenbesetzungen zelebriert?
Aspiranten auf ein Musikstudium sollten indes nur eines bedenken: Wer sich dagegen wehrt, das gesamte Spektrum der Musik zu akzeptieren, hat verloren. Man muss den „Anton aus Tirol“ ja nicht lieben und kann auch an Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit dem Schwefelholz“ hadern. Aber man muss sich eine militant-tolerante Offenheit erwerben, um in den sich ändernden Berufsfeldern – mit völlig anderen Arbeitsbedingungen als noch vor Jahrzehnten – bestehen zu können. Hilfreich hierbei ist vor allem das Erstreben von Mehrfachqualifikationen während des Studiums, zum Beispiel nach den Formeln „Orchestermusik plus Musikerziehung“ oder „Kirchenmusik plus Schulmusik“ oder „Hauptfach Geige plus Elementare Musikpädagogik“.
Die Musikhochschulen jedenfalls sind darauf eingerichtet, der Fantasie der Studenten in diesem Punkt entgegenzukommen.