Berlin - Ein wenig erinnert die handgroße Walze an das innere Stück Pappe einer Klopapier-Rolle. Albrecht Wiedmann spannt sie in einen Apparat mit einer Plattenspielernadel. In die Walze aus Wachs sind feine Rillen geritzt. Die Nadel setzt auf. Über die Lautsprecherboxen ist hinter kratzigem Rauschen leiernder Gesang zu hören. Die Aufnahme ist von 1907.
Ja, auf Wachs-Walzen kann man Musik aufzeichnen - und im Berliner Phonogramm-Archiv lagern noch heute 16 000 solcher Tondokumente. Das Archiv wurde 1900 gegründet. Seine Initiatoren Erich von Hornbostel und Carl Stumpf interessierten sich für die Musik verschiedener Regionen der Welt. Mit dem 1877 erfundenen Phonographen - der mit seinem Trichter an ein Grammophon erinnert - war es möglich, Sprache und Musik auf Walzen aufzunehmen und zu speichern.
«Diese Apparate stehen vollkommen auf der Höhe unserer Zeit, und ich möchte sie (...) jedem Reisenden auf das allerdringlichste empfehlen», schrieb Felix von Luschan vor mehr als hundert Jahren über den Phonographen. Der Arzt und Anthropologe nahm 1902 das Aufnahmegerät mit auf eine Forschungsreise in die Türkei - und nach ihm immer mehr auf Expeditionen nach Afrika oder Asien. Die Wachswalzen stellten sich die Musiksammler aber weniger ins Regal, noch dürften sie die Aufnahmen privat rauf und runter gehört haben.
Sie verfolgten ein analytisches Interesse hinter dem Sammeln dieser aus damaliger Sicht «exotischen» Musik, erklärt Tontechniker und Musikethnologe Wiedmann, der als Wissenschaftler am Phonogramm-Archiv arbeitet. Die Musik wurde erst mit dem Phonographen aufgezeichnet, dann notiert - und anschließend leiteten die Wissenschaftler aus den Melodien Tonsysteme ab. Das Ziel: Den Ursprung der Musik aufdecken.
Denn die Forscher nahmen an, dass die Erforschung «primitiver» Kulturen Rückschlüsse auf frühere Zustände der eigenen Kultur erlaube. Eine sehr Europa-zentrierte Sichtweise, von der man nach und nach abgerückt sei, sagt Wiedmann.
Die alten Aufnahmen sind heutzutage gleichzeitig Forschungsgegenstand von Musikethnologen und Zeugnisse einer vergangenen Zeit und Weltanschauung. Deshalb machen Wissenschaftler wie Wiedmann sie fit für die Zukunft: Sie fertigen digitale Kopien von ihnen an. Die Apparatur, mit der Wiedmann die Walze abspielt, ist nichts weiter als ein moderner Phonograph verbunden mit einem Computer, auf dem die Musik dann als Datei gesichert wird. Zusammen mit den unzähligen Dokumenten zu den einzelnen Sammlungen landen die Stücke dann in einer Datenbank.
Schon damals hatten sich die Forscher um die Konservierung von Walzen gekümmert und die Originale aus Wachs galvanisiert. «Am Ende dieses Prozesses sind Kupferhülsen übrig geblieben», sagt Wiedmann. Mit den Hülsen konnten Wachskopien angefertigt werden. Das hilft den Wissenschaftlern noch heute beim Herstellen von frischen Kopien aus Kunstwachs. Im Labor wird mit Kochplatte, Backofen und Kühlschrank die Digitalisierung der alten Tondokumente vorbereitet.
Die Walzen sind aber gar nicht das größte Problem von Wiedmann und seinen Kollegen. Im Phonogramm-Archiv lagern auch etliche alte Schallplatten, Tonbänder und Kassetten. Gerade die Magnetbänder seien weniger widerstandsfähig als die Walzen. Sie zu konservieren und zu restaurieren sei schwierig, sagt Wiedmann.
Gemeinsam haben die Tonträger alle, dass sie mit Aufkommen neuer technischer Möglichkeiten Konkurrenz bekamen - wenn nicht sogar verdrängt wurden. Auf die Walze folgte die Schellackplatte. Sie war ein Vorläufer der Vinyl-Platten, die haltbarer waren und weniger Platz brauchten. 20 Jahre nach der Erfindung der MP3 fragt man sich: Was kommt als nächstes?
Die historischen Stücke haben aber bereits den Sprung ins Digitale geschafft: Auf YouTube bekommt man auch ohne Phonographen eine Vorstellung davon, was 130 Jahre in der Musikgeschichte ausmachen. Wiedmann träumt indes davon, eine 120 Aufnahmen umfassende, historische Auswahl an Wachswalzen wieder neu aufzulegen und zu verkaufen - aber natürlich analog aus Wachs, nicht digital.