„Könnten Sie mir eben schnell sagen, wie man mit Grundschulkindern singt?” Anfragen dieser Art erreichten Heike Arnold-Joppich, Professorin für Elementare Musikpädagogik an der Hochschule Detmold, des öfteren. Meist waren es ehemalige Studenten, oft ausgebildete Sänger, die Nachholbedarf im Umgang mit der Kinderstimme hatten. Jahrzehntelang hat das Singen in Deutschland kaum eine Rolle gespielt, doch inzwischen ist man sich der sozialen, kulturellen und humanen Bedeutung des Singens wieder bewusst.
So ist in den letzten zehn Jahren auch eine Reihe von Initiativen und Projekten zur Förderung des Singens mit Kindern entstanden. Aber wer ist heute in der Lage, mit Kindern „richtig“ zu singen? „Hauptsache, es wird gesungen“ ist nicht nur aus musikpädagogischer Sicht unzureichend. „Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei. Zu fragen ist, was gesungen wird, wie und in welchem Ambiente.” Theodor W. Adorno reagierte mit dieser Aussage 1956 auf das nahtlose Anknüpfen an die Singtradition der Hitler-Jugend, das er als unzureichende Bewältigung der NS-Zeit kritisierte. Doch seine Aussage wurde oft nur auf den ersten Satz reduziert und hat so eine ganze Gesellschaft in ihrem Sing-Verhalten negativ geprägt. Die Eltern- und Lehrergeneration, die in den 1970er- und 1980er-Jahren aufgewachsen ist, kam mit aktivem Singen selbst kaum in Berührung. Aber allein durch das Wissen um den Wert des Singens sind die Defizite der jahrelangen Geringschätzung noch nicht aufgehoben. Und auch für eine Opernkarriere ausbildete Sänger können diesen Spagat nicht bewerkstelligen.
„Singen lernen im Kindesalter ist eine der pädagogischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts,” heißt es in der Studienbeschreibung des Bachelors Vokalpädagogik am Hochschulinstitut für Musik der Fachhochschule Osnabrück. Fachkräfte an Kindergärten und allgemein bildenden Schulen bedürfen im Umgang mit der Kinder- und Jugendstimme einer Nachschulung, qualifizierte Leiter für singende Kindergruppen sind sehr gefragt und ebenso scheint der Bedarf an professioneller Stimmbildung und Leitung in Laienchören zu wachsen. So reagieren Hochschulen mit pädagogischen Zusatzangeboten und neu konzipierten eigenständigen Studiengängen. Die erste Professur dafür bekam Werner Schepp an der Folkwang Hochschule Essen. Der Kirchenmusiker hat sein Konzertexamen an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf im Fach Orgel abgeschlossen. „Der zu erwartende Praxisschock wurde im Bereich Singen mit Kindern und Jugendlichen besonders deutlich: dieses Fach war kein Bestandteil der damaligen Ausbildung. Also galt es, das aufzuholen. Und sehr schnell wurde die Kinderchorarbeit ein wesentlicher Bereich meiner Tätigkeit als Kirchenmusiker,” erinnert sich Schepp. An der Folkwang Universität ist das Fach Kinderchorleitung seit 1999 Bestandteil des Kirchenmusik-Studiums, etwas später wurde es auch für die Lehramtsstudiengänge Musik aufgenommen. „Die Erkenntnis der Bedeutung des Singens mit Kindern für deren persönliche Entwicklung bzw. Persönlichkeitsentwicklung einerseits und das neu geschaffene öffentliche Interesse andererseits sowie die sich ständig wandelnden Berufsbilder erforderten eine für dieses Fach spezifische fundierte Ausbildung,” erläutert Schepp. Zum Wintersemester startet in Essen der neue Master-Studiengang ‚Leitung vokaler Ensembles’, der sich vor allem an Absolventen der Studiengänge Kirchenmusik, Lehramt Musik, Diplom-Musikpädagogik, Dirigieren und Gesang richtet.
An der Hochschule für Musik Detmold wurde der Master ‚Singen mit Kindern’ vor eineinhalb Jahren eingeführt, die erste Absolventin hat direkt und noch vor Abschluss ihrer Masterarbeit eine Stelle als Kirchenmusikerin angetreten. „So soll es ja eigentlich auch sein,” meint Heike Arnold-Joppich, die den Studiengang leitet. Für das Projekt „SMS – Singen macht Sinn”, das das Singen von Grundschulkindern der Region Ostwestfalen-Lippe fördern möchte, suchte sie nach geeigneten Lehrern; die Einführung des Masters schien eine logische Konsequenz als Glied zwischen der EMP und der Kinderchorleitung. Mit ihrem Lehr-Ansatz will die Professorin unter anderem zeigen, wie Kinder überhaupt zu einem Chor werden, wie man als Leiter agieren kann außer sich ans Klavier zu setzen und wie man mit Grundschülern zweistimmig singt.
Mit „Kinder- und Jugendchorleitung“ bietet die Hochschule für Musik und Theater Hannover einen weiteren Master-Studiengang, als postgraduales Diplom-Studium führt die Hochschule für evangelische Kirchenmusik in Bayreuth die Studienrichtung Musikalische Früherziehung/Musikalische Grundausbildung/Kinderchorleitung. Auch die Hochschule für Musik und Tanz Köln hatte einen Master „Kinderchorleitung“ beschlossen. „Leider existiert dieser Studiengang momentan nur auf dem Papier, da er aus Kapazitätsgründen im Bereich des Lehrpersonals nicht angemessen versorgt werden kann – wir sind aber zuversichtlich, dieses kurzfristig aufgetretene Problem bald lösen zu können,” so Robert Göstl, Professor an der Kölner Hochschule und künstlerischer Leiter des Deutschen Jugendkammerchors. „Es herrscht ein immens großer Bedarf an Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten, der derzeit nur unbefriedigend gedeckt werden kann. Unsere Strategie ist es, das Singen mit Kindern und die Kinderchorleitung vor allem in der Breite und deshalb in den Lehramtsstudiengängen sowie bei den Kirchenmusikern fest zu etablieren und in Richtung Praxisrelevanz auszubauen. Dies wird für dieses wichtige Feld wesentlich wirksamere Impulse u
u setzen als wenige hoch- bis überqualifizierte Spezialisten.”
Die Einführung und Verankerung des Fachs innerhalb der bestehenden Studiengänge Kirchenmusik, EMP und Lehramt Musik findet bundesweit statt, eine fachliche Vertiefung bieten die eigenständigen Studiengänge. Sie beinhalten Module wie Präsentation und Management, Theaterpädagogik, Rhythmik und Entwicklungspsychologie neben Kinderstimmphysiologie, Didaktik der Kinderstimmbildung, altersspezifische Literaturauswahl, Liedarrangement, Solmisation und Sprecherziehung. Auch Vokalensemblepraxis, Hospitationen und Praktika sind wichtig. „Neben der Schulung der eigenen Stimme gehört dazu auch das Hören, daher ist die Hospitation im Gesangsunterricht ebenfalls ein wichtiges Fach: Wie singen andere, was bemerkt der Lehrer dazu, welche Hilfestellungen gibt er, was verändert das“, erklärt Schepp. Alle Hochschulen streben in diesem Studium eine enge Verzahnung von Praxis und Theorie an, wozu häufig Kooperationspartner vom Kindergarten über Grundschule bis zu Chorklassen zur Verfügung stehen. Die Dauer der aufbauenden Studiengänge beträgt zwei Semester Vollzeit oder vier Semester berufsbegleitend, Voraussetzung ist ein abgeschlossenes grundständiges Studium und das Bestehen der Aufnahmeprüfung.
Auch ohne vorangegangenes Musikstudium ist in diesem Bereich eine Ausbildung möglich: Die FH Osnabrück bietet Vokalpädagogik als grundständiges Bachelorstudium.
Christine Karolius studiert im vierten Semester und belegt alle drei möglichen Hauptfächer: Chorleitung, Gesang und Singen mit Kindern. Die Bibliothekarin, die als Quereinsteigerin über ihre private Musik- und Gesangausbildung zum Vokalpädagogik-Studium gekommen ist, lacht: „Ja, das ist schon etwas viel.” Chorleitung, Gesang und Singen mit Kindern sind die Säulen dieses Studienprofils. Im ersten Jahr werden alle drei Fächer gleichberechtigt studiert und sollen eine solide Grundlage bilden. Danach wählen die Studierenden üblicherweise eines der Fächer als Hauptfach und ein weiteres als Ergänzungsfach. „Ich finde sie alle toll und will es einfach mit drei Hauptfächern versuchen,” meint die angehende Vokalpädagogin, die sich auch beruflich eine Kombination wünscht: „Ich kann mir eine Mischung aus Musikschule, allgemein bildender Schule, Chorarbeit und Gesangunterricht vorstellen. Und wenn es machbar ist, würde ich gerne Musikerziehung und Leseförderung in irgendeiner Form kombinieren – sozusagen an meinen alten Beruf anknüpfen.” Einblick in die Arbeit mit Grundschülern bekommen die Studenten durch das Forschungsprojekt „Vokales Klassenmusizieren“, das die FH Osnabrück in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Schüren-Schule eingerichtet hat und das untersucht, wie in normalen Schulklassen durch konsequent auf das Singen ausgerichteten Unterricht zur Musik hingeführt werden kann.
„Der Unterricht findet im Musik- und Bewegungsraum statt, ohne Schulbänke,” erklärt die Dozentin Barbara Völkel, die ihr Vokalpädagogik-Diplom – noch nach der alten Studienordnung – mit Zusatzfach Kinderstimmbildung vor einem Jahr in Osnabrück abgeschlossen hat. „Es gibt möglichst viel Freifläche für Bewegung. Die Kinder sitzen auf Sportbänken, Hockern oder auf dem Boden. Es wird wenig gesprochen und soviel wie möglich gesungen,“ so Völkel. „Für viele ist es erst mal ganz ungewohnt, in der höheren Kinderstimmlage zu singen, da sie vor allem durch die Rock-Pop-geprägte Musikkultur ganz anders sozialisiert sind. Und es ist einfach der Hammer, nach ein paar Stunden das Leuchten in den Kinderaugen zu sehen, wenn sie auf einmal zu ihrer eigentlichen Stimme finden und das richtig schöne Singen anfangen,” berichtet Karolius. „Und dann sind es vor allem die Momente der Stille, die mich besonders faszinieren: wenn eine ganze Klasse, die sonst quirlig und zappelig ist, einem der Mitschüler beim Singen zuhört, oder mucksmäuschenstill um eine afrikanische Wassertrommel sitzt, während ein Kind leise Regentropfengeräusche trommelt.”
Einen weiteren grundständigen Studiengang, der sich dem Singen in der Musikpädagogik widmet, hat die Hochschule für Musik Trossingen eingerichtet: Der achtsemestrige Bachelor-Studiengang „Sing & Move“ soll zum kommenden Wintersemester anlaufen und will für Kinder- und Jugendchorarbeit mit einem speziell bewegungsorientierten Ansatz qualifizieren, Anmeldeschluss für die Aufnahmeprüfung ist der 15. Juni (siehe auch Seite IX).
An alle der Kinder- und Jugendstimme verpflichteten Personen – ob HNO-Ärzte, Logopäden, Chorleiter oder Stimmbildner – richten sich die Leipziger Symposien zur Kinder- und Jugendstimme, die das Universitätsklinikum Leipzig alle zwei Jahre in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Musik in der Jugend, der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig und dem Bundesverband Deutscher Gesangpädagogen veranstaltet.
„Singen ist das Fundament der Music in allen Dingen,” so Georg Friedrich Telemann. Endlich erfährt es auch einen gesellschaftlichen Wandel, und „was das Singen mit Kindern angeht, kann man fast von einem Boom sprechen”, meint Heike Arnold-Joppich, die an einer kleinen Grundschule auch eine Chorklasse als AG leitet. Auch könnte die Arbeit in und mit singenden Kindergruppen für Eltern und Musikschulen in Zeiten verkürzter finanzieller Mittel entgegenkommend sein. Kinderchöre bieten eine tolle Möglichkeit, musikalisch aktiv zu werden, eine Art Grundausbildung zu erfahren oder sich zu orientieren. Doch, so Werner Schepp: „Ich denke, verstärkte Kinderchorarbeit ist keine Folge von Kürzungen in der Kulturpolitik, sondern die Konsequenz aus einem veränderten Bewusstsein für die Bedeutung des Singens mit Kindern. Erfreulich ist doch, dass nun nach jahrzehntelangen Defiziten in diesem Bereich endlich nicht nur ein Umdenken stattfindet, sondern daraus wiederum praktische Konsequenzen gezogen werden. Nach Generationen nicht singender Eltern dürfen wir auf kommende Generationen musikalisch und stimmlich sensibilisierter Menschen hoffen. Wenn man bedenkt, dass die Stimme unser ureigenstes Instrument ist, das Instrument, mit dem wir alle uns ausdrücken können, dann wird hier die ‚Ursensibilisierung’ gelegt – man mag sich kaum vorstellen, mit welchen positiven Auswirkungen auf Kultur und Gesellschaft.”
Weitere Informationen und Ausbildungsmöglichkeiten:
• Hochschule für Musik Detmold: Master Singen mit Kindern
• Folkwang Universität Essen: Master Leitung vokaler Ensembles (Start WS 10/11), mit der Studienrichtung ‘Singen mit Kindern und Jugendlichen’ oder der Studienrichtung ‘Kirchenmusik vokaler Schwerpunkt’
• Hochschule für Musik und Theater Hannover: Master Kinder- und Jugendchorleitung
• HfK Bayreuth: Diplom-Aufbaustudium Musikalische Früherziehung/Kinderchorleitung
• Fachhochschule Osnabrück: Bachelor Vokalpädagogik, Master Singen mit Kindern und Jugendlichen wird angestrebt
• Hochschule für Musik Trossingen: grundständiger Master/achtsemestriger Bachelor Sing & Move, (Start WS 10/11, Anmeldeschluss 15.06.)
• Bundesakademie: berufsbegleitende Lehrgänge
• Landesmusikakademie Berlin: berufsbegleitender Lehrgang Singen mit Kindern
• Bayerische Musikakademie Marktoberdorf
• Leipziger Symposien zur Kinder- und Jugendstimme