Im „Bad Blog Of Musick“ der neuen musikzeitung befasste sich der Komponist Alexander Strauch bereits mit dem Thema, dem er hier weiter auf den Grund geht:
Als Kompositionsstudent las ich 1992 unter §7 meiner Studienordnung: „Lösung einer Kompositionsaufgabe für Orchester. ( ) Das Werk soll nach Möglichkeit spätestens während des achten Semesters durch das Hochschulorchester öffentlich aufgeführt werden.“ Klartext: Die Auseinandersetzung mit dem Orchesterapparat war eine Säule der Ausbildung neben Kammermusik und Musiktheater. In der Regel erhielt auf diesem Wege fast jeder eine oder sogar mehrere Gelegenheiten seine eigenen Stücke durch das Hochschulorchester oder die Münchener Sinfoniker in Kooperation mit der Dirigierklasse proben und aufführen zu lassen.
Dies waren Stuenbedingungen, wie es sie 20 Jahre später an vielen Musikhochschulen immer noch nicht gibt. Wie ist die heutige Situation in München? „Sie sehen, dass ich mich nach wie vor für Uraufführungen von Kompositionsstudenten einsetze, auch wenn das nicht regelmäßig möglich ist“, sagt Ulrich Nicolai, der Chef des Hochschulorchesters. „Musik des 20. Jahrhunderts hat auf jeden Fall einen hohen Stellenwert. Ich versuche auch weiterhin, die zeitgenössischen Komponisten so gut wie möglich mit Aufführungsmöglichkeiten zu unterstützen.“ Es ist durch die Umstellung von Diplom auf Bachelor und Master wohl schwieriger geworden, den damaligen Standard aufrechtzuerhalten. In der Deutlichkeit findet man heute kein Äquivalent zum Paragraphen der alten Diplomordnung, muss man hier, wie an anderen Musikhochschulen, den Anspruch auf ein Orchesterstück für den einzelnen Studenten mühsam aus den Modulbüchern herausdestillieren, ist man stärker als früher dem Wohl und Wehe der Professoren unterworfen.
Ein extremes Beispiel dieses Ausgeliefertseins stellt die Musikhochschule in Weimar dar: „Das Hochschulorchester (HSO) spielt nicht in jedem Konzert Neue Musik, weil wir unsere Musiker bei den begrenzten Projekten des HSO mit möglichst vielen Werken und Epochen der Symphonik konfrontieren müssen“, so Nicolás Pasquet, Professor für Orchesterleitung. Er verweist auf die Kernkompetenz des Ensembles für Neue Musik seines Hauses. Pasquet weiter: „Bei den Programmen des HSO der letzten zwei Jahren ist keine Neue Musik erklungen.“ Dies bedeutet wohl, dass die Orchesterstudenten nicht einmal Werke gestandener Meister wie die des Weimarer Kompositionsprofessors Michael Obst kennenlernten. Dieser konkretisiert auf die Frage nach Aufführung von Werken seiner Klasse: „Sehr selten – von 2000 bis 2010 eine Komposition. Die Programmgestaltung ist weitgehend abhängig von den Lehrenden und ihrer pädagogischen Ausrichtung, die überwiegend in der Tradition verhaftet ist.“ Immerhin stellt Prof. Pasquet eine Ausnahme in Aussicht: „Das Hochschulsinfonieorchester spielt sehr wohl hin und wieder Werke von Studierenden unserer Kompositionsklassen. So wird beispielsweise im Mai 2013 die Uraufführung eines symphonischen Werkes eines Studenten stattfinden.“
Besser sieht es in Würzburg aus, wo zwar auch keine Werke von Kompositionsstudenten durch das Hochschulorchester aufgeführt werden. Dafür verweist das Orchesterbüro auf Koproduktionen mit dem Mainfrankentheater wie aktuell „Refidim Junction“ von Margret Wolf oder die geplante Aufführung von Anno Schreiers „Aus Giannozzos Seebuch“. Das Hochschulorchester selbst verliert zudem Neue Musik nicht vollkommen aus den Augen: In jüngster Zeit wagte es sich an Krzysztof Pendereckis „Seven Gates of Jerusalem“ und die Uraufführung von Reinhard Febels „stelle“. Würzburg bildet so bewusster als Weimar seine Instrumentalstudierenden in Neuer Musik aus. Wie dort setzt man auf ein „Ensemble für Neue Musik“ für dessen Leitung momentan das Berufungsverfahren läuft.
In der Bundeshauptstadt spielte das Symphonieorchester der Universität der Künste (UdK) in den letzten Semestern Klassik, Romantik, Impressionismus und gemäßigte Moderne wie Lutoslawskis „Ouvertüre für Streicher“. Oder man begleitete Poulencs „Dialogues des Carmélites“. Gewichtigeres liegt weit zurück: 2008 spielte man Olivier Messiaen, Sofia Gubaidulina, Claude Vivier und Manfred Trojahn. Im Februar steht endlich eine Uraufführung von Liu Huan auf dem Programm. Gewagtere Werke Neuer Musik sucht man allerdings vergebens. Für die Kompositionsstudenten werden immerhin Sonderprojekte wie 2012 „A Game of Fives“ in Gemeinschaft mit der Münchener Biennale für zeitgenössisches Musiktheater initiiert. Insgesamt nicht viel für eine Kunstuni, an der mitunter einige der prominentesten Komponisten wirkten und wirken: Aribert Reimann, Luigi Nono, Friedrich Goldmann, Isang Yun, Walter Zimmermann … Man würde somit eine engere Verzahnung von Kompositions- und Orchesterausbildung erwarten.
Der Kompositionsstudent Malte Giesen der Hanns-Eisler-Musikhochschule beurteilt seine Lage so: „Ich weiß nur, dass es jährlich wohl eine Gelegenheit gibt, Orchesterstücke zumindest zu proben. Und zwar nicht nur für die Kompositionsstudenten, sondern auch für die Theoriestudenten mit ihren Instrumentationsarbeiten. Das Dirigat übernimmt hier Manuel Nawri, der ja mit Neuer Musik einige Erfahrung hat.“ Malte Giesen weiter: „Für viele ist das Orchester wohl nicht die attraktivste Variante – viel Arbeit, schwerfälliger Apparat, leider immer noch ein Kampf in den Proben. Kein Vergleich zur Ensemblearbeit im Bereich Neue Musik.“ So verwundert es nicht, dass er Orchesterarbeit keine höchste Priorität beimisst. Im Klartext bedeutet dies, man vermisst nicht, was man noch nicht kennen gelernt hat. Seine Zeit als Student in Stuttgart, als Haus der Lachenmann-Tradition genauso renommiert wie die beiden Berliner Musikinstitute, schildert Malte Giesen krasser: „Dort jedenfalls war die Situation ziemlich katastrophal. Das letzte Konzert, in dem ein Orchesterstück eines Studenten aufgeführt wurde, ist zehn Jahre her.“ Giesens in Stuttgart gerade studierender Kommilitone Thomas N. Krüger sieht es entspannter und beschreibt eine mögliche Verbesserung: „In Stuttgart gibt es im 2013/14 eine Kooperation des Studios Neue Musik mit dem Hochschulorchester. Es werden von einer hochschulinternen Jury Werke der Kompositionsstudenten ausgewählt, die dann vom Orchester auch im Konzert gespielt werden.“
Sieht man „Neue Musik“ in der Weiterentwicklung Schönbergs bis zum heutigen Tage, ist der Gesamteindruck bedenklich, aber nicht aussichtslos. Saarbrücken meldet: „Das Hochschulorchester spielte in den letzten 10 Jahren nur dreimal Neue Musik. Der derzeitige Professor für Dirigieren optimiert das Hochschulorchester in Richtung Probespielrepertoire.“ Neue Musik findet für studierende Interpreten und Komponisten am Institut für Neue Musik statt. Ähnlich positioniert sich Mannheim mit dem Ensemble Incontro und dem Forum Neue Musik. Hier gab es im Sommer eine Musiktheaterproduktion der Kompositionsklasse Sidney Corbett. In Frankfurt liegt der Schwerpunkt beim Institut für zeitgenössische Musik, das Hochschulorchester hatte Alban Bergs Violinkonzert und Werke von Penderecki auf dem Programm. In Hamburg verabschiedete man Peter Michael Hamel mit einem seiner Orchesterstücke in den Ruhestand und pflegt dort Neue Musik vor allem in speziellen Projekten sowie als Musiktheater. In Karlsruhe, der Hochburg Wolfgang Rihms, werden Werke aus dessen Klasse kammermusikalisch aufgeführt. Rihm selbst und wieder Berg stehen im Fokus einzelner Konzerte des Orchesters. Was hier fehlt, sind spieltechnische Standardwerke zum Beispiel von Helmut Lachenmann, Iannis Xenakis oder Pierre Boulez.
Dass es auch anders geht, beschreibt der in Köln studierende Ole Hübner: „Meine Musikhochschule ist prinzipiell sehr engagiert, ihren Instrumentalstudenten Neue Musik nahe zu bringen. Herausragend sind dabei die vielen Kammermusikensembles, wie das Ensemble ‚20/21‘ und das von Studenten gegründete und mittlerweile auf zahlreichen Festivals konzertierende ‚ensemble hand werk‘. Zuletzt hat das Hochschulorchester drei Werke von Kompositionsstudenten uraufgeführt. Die Oper „sweetieorpheus_27“ Ole Hübners wird 2013 durch das Orchester des Standorts Aachen gespielt. Der Wettbewerb „Orchesterwerkstatt“ ist bundesweit für Studenten ausgeschrieben und ermöglicht Leseproben wie Konzerte mit professionellen Orchestern. Die Musikhochschule Leipzig sieht Neue Musik als Pflicht für ihre Studierenden vor und programmiert immer wieder Musik der Kompositionsklassen. In Dresden werden nahezu jährlich Werke der Kompositionsklassen mit dem Orchester aufgeführt. Der Leiter Ekkehard Klemm legte sich dort so ins Zeug, dass dieses selbstverständlich auch Werke von György Ligeti, Hans Zender, Isabel Mundry, Jörg Widmann, Enno Poppe, Bernhard Lang, Helmut Lachenmann und Beat Furrer pflegte.
Weitere Glanzlichter unter den Musikhochschulen sind die Robert-Schumann-Musikhochschule (RSH) Düsseldorf und die Folkwang Universität in Essen. Einmal im Jahr zumindest spielt das RSH-Orchester in der „Langen Nacht der Neuen Musik“ auch Werke seiner Kompositionsklassen. Auf die Frage, ob Neue Musik sonst ins Programm des Orchesters gehört, wird kurz und knapp gesagt: „Unbedingt Ja!“ Zudem setzt Rüdiger Bohn nicht nur Rihm und Co. auf den Spielplan, sondern kombiniert wie selbstverständlich schwere Werke (Iannis Xenakis‘ „Phlegra“ und Helmut Lachenmanns „Mouvement“), so wie andere vor Bruckner und Mahler nicht zurückschrecken. Die Essener Folkwang Universität folgt auf Augenhöhe, fördert genauso ihre Kompositionsklassen und lässt das Orchester Unsuk Chin, Bernd A. Zimmermann und Luigi Nono aufführen. Diese hervorragenden Beispiele zeigen, wie nötig es ist, Neue Musik kontinuierlich zu pflegen. Denn wo sonst als an Musikhochschulen treffen sich Instrumentalisten und lebende Komponisten so geballt und doch entspannter als im Berufsleben?
Letztlich verschenken die Musikhochschulen die Chance, nachhaltig das Musikleben umzugestalten, importiert man ein Denken, das letztlich nur Mainstream generiert. Zuletzt nochmals Ole Hübner: „Schwierigkeiten und Widerstände, die nun einmal oft in der Zusammenarbeit mit anderen Studenten deutlich werden, lassen beide Seiten menschlich und künstlerisch aneinander wachsen.“ Fazit: Wo die Lust und der Einsatz für die Neue Musik brennt, überträgt sich dieses Feuer auch auf die Studenten!